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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Zum siebzigsten Geburtstag Friedrich Lhryscmders

Künstler durchaus und schlechtweg nach dem Motto: "Er, der herrlichste von
allen," und dispensirt sich von einem genauern Studium seiner Vorgänger und
Mitarbeiter. Wer in der Lage ist, die hübsch geschriebnen Exkurse zu prüfen,
in denen Jahr über die Oper der Italiener im achtzehnten Jahrhundert oder
über die Sinfonie dieser Periode berichtet, der steht erstaunt vor einer un¬
geahnten Summe von Oberflächlichkeit, Unkenntnis und Ungerechtigkeit.

An diesen Teil seiner Biographie Händels ging nun Chrhsander mit einer
ganz andern Gründlichkeit. Je bedeutender sich die Umgebung Hündels zeigte,
desto lieber war es ihm. Auch den Kleinsten, die die Wege seines Meisters
kreuzen, wie dem Londoner Kapellmeister Pippo, spürt er mit der äußersten
Hingebung nach, und für die Bedeutenden, wie den Abbate Stesfani in Han¬
nover, fängt er förmlich Feuer. Auch der Leser brennt darauf, solche Ge¬
stalten genauer kennen zu lernen, bemüht sich, ihre Werke in die Hand zu
bekommen, wird zu eignen Studien angeregt und gedrängt. Daß dieses Ver¬
fahren Chrhsanders in der musikalischen Biographie fortan die Regel sein wird,
beweist schon Spittäh Biographie Bachs: sie hat ihre stärkste Seite in der
Schilderung der Vachschen Zeit und des Bachschen Kreises. Nur solchen
Nebenmännern Hündels steht Chrhsander mit manchmal zu weit gehender
Kühle gegenüber, die, wie Giovanni Bononcini, in ihrem menschlichen Charakter
Flecken zeigen.

Keine zweite Künstlerbiographie zieht nicht bloß die Kulturströmungen,
sondern auch die politischen Verhältnisse, innerhalb deren sich der Meister
bewegt, in solchem Grade in den Kreis der Untersuchung und Darstellung hinein,
wie die Chrhsandcrsche Biographie Händels. Die Litteraturgeschichte von
Gewinns hat hier sicher als Vorbild gewirkt. Die Methode war eben auch
innerlich durch Händels Stellung am englischen Hofe begründet, und sie hat
manche sonst unverständliche Wendung in den Schicksalen seiner Werke erklären
helfen.

Nur einen Hauptfehler hat diese Biographie. Sie ist, obwohl sie drei
Bände umfaßt, noch nicht fertig. Wer über die beiden letzten Jahrzehnte
Hündels ausführlicheres erfahren will, ist heute noch auf SchSicher und Rock¬
stroh angewiesen, die bei allem guten Willen höhern Ansprüchen nicht ge¬
nügen. Namentlich (der Engländer) Rockstroh ist doch nichts als ein mit
Mnsikantendünkcl gefüllter Negistratorkopf.

Wir hoffen alle, daß Chrysander die Schuld noch einlöst. Daß er das
Schuldverhältnis überhaupt eingegangen ist, kann ihm nicht zum Vorwurf,
sondern nur zum Ruhme gereichen. Ihm genügte es nicht, eine ausgezeichnete
Biographie Händels geschrieben zu haben, seinem geraden, klaren, ans echte und
solide Ergebnisse gerichteten Sinne widerstand es, zu Blinden von der Farbe zu
sprechen. Bald uach der Gründung der Bachgesellschaft trat eine Händelgesellschaft
mit dem Zwecke der kritischen Herausgabe sämtlicher Werke Händels ins Leben.


Zum siebzigsten Geburtstag Friedrich Lhryscmders

Künstler durchaus und schlechtweg nach dem Motto: „Er, der herrlichste von
allen," und dispensirt sich von einem genauern Studium seiner Vorgänger und
Mitarbeiter. Wer in der Lage ist, die hübsch geschriebnen Exkurse zu prüfen,
in denen Jahr über die Oper der Italiener im achtzehnten Jahrhundert oder
über die Sinfonie dieser Periode berichtet, der steht erstaunt vor einer un¬
geahnten Summe von Oberflächlichkeit, Unkenntnis und Ungerechtigkeit.

An diesen Teil seiner Biographie Händels ging nun Chrhsander mit einer
ganz andern Gründlichkeit. Je bedeutender sich die Umgebung Hündels zeigte,
desto lieber war es ihm. Auch den Kleinsten, die die Wege seines Meisters
kreuzen, wie dem Londoner Kapellmeister Pippo, spürt er mit der äußersten
Hingebung nach, und für die Bedeutenden, wie den Abbate Stesfani in Han¬
nover, fängt er förmlich Feuer. Auch der Leser brennt darauf, solche Ge¬
stalten genauer kennen zu lernen, bemüht sich, ihre Werke in die Hand zu
bekommen, wird zu eignen Studien angeregt und gedrängt. Daß dieses Ver¬
fahren Chrhsanders in der musikalischen Biographie fortan die Regel sein wird,
beweist schon Spittäh Biographie Bachs: sie hat ihre stärkste Seite in der
Schilderung der Vachschen Zeit und des Bachschen Kreises. Nur solchen
Nebenmännern Hündels steht Chrhsander mit manchmal zu weit gehender
Kühle gegenüber, die, wie Giovanni Bononcini, in ihrem menschlichen Charakter
Flecken zeigen.

Keine zweite Künstlerbiographie zieht nicht bloß die Kulturströmungen,
sondern auch die politischen Verhältnisse, innerhalb deren sich der Meister
bewegt, in solchem Grade in den Kreis der Untersuchung und Darstellung hinein,
wie die Chrhsandcrsche Biographie Händels. Die Litteraturgeschichte von
Gewinns hat hier sicher als Vorbild gewirkt. Die Methode war eben auch
innerlich durch Händels Stellung am englischen Hofe begründet, und sie hat
manche sonst unverständliche Wendung in den Schicksalen seiner Werke erklären
helfen.

Nur einen Hauptfehler hat diese Biographie. Sie ist, obwohl sie drei
Bände umfaßt, noch nicht fertig. Wer über die beiden letzten Jahrzehnte
Hündels ausführlicheres erfahren will, ist heute noch auf SchSicher und Rock¬
stroh angewiesen, die bei allem guten Willen höhern Ansprüchen nicht ge¬
nügen. Namentlich (der Engländer) Rockstroh ist doch nichts als ein mit
Mnsikantendünkcl gefüllter Negistratorkopf.

Wir hoffen alle, daß Chrysander die Schuld noch einlöst. Daß er das
Schuldverhältnis überhaupt eingegangen ist, kann ihm nicht zum Vorwurf,
sondern nur zum Ruhme gereichen. Ihm genügte es nicht, eine ausgezeichnete
Biographie Händels geschrieben zu haben, seinem geraden, klaren, ans echte und
solide Ergebnisse gerichteten Sinne widerstand es, zu Blinden von der Farbe zu
sprechen. Bald uach der Gründung der Bachgesellschaft trat eine Händelgesellschaft
mit dem Zwecke der kritischen Herausgabe sämtlicher Werke Händels ins Leben.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/80>, abgerufen am 01.09.2024.