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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Zum siebzigsten Geburtstag Friedrich Chrysanders

von Hannover das Unternehmen Chrysanders: er sah in Händel den Kapell¬
meister "seines Hauses." Die deutschen Musiker aber verhielten sich ziemlich
gleichgiltig. In den Briefen, die Moritz Hauptmann an Hauser gerichtet hat,*)
kann man es an mehreren Stellen lesen, daß sie eine Gesamtausgabe der Werke
Handels für sehr überflüssig ansahen. Und doch gehörte Hauptmann selbst
dem Direktorium der Händelgesellschaft an. Vielen, darunter Marx, war die
Person Chrysanders eine zu unbekannte Größe; andern wieder war er durch
seine Gelehrsamkeit verdächtig. Künstlerische Begabung und reiches Wissen
können sich unsre deutschen Musiker noch heute nicht gut zusammen denken.
Kommt einer auf diesem Doppclsattel einher, so darf ihm der erste beste Geißbub
Steine nachwerfen. Darin sind wir noch gegen das Ausland, namentlich gegen
Belgien zurück. Noch in den letztjährigen Bünden der Händelausgabe fehlen
auf den Subskriptionslisten so ziemlich alle die Musikeruamen, die man mit
Fug und Recht an dieser Stelle erwartet. Nebenbei ganz dieselbe Erscheinung
wie bei der Bachausgabe. Aber daß die Ausgabe da ist, merkt man mittler¬
weile doch an der deutschen Musik. Auf Chrysanders Arbeiten fußend haben
Robert Franz, I. Hellmesberger und viele andre Tonkünstler Bearbeitungen
Händelscher Werke herausgegeben; die Sänger bringen Arien, Geiger und
Cellisten Melodien aus Händelschen Opern, von deren Existenz vor dreißig
Jahren nur ganz wenige eine Ahnung hatten, unter die Leute. Wieviel aber
uoch zu thun bleibt, beweisen am einfachsten ein paar Zahlen. Achtundzwanzig
Oratorien hat Händel geschrieben, sechs führen wir auf. Immer wieder die¬
selben, und das zu einer Zeit, wo die Neuproduktion auf dem Gebiete des
Oratoriums so kargen Ertrag liefert! Zwei Schwalben wie Tinels "Fran-
ziskus" und Hegars "Mancisse" machen noch lange keinen Sommer. Von
Handels Oratorienarbeit liegt also der größte Teil vollständig unbenutzt, von
seiner Orchesterkomposition fast alles. Und doch sind seine Lonosrti, g-roWi
Kunstwerke, denen von ihrer Art und Wirkung durch eine Beethovensche Sin¬
fonie nichts genommen werden kann.

Es giebt freilich für die Vernachlässigung dieser Händelschen und ähnlicher
alter Musik einen stark mildernden Umstand. Unsre heutigen Chöre, unsre
Orchester sind ganz anders besetzt als die des achtzehnten Jahrhunderts. Bei
uns singen den Alt Frauen, damals sangen ihn Männer. In einem modernen
Orchester finden wir zwei Oboen, jene Zeit verlangte sie in ziemlich gleicher
Stärke wie die ersten Violinen. Händel hat für einzelne Aufführungen des
Messias nachweislich achtundzwanzig Oboen gehabt. Einzelne Instrumente des
achtzehnten Jahrhunderts sind ganz außer Brauch gekommen; bei andern hat
sich die Technik wesentlich geändert. Es ist mit einem Worte in vielen Fällen
sehr schwer, heute vielstimmige Tonwerke des achtzehnten Jahrhunderts so auf-



") Leipzig, Breitkopf und Hiirtel, 1871.
Zum siebzigsten Geburtstag Friedrich Chrysanders

von Hannover das Unternehmen Chrysanders: er sah in Händel den Kapell¬
meister „seines Hauses." Die deutschen Musiker aber verhielten sich ziemlich
gleichgiltig. In den Briefen, die Moritz Hauptmann an Hauser gerichtet hat,*)
kann man es an mehreren Stellen lesen, daß sie eine Gesamtausgabe der Werke
Handels für sehr überflüssig ansahen. Und doch gehörte Hauptmann selbst
dem Direktorium der Händelgesellschaft an. Vielen, darunter Marx, war die
Person Chrysanders eine zu unbekannte Größe; andern wieder war er durch
seine Gelehrsamkeit verdächtig. Künstlerische Begabung und reiches Wissen
können sich unsre deutschen Musiker noch heute nicht gut zusammen denken.
Kommt einer auf diesem Doppclsattel einher, so darf ihm der erste beste Geißbub
Steine nachwerfen. Darin sind wir noch gegen das Ausland, namentlich gegen
Belgien zurück. Noch in den letztjährigen Bünden der Händelausgabe fehlen
auf den Subskriptionslisten so ziemlich alle die Musikeruamen, die man mit
Fug und Recht an dieser Stelle erwartet. Nebenbei ganz dieselbe Erscheinung
wie bei der Bachausgabe. Aber daß die Ausgabe da ist, merkt man mittler¬
weile doch an der deutschen Musik. Auf Chrysanders Arbeiten fußend haben
Robert Franz, I. Hellmesberger und viele andre Tonkünstler Bearbeitungen
Händelscher Werke herausgegeben; die Sänger bringen Arien, Geiger und
Cellisten Melodien aus Händelschen Opern, von deren Existenz vor dreißig
Jahren nur ganz wenige eine Ahnung hatten, unter die Leute. Wieviel aber
uoch zu thun bleibt, beweisen am einfachsten ein paar Zahlen. Achtundzwanzig
Oratorien hat Händel geschrieben, sechs führen wir auf. Immer wieder die¬
selben, und das zu einer Zeit, wo die Neuproduktion auf dem Gebiete des
Oratoriums so kargen Ertrag liefert! Zwei Schwalben wie Tinels „Fran-
ziskus" und Hegars „Mancisse" machen noch lange keinen Sommer. Von
Handels Oratorienarbeit liegt also der größte Teil vollständig unbenutzt, von
seiner Orchesterkomposition fast alles. Und doch sind seine Lonosrti, g-roWi
Kunstwerke, denen von ihrer Art und Wirkung durch eine Beethovensche Sin¬
fonie nichts genommen werden kann.

