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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

auf der Wanderschaft, dann ist bei dem steten Wechsel seines Aufenthalts die Ursache,
die ihn zum Wandern treibt, nicht festzustellen. Aber sowohl der arbeitslustige
Wie der arbeitsscheue Geselle bekommt bei dieser Umschau den Meistergroschen und
dadurch die Mittel, sich ohne Arbeit und Verdienst durch Vermittlung der Her¬
bergen und ähnlicher Anstalten Unterhalt und Verpflegung zu verschaffen. In
nicht ganz kleinen Städten bekommt er so viel, daß er dort mehrere Tage bleiben
und sich auch Luxusausgaben, z. B. für Bier und Branntwein, gestatten kann.

Das Wanderleben bringt für den arbeitslnstigen Gesellen große Gefahren
mit sich: er gewinnt den Müßiggang und die stete Abwechslung lieb, er verlernt
das Stillesitzen und das feste Arbeiten, seine Kleidung verlumpt, seine Gesinnung
verlumpt, sodaß er endlich nicht mehr bloß bei den Meistern seines Gewerbes
um Arbeit, sondern auch bei andern Leuten um Gaben anspricht, d. h. bettelt,
und der Vagabund im technischen Sinn ist fertig. Wie viel tausend fleißige und
tüchtige Gesellen mögen jährlich so, bei Arbeitsverlust durch die Umschau auf die
Landstraße gelockt, zu Vagabunden hernbsinken!

Darum ist es dringend notwendig, durch Verbot und Bestrafung der Umschau
die Wanderlust der Handwerksgesellen zu verringern. Es erscheint uns unbedenklich,
die Umschau der gleichen Strafe zu unterwerfen wie das Betteln, selbstverständlich
nur von auswärtigen Gesellen. Daß sich ein arbeitslos gewordner Geselle bei
den Meistern seines Wohnorts persönlich um andre Arbeit bewirbt, erscheint im
Interesse der Seßhaftigkeit der Gesellen durchaus angemessen und wünschenswert,
solange noch kein zentralisirter Arbeitsnachweis am Orte eingeführt ist.

Die Umschau kauu aber nur verboten werden, wenn zur Erreichung ihrer
Zwecke den wandernden Gesellen ein Ersatz gegeben wird. Da der Zweck der Umschau
ein doppelter ist: zu erfahren, ob Arbeit vorhanden ist, und die zum Leben notwendigen
Mittel zu erhalten, muß auch in zweifacher Beziehung Ersatz geschafft werden.

Zunächst mußte den Gesellen durch Zeutralisirung des Arbeitsnachweises Ge¬
legenheit gegeben werden, zu erfahren, ob Arbeit für ihr Fach vorhanden ist oder
nicht. Eine solche Einrichtung müßte den wandernden Gesellen eigentlich angenehm
sein, da ihnen ein einziger Gang die Kenntnis verschaffen würde, die sie bisher
nur durch mühsames Aufsuchen aller Meister ihres Gewerbes erhalten konnten.
Wir fürchten freilich, daß den meisten Wandrern der Arbeitsnachweis sehr unan¬
genehm sein würde, weil ihnen dadurch der Vorwand für das Umherlaufen von
Haus zu Haus genommen würde.

Zweitens müßte den mittellosen Wandrern die allernotwendigste Verpflegung
gewährt werden, aber nur so lange, als es notwendig wäre, einen bestimmten
Bezirk, z. B. einen Kreis zu durchwandern und die darin bestehenden Arbeits¬
nachweise aufzusuchen. Wie das zu machen wäre, müßte den einzelnen Kommunal¬
verbänden als Teil der Armenpflege überlassen werden. Jedenfalls müßte zur
Vermeidung von Mißbrauch die Gewährung von Geldgeschenken möglichst vermieden
und hierdurch sowie durch Beschränkung auf das Notwendigste in dem Wandrer
das Bestreben erweckt werden, möglichst bald wieder in feste und geordnete Ver¬
hältnisse zu kommen.

