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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Religion und verbrechen

und, indem sie nur das Wissen der Jugend zu bereichern suchen, nicht sehen,
wie ihrem Unterricht das beste, Leben und Wärme, abgeht. So kommt es,
daß das Kind aus der Bibel, aus dem Katechismus, aus der Glaubens- und
Sittenlehre, ans der Kirchengeschichte allerlei weiß. Aber es ist ein totes
Wissen, von dem Herz und Gemüt unberührt geblieben sind. Ja nicht genug:
bei dieser Art von Unterricht faßt das Kind leicht einen Widerwillen gegen
alles, was mit der Religion im Zusammenhang steht. Das Heiligste wird
ihm gleichgiltig. Bei allem Wissen, allem Gedächtnisstoff, die es in seinem
Kopf aufgehäuft hat, verroht es. Sehen wir nicht die Folgen dieser zu¬
nehmenden Gemütsverrohung in der unglaublichen Tierquälerei, die sich die
Jugend unsrer Tage zu schulden kommen läßt? Treten sie uns nicht ent¬
gegen in der Menge junger Verbrecher, die die Hand, die schonungslos das
Tier marterte, anch an den Menschen zu legen wagen? Das sind die
Wirkungen eines eingepaukten religiösen Memorirstoffs, bei dem das Gemüt
leer ausging. Kein Mitleid, kein Erbarmen, keine Scheu vor Mord und
Blutvergießen, mit einem Wort: Religion, und doch Verbrechen. Aber freilich --
was für eine Religion! Eine Religion, die nur im Kopfe, nicht im Herzen
sitzt und daher kaum uoch den Namen Religion verdient. Von welcher Seite
man das Verhältnis von Religion und Verbrechen betrachtet, immer kommt
man zu dem Ergebnis, daß nur eine unvollkommne Religiosität, wie sie häufig
die Frucht einer einseitigen Pflege der religiösen Anlage ist, die Möglichkeit
des Verbrechens in sich schließt. Wahre Religiosität und Verbrechen sind un-
versöhnliche Gegensätze.

Damit glaube ich die Einwände, die sich dem denkenden Leser Ihres
Aufsatzes aufdrängen, erschöpft zu haben. Nur eine Schlußbemerkung sei mir
noch gestattet. Wir leben in einer Zeit, wo die Bedeutung der Religion, ihr
Einfluß auf die Moral, das gesamte Leben des Volkes nur zu sehr unterschätzt
wird. Da halte ich, so fern Ihnen auch gewiß die Absicht gelegen hat, den Wert
der Religion herabzusetzen, einen Aufsatz wie den Ihrigen in einem vielgelesenen
Blatt und von einem Mann in Ihrer Stellung für nicht ganz ungefährlich,
weil er leicht mißverstanden werden und so an seinem Teil dazu beitrage"
kauu, die Achtung vor der Religion zu untergraben. Vielleicht, daß anch dieser
Umstand meine Entgegnung in Ihren Angen entschuldigt. In dieser Hoffnung
verbleibe ich Ihr ergebner


Georg Ulrici


Religion und verbrechen

und, indem sie nur das Wissen der Jugend zu bereichern suchen, nicht sehen,
wie ihrem Unterricht das beste, Leben und Wärme, abgeht. So kommt es,
daß das Kind aus der Bibel, aus dem Katechismus, aus der Glaubens- und
Sittenlehre, ans der Kirchengeschichte allerlei weiß. Aber es ist ein totes
Wissen, von dem Herz und Gemüt unberührt geblieben sind. Ja nicht genug:
bei dieser Art von Unterricht faßt das Kind leicht einen Widerwillen gegen
alles, was mit der Religion im Zusammenhang steht. Das Heiligste wird
ihm gleichgiltig. Bei allem Wissen, allem Gedächtnisstoff, die es in seinem
Kopf aufgehäuft hat, verroht es. Sehen wir nicht die Folgen dieser zu¬
nehmenden Gemütsverrohung in der unglaublichen Tierquälerei, die sich die
Jugend unsrer Tage zu schulden kommen läßt? Treten sie uns nicht ent¬
gegen in der Menge junger Verbrecher, die die Hand, die schonungslos das
Tier marterte, anch an den Menschen zu legen wagen? Das sind die
Wirkungen eines eingepaukten religiösen Memorirstoffs, bei dem das Gemüt
leer ausging. Kein Mitleid, kein Erbarmen, keine Scheu vor Mord und
Blutvergießen, mit einem Wort: Religion, und doch Verbrechen. Aber freilich —
was für eine Religion! Eine Religion, die nur im Kopfe, nicht im Herzen
sitzt und daher kaum uoch den Namen Religion verdient. Von welcher Seite
man das Verhältnis von Religion und Verbrechen betrachtet, immer kommt
man zu dem Ergebnis, daß nur eine unvollkommne Religiosität, wie sie häufig
die Frucht einer einseitigen Pflege der religiösen Anlage ist, die Möglichkeit
des Verbrechens in sich schließt. Wahre Religiosität und Verbrechen sind un-
versöhnliche Gegensätze.

