Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Religion und verbrechen

hin, die das sittliche Zentralorgan in den Menschen gelegt hat? Kann es ein
Geschenk der geiht- und bewußtlosen Natur sein, da doch selbst das höchst-
orgnnisirtc Tier kein Gewissen hat? Oder kann es, obwohl es gewiß wie
alle Anlagen des Menschen erzogen sein will und wir je nach seiner Erziehung
von feinen und groben, engen und weiten Gewissen reden, anch anerzogen
werden, da doch kein Mensch ohne Gewissen ist und, jenen Fall angenommen,
eine große Anzahl von Menschen des Gewissens gänzlich entbehren würde?
Hat es sich etwa gar der Mensch selbst gegeben, während er es sich nicht
nehmen kann und schon mancher Verbrecher, von den Qualen eines geängsteten
Gewissens verfolgt, sich freiwillig dem irdischen Richter stellte? Ist es nicht
in der That, wie sich der Volksmund treffend ausdrückt, eine "Stimme
Gottes" im Menschen, die ihm sagt, was gut und böse ist, und ihn lobt
oder straft, je nachdem er recht oder unrecht gehandelt hat? Nun wohl, so
wird auch nur der, bei dem Gott noch den Mittelpunkt des Lebens bildet und
eine den ganzen Menschen beherrschende Macht ist, den Mahnungen des Ge¬
wissens Folge leiste". Wem Gott gleichgiltig ist, dem wird auch Gottes Stimme
gleichgiltig sein. Der gewissenlose Mensch ist dann fertig, der zwar auch ein
Gewissen hat, aber weil er keine Scheu vor Gott hat, die Forderungen des
Gewissens in den Wind schlägt. Mit andern Worten: Die Religion, und
nur sie, übt eiuen entscheidenden Einfluß auf den Gehorsam gegen das Ge¬
wissen aus, wie beide, Religion und Gewissen, Gemeingut des Menschen sind,
mithin auch nicht in Widerspruch geraten und derart auseinander fallen
können, daß bei erkalteter Religiosität Gewissenhaftigkeit, bei lebendiger Reli¬
giosität Gewissenlosigkeit möglich wäre. Man darf noch weiter gehen und
sagen, daß die Religion nicht nur auf den Gehorsam gegen das Gewissen,
sondern auf das Gewissen selbst, daS, wie bemerkt, erzogen sein will, von
Einfluß ist, das heißt unter ihrem stillen Walten das Gewissen geschärft
wird, was sür alle Moral nicht minder ins Gewicht fällt. Dieser erziehende
Einfluß der Religion auf das Gewissen selbst ist so groß, daß lebendige Reli¬
giosität und ein zartes Gewissen immer Hand in Hand zu gehen Pflegen.

Damit ist schon gesagt, daß die Religion auch das Verbrechen aus¬
schließt. Ist eine religiöse, seelsorgerische Einwirkung auf den, der sich bereits
dem Verbrechen ergeben hat, das Hauptmittel, ihn zu bessern, und beruht
darum der Streit unter den Rechtslehrern, welche Strafmittel die sicherste
Bürgschaft für eine sittliche Hebung des Verbrechers böten, gewöhnlich
auf einer Verkennung des wichtigsten und unerläßlichen Heilmittels, so ist auch
"ur die Religion imstande, das Verbrechen zu verhüten.

Bei der Herrschaft, die in unsern Tagen die Naturwissenschaften ausüben,
hat man zwar versucht, auch den Verbrecher sozusagen naturwissenschaft¬
lich zu erklären. Seine persönlichen, leiblichen und geistigen Anlagen
sollen ihn in Verbindung mit den Verhältnissen, unter denen er lebte, zu dem


Religion und verbrechen

hin, die das sittliche Zentralorgan in den Menschen gelegt hat? Kann es ein
Geschenk der geiht- und bewußtlosen Natur sein, da doch selbst das höchst-
orgnnisirtc Tier kein Gewissen hat? Oder kann es, obwohl es gewiß wie
alle Anlagen des Menschen erzogen sein will und wir je nach seiner Erziehung
von feinen und groben, engen und weiten Gewissen reden, anch anerzogen
werden, da doch kein Mensch ohne Gewissen ist und, jenen Fall angenommen,
eine große Anzahl von Menschen des Gewissens gänzlich entbehren würde?
Hat es sich etwa gar der Mensch selbst gegeben, während er es sich nicht
nehmen kann und schon mancher Verbrecher, von den Qualen eines geängsteten
Gewissens verfolgt, sich freiwillig dem irdischen Richter stellte? Ist es nicht
in der That, wie sich der Volksmund treffend ausdrückt, eine „Stimme
Gottes" im Menschen, die ihm sagt, was gut und böse ist, und ihn lobt
oder straft, je nachdem er recht oder unrecht gehandelt hat? Nun wohl, so
wird auch nur der, bei dem Gott noch den Mittelpunkt des Lebens bildet und
eine den ganzen Menschen beherrschende Macht ist, den Mahnungen des Ge¬
wissens Folge leiste». Wem Gott gleichgiltig ist, dem wird auch Gottes Stimme
gleichgiltig sein. Der gewissenlose Mensch ist dann fertig, der zwar auch ein
Gewissen hat, aber weil er keine Scheu vor Gott hat, die Forderungen des
Gewissens in den Wind schlägt. Mit andern Worten: Die Religion, und
nur sie, übt eiuen entscheidenden Einfluß auf den Gehorsam gegen das Ge¬
wissen aus, wie beide, Religion und Gewissen, Gemeingut des Menschen sind,
mithin auch nicht in Widerspruch geraten und derart auseinander fallen
können, daß bei erkalteter Religiosität Gewissenhaftigkeit, bei lebendiger Reli¬
giosität Gewissenlosigkeit möglich wäre. Man darf noch weiter gehen und
sagen, daß die Religion nicht nur auf den Gehorsam gegen das Gewissen,
sondern auf das Gewissen selbst, daS, wie bemerkt, erzogen sein will, von
Einfluß ist, das heißt unter ihrem stillen Walten das Gewissen geschärft
wird, was sür alle Moral nicht minder ins Gewicht fällt. Dieser erziehende
Einfluß der Religion auf das Gewissen selbst ist so groß, daß lebendige Reli¬
giosität und ein zartes Gewissen immer Hand in Hand zu gehen Pflegen.

