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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Atheismus und Ethik

trauen auf die Macht der sittlich angelegten Menschennatur auch diesen Lehren
gegenüber, und die Thatsachen rechtfertigen unser Vertrauen. Vogt und Büchner
haben schlecht und recht gelebt, wie andre Professoren auch, die Ethikprofessoren
eingeschlossen, Marx und Engels sind sehr anständige Leute gewesen, Bebel
und Liebknecht sind es heute noch, und die Zahl der Vergehungen gegen Leben
und Eigentum ist in sehr frommen, von der Sozialdemokratie kaum berührten
Gegenden nicht kleiner, meistens sogar größer, als in dem "sozialistisch ver¬
seuchten" Berlin oder Leipzig. Das alles steht uns außer Frage. Aber daß
die sittliche Kraft ungebrochen und ungelähmt bleiben könne, wo der Atheismus
uicht allein mit dem Munde bekannt, sondern durchgedacht wird, das leugnen
wir ganz entschieden. Die atheistischen Professoren idealistischer wie materia¬
listischer*) Richtung, die Sozialistenführer und die sozialdemokratischen Arbeiter
sind allesamt sehr beschäftigte Leute, die gar keine Zeit haben, aus ihrem
Glauben -- denn der Atheismus ist eben doch auch ein Glaube und kein
Ergebnis wissenschaftlicher Erkenntnis -- die Folgerungen zu ziehen. Thäten
sie es, so würde die lähmende Wirkung nicht ausbleiben. An eine sittliche
Weltordnung zu glauben, haben die Atheisten -gar kein Recht. Was ist denn
sittliches dran, wenn die Menschen bloß Maden an der Rinde eines großen
Kngelkäses sind, die seinerzeit allesamt durch Kälte oder durch Feuer vernichtet
werden, sodaß von dem, was wir Geist nennen, im Weltall nichts übrig
bleiben wird? Was ist denn sittliches an diesem Ungeheuer, das fühlende
Wesen zwecklos gebiert und wieder verschlingt? Das sittliche darin ist einzig
die sittliche Empfindung des Menschen, und diese wird nicht allein von der
übermächtigen Naturgewalt mit dem Untergange bedroht, sondern auch durch
den Gang der Weltgeschichte fortwährend beleidigt. Die sittliche Weltordnung
ist etwas, wovon der Christ, der sie das Reich Gottes nennt, glaubt, daß es
im Jenseits offenbar werden und sich siegreich behaupten werde; für den
Atheisten, der diesen Glauben nicht hat, ist sie nicht vorhanden. Es entspricht
durchaus dem wirklichen Weltlauf, wenn der christliche Glaube den Gerechten



Der Orthodoxe kann den Ketzer nicht gründlicher verabscheuen, als der idealistische
Atheist Samson die Materialisten. Das ist lächerlich, mag man unter Materialismus den
theoretischen oder den praktischen verstehen. Der -- übrigens längst ttberwundne -- theoretische
Materialismus ist eine metaphysische Ansicht von dein Verhältnis zwischen Materie und Geist, die
den, der sie hat, nicht im mindesten hindert, so edel zu sein und zu handeln wie die spiritua-
listischen Atheisten und die Christen. Praktische Materialisten giebt es genug auch unter den
Leuten, die alle Tage in die Kirche gehen, wenn man darunter solche versteht, denen nichts in
der Welt über einen guten Bissen und einen guten Schluck geht. Meint man aber damit die
Sozialdemokraten, die grundsätzlich lehren, irdisches Wohlergehen sei das Ziel des Daseins, so
schließt dieser Materialismus den Idealismus keineswegs aus, indem einerseits zum irdischen
Wohlergehen auch die idealen Güter gerechnet werden, andrerseits die Opfer, die die Sozial¬
demokraten bringen, um dieses Wohlergehen ihren Kindern zu erkämpfen, ihren idealen Sinn
beweisen-
Atheismus und Ethik