Damit glaube ich die Einwände, die sich dem denkenden Leser Ihres
Aufsatzes aufdrängen, erschöpft zu haben. Nur eine Schlußbemerkung sei mir
noch gestattet. Wir leben in einer Zeit, wo die Bedeutung der Religion, ihr
Einfluß auf die Moral, das gesamte Leben des Volkes nur zu sehr unterschätzt
wird. Da halte ich, so fern Ihnen auch gewiß die Absicht gelegen hat, den Wert
der Religion herabzusetzen, einen Aufsatz wie den Ihrigen in einem vielgelesenen
Blatt und von einem Mann in Ihrer Stellung für nicht ganz ungefährlich,
weil er leicht mißverstanden werden und so an seinem Teil dazu beitrage»
kauu, die Achtung vor der Religion zu untergraben. Vielleicht, daß anch dieser
Umstand meine Entgegnung in Ihren Angen entschuldigt. In dieser Hoffnung
verbleibe ich Ihr ergebner


Georg Ulrici


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[0552] Religion und verbrechen und, indem sie nur das Wissen der Jugend zu bereichern suchen, nicht sehen, wie ihrem Unterricht das beste, Leben und Wärme, abgeht. So kommt es, daß das Kind aus der Bibel, aus dem Katechismus, aus der Glaubens- und Sittenlehre, ans der Kirchengeschichte allerlei weiß. Aber es ist ein totes Wissen, von dem Herz und Gemüt unberührt geblieben sind. Ja nicht genug: bei dieser Art von Unterricht faßt das Kind leicht einen Widerwillen gegen alles, was mit der Religion im Zusammenhang steht. Das Heiligste wird ihm gleichgiltig. Bei allem Wissen, allem Gedächtnisstoff, die es in seinem Kopf aufgehäuft hat, verroht es. Sehen wir nicht die Folgen dieser zu¬ nehmenden Gemütsverrohung in der unglaublichen Tierquälerei, die sich die Jugend unsrer Tage zu schulden kommen läßt? Treten sie uns nicht ent¬ gegen in der Menge junger Verbrecher, die die Hand, die schonungslos das Tier marterte, anch an den Menschen zu legen wagen? Das sind die Wirkungen eines eingepaukten religiösen Memorirstoffs, bei dem das Gemüt leer ausging. Kein Mitleid, kein Erbarmen, keine Scheu vor Mord und Blutvergießen, mit einem Wort: Religion, und doch Verbrechen. Aber freilich — was für eine Religion! Eine Religion, die nur im Kopfe, nicht im Herzen sitzt und daher kaum uoch den Namen Religion verdient. Von welcher Seite man das Verhältnis von Religion und Verbrechen betrachtet, immer kommt man zu dem Ergebnis, daß nur eine unvollkommne Religiosität, wie sie häufig die Frucht einer einseitigen Pflege der religiösen Anlage ist, die Möglichkeit des Verbrechens in sich schließt. Wahre Religiosität und Verbrechen sind un- versöhnliche Gegensätze. Damit glaube ich die Einwände, die sich dem denkenden Leser Ihres Aufsatzes aufdrängen, erschöpft zu haben. Nur eine Schlußbemerkung sei mir noch gestattet. Wir leben in einer Zeit, wo die Bedeutung der Religion, ihr Einfluß auf die Moral, das gesamte Leben des Volkes nur zu sehr unterschätzt wird. Da halte ich, so fern Ihnen auch gewiß die Absicht gelegen hat, den Wert der Religion herabzusetzen, einen Aufsatz wie den Ihrigen in einem vielgelesenen Blatt und von einem Mann in Ihrer Stellung für nicht ganz ungefährlich, weil er leicht mißverstanden werden und so an seinem Teil dazu beitrage» kauu, die Achtung vor der Religion zu untergraben. Vielleicht, daß anch dieser Umstand meine Entgegnung in Ihren Angen entschuldigt. In dieser Hoffnung verbleibe ich Ihr ergebner Georg Ulrici

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/552>, abgerufen am 01.09.2024.