Damit ist schon gesagt, daß die Religion auch das Verbrechen aus¬
schließt. Ist eine religiöse, seelsorgerische Einwirkung auf den, der sich bereits
dem Verbrechen ergeben hat, das Hauptmittel, ihn zu bessern, und beruht
darum der Streit unter den Rechtslehrern, welche Strafmittel die sicherste
Bürgschaft für eine sittliche Hebung des Verbrechers böten, gewöhnlich
auf einer Verkennung des wichtigsten und unerläßlichen Heilmittels, so ist auch
»ur die Religion imstande, das Verbrechen zu verhüten.

Bei der Herrschaft, die in unsern Tagen die Naturwissenschaften ausüben,
hat man zwar versucht, auch den Verbrecher sozusagen naturwissenschaft¬
lich zu erklären. Seine persönlichen, leiblichen und geistigen Anlagen
sollen ihn in Verbindung mit den Verhältnissen, unter denen er lebte, zu dem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0547" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223489"/>
          <fw type="header" place="top"> Religion und verbrechen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1535" prev="#ID_1534"> hin, die das sittliche Zentralorgan in den Menschen gelegt hat? Kann es ein<lb/>
Geschenk der geiht- und bewußtlosen Natur sein, da doch selbst das höchst-<lb/>
orgnnisirtc Tier kein Gewissen hat? Oder kann es, obwohl es gewiß wie<lb/>
alle Anlagen des Menschen erzogen sein will und wir je nach seiner Erziehung<lb/>
von feinen und groben, engen und weiten Gewissen reden, anch anerzogen<lb/>
werden, da doch kein Mensch ohne Gewissen ist und, jenen Fall angenommen,<lb/>
eine große Anzahl von Menschen des Gewissens gänzlich entbehren würde?<lb/>
Hat es sich etwa gar der Mensch selbst gegeben, während er es sich nicht<lb/>
nehmen kann und schon mancher Verbrecher, von den Qualen eines geängsteten<lb/>
Gewissens verfolgt, sich freiwillig dem irdischen Richter stellte? Ist es nicht<lb/>
in der That, wie sich der Volksmund treffend ausdrückt, eine &#x201E;Stimme<lb/>
Gottes" im Menschen, die ihm sagt, was gut und böse ist, und ihn lobt<lb/>
oder straft, je nachdem er recht oder unrecht gehandelt hat? Nun wohl, so<lb/>
wird auch nur der, bei dem Gott noch den Mittelpunkt des Lebens bildet und<lb/>
eine den ganzen Menschen beherrschende Macht ist, den Mahnungen des Ge¬<lb/>
wissens Folge leiste». Wem Gott gleichgiltig ist, dem wird auch Gottes Stimme<lb/>
gleichgiltig sein. Der gewissenlose Mensch ist dann fertig, der zwar auch ein<lb/>
Gewissen hat, aber weil er keine Scheu vor Gott hat, die Forderungen des<lb/>
Gewissens in den Wind schlägt. Mit andern Worten: Die Religion, und<lb/>
nur sie, übt eiuen entscheidenden Einfluß auf den Gehorsam gegen das Ge¬<lb/>
wissen aus, wie beide, Religion und Gewissen, Gemeingut des Menschen sind,<lb/>
mithin auch nicht in Widerspruch geraten und derart auseinander fallen<lb/>
können, daß bei erkalteter Religiosität Gewissenhaftigkeit, bei lebendiger Reli¬<lb/>
giosität Gewissenlosigkeit möglich wäre. Man darf noch weiter gehen und<lb/>
sagen, daß die Religion nicht nur auf den Gehorsam gegen das Gewissen,<lb/>
sondern auf das Gewissen selbst, daS, wie bemerkt, erzogen sein will, von<lb/>
Einfluß ist, das heißt unter ihrem stillen Walten das Gewissen geschärft<lb/>
wird, was sür alle Moral nicht minder ins Gewicht fällt. Dieser erziehende<lb/>
Einfluß der Religion auf das Gewissen selbst ist so groß, daß lebendige Reli¬<lb/>
giosität und ein zartes Gewissen immer Hand in Hand zu gehen Pflegen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1536"> Damit ist schon gesagt, daß die Religion auch das Verbrechen aus¬<lb/>
schließt. Ist eine religiöse, seelsorgerische Einwirkung auf den, der sich bereits<lb/>
dem Verbrechen ergeben hat, das Hauptmittel, ihn zu bessern, und beruht<lb/>
darum der Streit unter den Rechtslehrern, welche Strafmittel die sicherste<lb/>