Es giebt freilich für die Vernachlässigung dieser Händelschen und ähnlicher
alter Musik einen stark mildernden Umstand. Unsre heutigen Chöre, unsre
Orchester sind ganz anders besetzt als die des achtzehnten Jahrhunderts. Bei
uns singen den Alt Frauen, damals sangen ihn Männer. In einem modernen
Orchester finden wir zwei Oboen, jene Zeit verlangte sie in ziemlich gleicher
Stärke wie die ersten Violinen. Händel hat für einzelne Aufführungen des
Messias nachweislich achtundzwanzig Oboen gehabt. Einzelne Instrumente des
achtzehnten Jahrhunderts sind ganz außer Brauch gekommen; bei andern hat
sich die Technik wesentlich geändert. Es ist mit einem Worte in vielen Fällen
sehr schwer, heute vielstimmige Tonwerke des achtzehnten Jahrhunderts so auf-



") Leipzig, Breitkopf und Hiirtel, 1871.
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[0082] Zum siebzigsten Geburtstag Friedrich Chrysanders von Hannover das Unternehmen Chrysanders: er sah in Händel den Kapell¬ meister „seines Hauses." Die deutschen Musiker aber verhielten sich ziemlich gleichgiltig. In den Briefen, die Moritz Hauptmann an Hauser gerichtet hat,*) kann man es an mehreren Stellen lesen, daß sie eine Gesamtausgabe der Werke Handels für sehr überflüssig ansahen. Und doch gehörte Hauptmann selbst dem Direktorium der Händelgesellschaft an. Vielen, darunter Marx, war die Person Chrysanders eine zu unbekannte Größe; andern wieder war er durch seine Gelehrsamkeit verdächtig. Künstlerische Begabung und reiches Wissen können sich unsre deutschen Musiker noch heute nicht gut zusammen denken. Kommt einer auf diesem Doppclsattel einher, so darf ihm der erste beste Geißbub Steine nachwerfen. Darin sind wir noch gegen das Ausland, namentlich gegen Belgien zurück. Noch in den letztjährigen Bünden der Händelausgabe fehlen auf den Subskriptionslisten so ziemlich alle die Musikeruamen, die man mit Fug und Recht an dieser Stelle erwartet. Nebenbei ganz dieselbe Erscheinung wie bei der Bachausgabe. Aber daß die Ausgabe da ist, merkt man mittler¬ weile doch an der deutschen Musik. Auf Chrysanders Arbeiten fußend haben Robert Franz, I. Hellmesberger und viele andre Tonkünstler Bearbeitungen Händelscher Werke herausgegeben; die Sänger bringen Arien, Geiger und Cellisten Melodien aus Händelschen Opern, von deren Existenz vor dreißig Jahren nur ganz wenige eine Ahnung hatten, unter die Leute. Wieviel aber uoch zu thun bleibt, beweisen am einfachsten ein paar Zahlen. Achtundzwanzig Oratorien hat Händel geschrieben, sechs führen wir auf. Immer wieder die¬ selben, und das zu einer Zeit, wo die Neuproduktion auf dem Gebiete des Oratoriums so kargen Ertrag liefert! Zwei Schwalben wie Tinels „Fran- ziskus" und Hegars „Mancisse" machen noch lange keinen Sommer. Von Handels Oratorienarbeit liegt also der größte Teil vollständig unbenutzt, von seiner Orchesterkomposition fast alles. Und doch sind seine Lonosrti, g-roWi Kunstwerke, denen von ihrer Art und Wirkung durch eine Beethovensche Sin¬ fonie nichts genommen werden kann. Es giebt freilich für die Vernachlässigung dieser Händelschen und ähnlicher alter Musik einen stark mildernden Umstand. Unsre heutigen Chöre, unsre Orchester sind ganz anders besetzt als die des achtzehnten Jahrhunderts. Bei uns singen den Alt Frauen, damals sangen ihn Männer. In einem modernen Orchester finden wir zwei Oboen, jene Zeit verlangte sie in ziemlich gleicher Stärke wie die ersten Violinen. Händel hat für einzelne Aufführungen des Messias nachweislich achtundzwanzig Oboen gehabt. Einzelne Instrumente des achtzehnten Jahrhunderts sind ganz außer Brauch gekommen; bei andern hat sich die Technik wesentlich geändert. Es ist mit einem Worte in vielen Fällen sehr schwer, heute vielstimmige Tonwerke des achtzehnten Jahrhunderts so auf- ") Leipzig, Breitkopf und Hiirtel, 1871.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/82>, abgerufen am 27.11.2024.