Die Frage, wie der Arbeitsnachweis einzurichten sei, berührt sich mit zahl¬
reichen praktischen Versuchen, die teils von Gemeinden, teils von Vereinen in den
letzten Jahren unternommen worden sind.*) Hoffentlich werden die Versuche recht



*) Näheres hierüber giebt or. Freund in Berlin in dein Jahresbericht des Berliner
Zentralvereins für Arbeitsnachweis über das Jahr 1895.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

auf der Wanderschaft, dann ist bei dem steten Wechsel seines Aufenthalts die Ursache,
die ihn zum Wandern treibt, nicht festzustellen. Aber sowohl der arbeitslustige
Wie der arbeitsscheue Geselle bekommt bei dieser Umschau den Meistergroschen und
dadurch die Mittel, sich ohne Arbeit und Verdienst durch Vermittlung der Her¬
bergen und ähnlicher Anstalten Unterhalt und Verpflegung zu verschaffen. In
nicht ganz kleinen Städten bekommt er so viel, daß er dort mehrere Tage bleiben
und sich auch Luxusausgaben, z. B. für Bier und Branntwein, gestatten kann.

Das Wanderleben bringt für den arbeitslnstigen Gesellen große Gefahren
mit sich: er gewinnt den Müßiggang und die stete Abwechslung lieb, er verlernt
das Stillesitzen und das feste Arbeiten, seine Kleidung verlumpt, seine Gesinnung
verlumpt, sodaß er endlich nicht mehr bloß bei den Meistern seines Gewerbes
um Arbeit, sondern auch bei andern Leuten um Gaben anspricht, d. h. bettelt,
und der Vagabund im technischen Sinn ist fertig. Wie viel tausend fleißige und
tüchtige Gesellen mögen jährlich so, bei Arbeitsverlust durch die Umschau auf die
Landstraße gelockt, zu Vagabunden hernbsinken!

Darum ist es dringend notwendig, durch Verbot und Bestrafung der Umschau
die Wanderlust der Handwerksgesellen zu verringern. Es erscheint uns unbedenklich,
die Umschau der gleichen Strafe zu unterwerfen wie das Betteln, selbstverständlich
nur von auswärtigen Gesellen. Daß sich ein arbeitslos gewordner Geselle bei
den Meistern seines Wohnorts persönlich um andre Arbeit bewirbt, erscheint im
Interesse der Seßhaftigkeit der Gesellen durchaus angemessen und wünschenswert,
solange noch kein zentralisirter Arbeitsnachweis am Orte eingeführt ist.

Die Umschau kauu aber nur verboten werden, wenn zur Erreichung ihrer
Zwecke den wandernden Gesellen ein Ersatz gegeben wird. Da der Zweck der Umschau
ein doppelter ist: zu erfahren, ob Arbeit vorhanden ist, und die zum Leben notwendigen
Mittel zu erhalten, muß auch in zweifacher Beziehung Ersatz geschafft werden.

Zunächst mußte den Gesellen durch Zeutralisirung des Arbeitsnachweises Ge¬
legenheit gegeben werden, zu erfahren, ob Arbeit für ihr Fach vorhanden ist oder
nicht. Eine solche Einrichtung müßte den wandernden Gesellen eigentlich angenehm
sein, da ihnen ein einziger Gang die Kenntnis verschaffen würde, die sie bisher
nur durch mühsames Aufsuchen aller Meister ihres Gewerbes erhalten konnten.
Wir fürchten freilich, daß den meisten Wandrern der Arbeitsnachweis sehr unan¬
genehm sein würde, weil ihnen dadurch der Vorwand für das Umherlaufen von
Haus zu Haus genommen würde.

Zweitens müßte den mittellosen Wandrern die allernotwendigste Verpflegung
gewährt werden, aber nur so lange, als es notwendig wäre, einen bestimmten
Bezirk, z. B. einen Kreis zu durchwandern und die darin bestehenden Arbeits¬
nachweise aufzusuchen. Wie das zu machen wäre, müßte den einzelnen Kommunal¬
verbänden als Teil der Armenpflege überlassen werden. Jedenfalls müßte zur
Vermeidung von Mißbrauch die Gewährung von Geldgeschenken möglichst vermieden
und hierdurch sowie durch Beschränkung auf das Notwendigste in dem Wandrer
das Bestreben erweckt werden, möglichst bald wieder in feste und geordnete Ver¬
hältnisse zu kommen.

