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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Warum sollen wir ins Gefängnis?

Wird aber nicht mit Strenge regiert, sondern mit Freundlichkeit und -- Ge¬
duld. Denn bei harten Worten schließt sich ihr inneres Leben förmlich gegen
die Außenwelt ab, sie wird so apathisch, daß gar nicht weiter mit ihr zu ver¬
handeln ist. Einer aufrichtigen, wenn auch mit Ernst und Entschiedenheit ver-
bundnen Freundlichkeit aber kann sie nicht widerstehen, willig läßt sie sich leiten
und hat sich seit einem Jahre nicht das Geringste zu schulden kommen lassen.

Ganz ähnlich erging es in derselben Anstalt mit einem Mädchen aus
hohem Stande, deren Grundfehler die Lüge war. Die Tochter eines hohen
Beamten, die Enkelin eines Generals, war sie wegen Diebstahls bereits
mit Gefängnis bestraft und hatte allen Versuchen, ihr durch Strenge beizu¬
kommen, hartnäckig Trotz geboten. Jahrelange freundliche Behandlung brach
endlich diesen Trotz, sie wurde allmählich völlig verändert und ist jetzt Ge¬
hilfin an einer andern ähnlichen Anstalt.

Was würde wohl aus diesen beiden Mädchen geworden sein, wenn man
ihrem Wesen nicht Rechnung getragen, sondern sie nach Verbüßnng ihrer Strafe
sich selbst und den Reibungen des öffentlichen Lebens wieder überlassen hätte?
Es drängt sich aber anch die Frage auf: würden sie überhaupt auf die Bahn
des Lasters, ins Gefängnis, in die Korrektionsanstalt, in Schande geraten
sein, wenn man ihre sittliche Schwäche früh genug erkannt und demgemäß ihre
Erziehung geleitet Hütte? Ist es nicht ein Unrecht, daß solche Menschen ganz
mit demselben Maße gemessen werden wie wir, die wir im Vollbesitze normaler
sittlicher Kräfte sind?' Muß die Gesellschaft nicht dafür sorgen, daß für diese
Schwachen Lebensbedingungen geschaffen werden, die geeignet sind, den mi-
geborncn sittlichen Mangel wenigstens annähernd auszugleichen? Ist es nicht
eine Pflicht der Humanität, diese unglücklichen Menschen zu dem sie umgebenden
Leben in ein Verhältnis zu stellen, das dem entspricht, worin wir Gesunden
zu dem uus umgebenden öffentlichen Leben stehen? Wenn wir sehen, daß
einem Menschen die Versuchungen des Lebens augenscheinlich zu stark sind, daß
er ihnen nie wird widerstehen können, haben wir dann nicht die Pflicht, ihn
diesen für seine sittliche Persönlichkeit tötlichen Versuchungen zu entreißen?
Und endlich: liegt in der Erfüllung dieser Pflicht der Gesellschaft nicht zugleich
ein Lebensinteresse für sie? Muß sie nicht um ihrer selbst willen dafür sorgen,
daß diese immerfort fließende Quelle des Bösen verstopft werde? Die Er¬
fahrung lehrt, daß die große Mehrzahl aller Verbrecher rückfällig und schlie߬
lich zu Gewohnheitsverbrechern wird. Wozu also diese Leute ius Leben hinein¬
stellen, da man doch zehn gegen eins wetten kann, daß sie sich über kurz oder
laug aufs neue gegen die Gesetze vergehen werden? Es läßt sich thatsächlich
für die heute übliche Behandlung solcher Naturen kein sittlich haltbarer Grund
anführen; sie gehören weder ins Gefängnis noch ins Korrektionshaus, sie ge¬
hören in eine Erziehungsanstalt.

Mau sage nicht, daß es ein Unrecht und für unsre Zeit ein Rückschritt


Warum sollen wir ins Gefängnis?

Wird aber nicht mit Strenge regiert, sondern mit Freundlichkeit und — Ge¬
duld. Denn bei harten Worten schließt sich ihr inneres Leben förmlich gegen
die Außenwelt ab, sie wird so apathisch, daß gar nicht weiter mit ihr zu ver¬
handeln ist. Einer aufrichtigen, wenn auch mit Ernst und Entschiedenheit ver-
bundnen Freundlichkeit aber kann sie nicht widerstehen, willig läßt sie sich leiten
und hat sich seit einem Jahre nicht das Geringste zu schulden kommen lassen.

Ganz ähnlich erging es in derselben Anstalt mit einem Mädchen aus
hohem Stande, deren Grundfehler die Lüge war. Die Tochter eines hohen
Beamten, die Enkelin eines Generals, war sie wegen Diebstahls bereits
mit Gefängnis bestraft und hatte allen Versuchen, ihr durch Strenge beizu¬
kommen, hartnäckig Trotz geboten. Jahrelange freundliche Behandlung brach
endlich diesen Trotz, sie wurde allmählich völlig verändert und ist jetzt Ge¬
hilfin an einer andern ähnlichen Anstalt.