trauen auf die Macht der sittlich angelegten Menschennatur auch diesen Lehren
gegenüber, und die Thatsachen rechtfertigen unser Vertrauen. Vogt und Büchner
haben schlecht und recht gelebt, wie andre Professoren auch, die Ethikprofessoren
eingeschlossen, Marx und Engels sind sehr anständige Leute gewesen, Bebel
und Liebknecht sind es heute noch, und die Zahl der Vergehungen gegen Leben
und Eigentum ist in sehr frommen, von der Sozialdemokratie kaum berührten
Gegenden nicht kleiner, meistens sogar größer, als in dem „sozialistisch ver¬
seuchten" Berlin oder Leipzig. Das alles steht uns außer Frage. Aber daß
die sittliche Kraft ungebrochen und ungelähmt bleiben könne, wo der Atheismus
uicht allein mit dem Munde bekannt, sondern durchgedacht wird, das leugnen
wir ganz entschieden. Die atheistischen Professoren idealistischer wie materia¬
listischer*) Richtung, die Sozialistenführer und die sozialdemokratischen Arbeiter
sind allesamt sehr beschäftigte Leute, die gar keine Zeit haben, aus ihrem
Glauben — denn der Atheismus ist eben doch auch ein Glaube und kein
Ergebnis wissenschaftlicher Erkenntnis — die Folgerungen zu ziehen. Thäten
sie es, so würde die lähmende Wirkung nicht ausbleiben. An eine sittliche
Weltordnung zu glauben, haben die Atheisten -gar kein Recht. Was ist denn
sittliches dran, wenn die Menschen bloß Maden an der Rinde eines großen
Kngelkäses sind, die seinerzeit allesamt durch Kälte oder durch Feuer vernichtet
werden, sodaß von dem, was wir Geist nennen, im Weltall nichts übrig
bleiben wird? Was ist denn sittliches an diesem Ungeheuer, das fühlende
Wesen zwecklos gebiert und wieder verschlingt? Das sittliche darin ist einzig
die sittliche Empfindung des Menschen, und diese wird nicht allein von der
übermächtigen Naturgewalt mit dem Untergange bedroht, sondern auch durch
den Gang der Weltgeschichte fortwährend beleidigt. Die sittliche Weltordnung
ist etwas, wovon der Christ, der sie das Reich Gottes nennt, glaubt, daß es
im Jenseits offenbar werden und sich siegreich behaupten werde; für den
Atheisten, der diesen Glauben nicht hat, ist sie nicht vorhanden. Es entspricht
durchaus dem wirklichen Weltlauf, wenn der christliche Glaube den Gerechten



Der Orthodoxe kann den Ketzer nicht gründlicher verabscheuen, als der idealistische
Atheist Samson die Materialisten. Das ist lächerlich, mag man unter Materialismus den
theoretischen oder den praktischen verstehen. Der — übrigens längst ttberwundne — theoretische
Materialismus ist eine metaphysische Ansicht von dein Verhältnis zwischen Materie und Geist, die
den, der sie hat, nicht im mindesten hindert, so edel zu sein und zu handeln wie die spiritua-
listischen Atheisten und die Christen. Praktische Materialisten giebt es genug auch unter den
Leuten, die alle Tage in die Kirche gehen, wenn man darunter solche versteht, denen nichts in
der Welt über einen guten Bissen und einen guten Schluck geht. Meint man aber damit die
Sozialdemokraten, die grundsätzlich lehren, irdisches Wohlergehen sei das Ziel des Daseins, so
schließt dieser Materialismus den Idealismus keineswegs aus, indem einerseits zum irdischen
Wohlergehen auch die idealen Güter gerechnet werden, andrerseits die Opfer, die die Sozial¬
demokraten bringen, um dieses Wohlergehen ihren Kindern zu erkämpfen, ihren idealen Sinn
beweisen-
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/509>, abgerufen am 28.11.2024.