Die Frage, wie der Arbeitsnachweis einzurichten sei, berührt sich mit zahl¬
reichen praktischen Versuchen, die teils von Gemeinden, teils von Vereinen in den
letzten Jahren unternommen worden sind.*) Hoffentlich werden die Versuche recht



*) Näheres hierüber giebt or. Freund in Berlin in dein Jahresbericht des Berliner
Zentralvereins für Arbeitsnachweis über das Jahr 1895.
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[0486] Maßgebliches und Unmaßgebliches auf der Wanderschaft, dann ist bei dem steten Wechsel seines Aufenthalts die Ursache, die ihn zum Wandern treibt, nicht festzustellen. Aber sowohl der arbeitslustige Wie der arbeitsscheue Geselle bekommt bei dieser Umschau den Meistergroschen und dadurch die Mittel, sich ohne Arbeit und Verdienst durch Vermittlung der Her¬ bergen und ähnlicher Anstalten Unterhalt und Verpflegung zu verschaffen. In nicht ganz kleinen Städten bekommt er so viel, daß er dort mehrere Tage bleiben und sich auch Luxusausgaben, z. B. für Bier und Branntwein, gestatten kann. Das Wanderleben bringt für den arbeitslnstigen Gesellen große Gefahren mit sich: er gewinnt den Müßiggang und die stete Abwechslung lieb, er verlernt das Stillesitzen und das feste Arbeiten, seine Kleidung verlumpt, seine Gesinnung verlumpt, sodaß er endlich nicht mehr bloß bei den Meistern seines Gewerbes um Arbeit, sondern auch bei andern Leuten um Gaben anspricht, d. h. bettelt, und der Vagabund im technischen Sinn ist fertig. Wie viel tausend fleißige und tüchtige Gesellen mögen jährlich so, bei Arbeitsverlust durch die Umschau auf die Landstraße gelockt, zu Vagabunden hernbsinken! Darum ist es dringend notwendig, durch Verbot und Bestrafung der Umschau die Wanderlust der Handwerksgesellen zu verringern. Es erscheint uns unbedenklich, die Umschau der gleichen Strafe zu unterwerfen wie das Betteln, selbstverständlich nur von auswärtigen Gesellen. Daß sich ein arbeitslos gewordner Geselle bei den Meistern seines Wohnorts persönlich um andre Arbeit bewirbt, erscheint im Interesse der Seßhaftigkeit der Gesellen durchaus angemessen und wünschenswert, solange noch kein zentralisirter Arbeitsnachweis am Orte eingeführt ist. Die Umschau kauu aber nur verboten werden, wenn zur Erreichung ihrer Zwecke den wandernden Gesellen ein Ersatz gegeben wird. Da der Zweck der Umschau ein doppelter ist: zu erfahren, ob Arbeit vorhanden ist, und die zum Leben notwendigen Mittel zu erhalten, muß auch in zweifacher Beziehung Ersatz geschafft werden. Zunächst mußte den Gesellen durch Zeutralisirung des Arbeitsnachweises Ge¬ legenheit gegeben werden, zu erfahren, ob Arbeit für ihr Fach vorhanden ist oder nicht. Eine solche Einrichtung müßte den wandernden Gesellen eigentlich angenehm sein, da ihnen ein einziger Gang die Kenntnis verschaffen würde, die sie bisher nur durch mühsames Aufsuchen aller Meister ihres Gewerbes erhalten konnten. Wir fürchten freilich, daß den meisten Wandrern der Arbeitsnachweis sehr unan¬ genehm sein würde, weil ihnen dadurch der Vorwand für das Umherlaufen von Haus zu Haus genommen würde. Zweitens müßte den mittellosen Wandrern die allernotwendigste Verpflegung gewährt werden, aber nur so lange, als es notwendig wäre, einen bestimmten Bezirk, z. B. einen Kreis zu durchwandern und die darin bestehenden Arbeits¬ nachweise aufzusuchen. Wie das zu machen wäre, müßte den einzelnen Kommunal¬ verbänden als Teil der Armenpflege überlassen werden. Jedenfalls müßte zur Vermeidung von Mißbrauch die Gewährung von Geldgeschenken möglichst vermieden und hierdurch sowie durch Beschränkung auf das Notwendigste in dem Wandrer das Bestreben erweckt werden, möglichst bald wieder in feste und geordnete Ver¬ hältnisse zu kommen. Die Frage, wie der Arbeitsnachweis einzurichten sei, berührt sich mit zahl¬ reichen praktischen Versuchen, die teils von Gemeinden, teils von Vereinen in den letzten Jahren unternommen worden sind.*) Hoffentlich werden die Versuche recht *) Näheres hierüber giebt or. Freund in Berlin in dein Jahresbericht des Berliner Zentralvereins für Arbeitsnachweis über das Jahr 1895.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/486>, abgerufen am 22.11.2024.