Bürgschaft für eine sittliche Hebung des Verbrechers böten, gewöhnlich<lb/>
auf einer Verkennung des wichtigsten und unerläßlichen Heilmittels, so ist auch<lb/>
»ur die Religion imstande, das Verbrechen zu verhüten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1537" next="#ID_1538"> Bei der Herrschaft, die in unsern Tagen die Naturwissenschaften ausüben,<lb/>
hat man zwar versucht, auch den Verbrecher sozusagen naturwissenschaft¬<lb/>
lich zu erklären. Seine persönlichen, leiblichen und geistigen Anlagen<lb/>
sollen ihn in Verbindung mit den Verhältnissen, unter denen er lebte, zu dem</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0547] Religion und verbrechen hin, die das sittliche Zentralorgan in den Menschen gelegt hat? Kann es ein Geschenk der geiht- und bewußtlosen Natur sein, da doch selbst das höchst- orgnnisirtc Tier kein Gewissen hat? Oder kann es, obwohl es gewiß wie alle Anlagen des Menschen erzogen sein will und wir je nach seiner Erziehung von feinen und groben, engen und weiten Gewissen reden, anch anerzogen werden, da doch kein Mensch ohne Gewissen ist und, jenen Fall angenommen, eine große Anzahl von Menschen des Gewissens gänzlich entbehren würde? Hat es sich etwa gar der Mensch selbst gegeben, während er es sich nicht nehmen kann und schon mancher Verbrecher, von den Qualen eines geängsteten Gewissens verfolgt, sich freiwillig dem irdischen Richter stellte? Ist es nicht in der That, wie sich der Volksmund treffend ausdrückt, eine „Stimme Gottes" im Menschen, die ihm sagt, was gut und böse ist, und ihn lobt oder straft, je nachdem er recht oder unrecht gehandelt hat? Nun wohl, so wird auch nur der, bei dem Gott noch den Mittelpunkt des Lebens bildet und eine den ganzen Menschen beherrschende Macht ist, den Mahnungen des Ge¬ wissens Folge leiste». Wem Gott gleichgiltig ist, dem wird auch Gottes Stimme gleichgiltig sein. Der gewissenlose Mensch ist dann fertig, der zwar auch ein Gewissen hat, aber weil er keine Scheu vor Gott hat, die Forderungen des Gewissens in den Wind schlägt. Mit andern Worten: Die Religion, und nur sie, übt eiuen entscheidenden Einfluß auf den Gehorsam gegen das Ge¬ wissen aus, wie beide, Religion und Gewissen, Gemeingut des Menschen sind, mithin auch nicht in Widerspruch geraten und derart auseinander fallen können, daß bei erkalteter Religiosität Gewissenhaftigkeit, bei lebendiger Reli¬ giosität Gewissenlosigkeit möglich wäre. Man darf noch weiter gehen und sagen, daß die Religion nicht nur auf den Gehorsam gegen das Gewissen, sondern auf das Gewissen selbst, daS, wie bemerkt, erzogen sein will, von Einfluß ist, das heißt unter ihrem stillen Walten das Gewissen geschärft wird, was sür alle Moral nicht minder ins Gewicht fällt. Dieser erziehende Einfluß der Religion auf das Gewissen selbst ist so groß, daß lebendige Reli¬ giosität und ein zartes Gewissen immer Hand in Hand zu gehen Pflegen. Damit ist schon gesagt, daß die Religion auch das Verbrechen aus¬ schließt. Ist eine religiöse, seelsorgerische Einwirkung auf den, der sich bereits dem Verbrechen ergeben hat, das Hauptmittel, ihn zu bessern, und beruht darum der Streit unter den Rechtslehrern, welche Strafmittel die sicherste Bürgschaft für eine sittliche Hebung des Verbrechers böten, gewöhnlich auf einer Verkennung des wichtigsten und unerläßlichen Heilmittels, so ist auch »ur die Religion imstande, das Verbrechen zu verhüten. Bei der Herrschaft, die in unsern Tagen die Naturwissenschaften ausüben, hat man zwar versucht, auch den Verbrecher sozusagen naturwissenschaft¬ lich zu erklären. Seine persönlichen, leiblichen und geistigen Anlagen sollen ihn in Verbindung mit den Verhältnissen, unter denen er lebte, zu dem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/547
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/547>, abgerufen am 01.09.2024.