Was würde wohl aus diesen beiden Mädchen geworden sein, wenn man
ihrem Wesen nicht Rechnung getragen, sondern sie nach Verbüßnng ihrer Strafe
sich selbst und den Reibungen des öffentlichen Lebens wieder überlassen hätte?
Es drängt sich aber anch die Frage auf: würden sie überhaupt auf die Bahn
des Lasters, ins Gefängnis, in die Korrektionsanstalt, in Schande geraten
sein, wenn man ihre sittliche Schwäche früh genug erkannt und demgemäß ihre
Erziehung geleitet Hütte? Ist es nicht ein Unrecht, daß solche Menschen ganz
mit demselben Maße gemessen werden wie wir, die wir im Vollbesitze normaler
sittlicher Kräfte sind?' Muß die Gesellschaft nicht dafür sorgen, daß für diese
Schwachen Lebensbedingungen geschaffen werden, die geeignet sind, den mi-
geborncn sittlichen Mangel wenigstens annähernd auszugleichen? Ist es nicht
eine Pflicht der Humanität, diese unglücklichen Menschen zu dem sie umgebenden
Leben in ein Verhältnis zu stellen, das dem entspricht, worin wir Gesunden
zu dem uus umgebenden öffentlichen Leben stehen? Wenn wir sehen, daß
einem Menschen die Versuchungen des Lebens augenscheinlich zu stark sind, daß
er ihnen nie wird widerstehen können, haben wir dann nicht die Pflicht, ihn
diesen für seine sittliche Persönlichkeit tötlichen Versuchungen zu entreißen?
Und endlich: liegt in der Erfüllung dieser Pflicht der Gesellschaft nicht zugleich
ein Lebensinteresse für sie? Muß sie nicht um ihrer selbst willen dafür sorgen,
daß diese immerfort fließende Quelle des Bösen verstopft werde? Die Er¬
fahrung lehrt, daß die große Mehrzahl aller Verbrecher rückfällig und schlie߬
lich zu Gewohnheitsverbrechern wird. Wozu also diese Leute ius Leben hinein¬
stellen, da man doch zehn gegen eins wetten kann, daß sie sich über kurz oder
laug aufs neue gegen die Gesetze vergehen werden? Es läßt sich thatsächlich
für die heute übliche Behandlung solcher Naturen kein sittlich haltbarer Grund
anführen; sie gehören weder ins Gefängnis noch ins Korrektionshaus, sie ge¬
hören in eine Erziehungsanstalt.

Mau sage nicht, daß es ein Unrecht und für unsre Zeit ein Rückschritt


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[0454] Warum sollen wir ins Gefängnis? Wird aber nicht mit Strenge regiert, sondern mit Freundlichkeit und — Ge¬ duld. Denn bei harten Worten schließt sich ihr inneres Leben förmlich gegen die Außenwelt ab, sie wird so apathisch, daß gar nicht weiter mit ihr zu ver¬ handeln ist. Einer aufrichtigen, wenn auch mit Ernst und Entschiedenheit ver- bundnen Freundlichkeit aber kann sie nicht widerstehen, willig läßt sie sich leiten und hat sich seit einem Jahre nicht das Geringste zu schulden kommen lassen. Ganz ähnlich erging es in derselben Anstalt mit einem Mädchen aus hohem Stande, deren Grundfehler die Lüge war. Die Tochter eines hohen Beamten, die Enkelin eines Generals, war sie wegen Diebstahls bereits mit Gefängnis bestraft und hatte allen Versuchen, ihr durch Strenge beizu¬ kommen, hartnäckig Trotz geboten. Jahrelange freundliche Behandlung brach endlich diesen Trotz, sie wurde allmählich völlig verändert und ist jetzt Ge¬ hilfin an einer andern ähnlichen Anstalt. Was würde wohl aus diesen beiden Mädchen geworden sein, wenn man ihrem Wesen nicht Rechnung getragen, sondern sie nach Verbüßnng ihrer Strafe sich selbst und den Reibungen des öffentlichen Lebens wieder überlassen hätte? Es drängt sich aber anch die Frage auf: würden sie überhaupt auf die Bahn des Lasters, ins Gefängnis, in die Korrektionsanstalt, in Schande geraten sein, wenn man ihre sittliche Schwäche früh genug erkannt und demgemäß ihre Erziehung geleitet Hütte? Ist es nicht ein Unrecht, daß solche Menschen ganz mit demselben Maße gemessen werden wie wir, die wir im Vollbesitze normaler sittlicher Kräfte sind?' Muß die Gesellschaft nicht dafür sorgen, daß für diese Schwachen Lebensbedingungen geschaffen werden, die geeignet sind, den mi- geborncn sittlichen Mangel wenigstens annähernd auszugleichen? Ist es nicht eine Pflicht der Humanität, diese unglücklichen Menschen zu dem sie umgebenden Leben in ein Verhältnis zu stellen, das dem entspricht, worin wir Gesunden zu dem uus umgebenden öffentlichen Leben stehen? Wenn wir sehen, daß einem Menschen die Versuchungen des Lebens augenscheinlich zu stark sind, daß er ihnen nie wird widerstehen können, haben wir dann nicht die Pflicht, ihn diesen für seine sittliche Persönlichkeit tötlichen Versuchungen zu entreißen? Und endlich: liegt in der Erfüllung dieser Pflicht der Gesellschaft nicht zugleich ein Lebensinteresse für sie? Muß sie nicht um ihrer selbst willen dafür sorgen, daß diese immerfort fließende Quelle des Bösen verstopft werde? Die Er¬ fahrung lehrt, daß die große Mehrzahl aller Verbrecher rückfällig und schlie߬ lich zu Gewohnheitsverbrechern wird. Wozu also diese Leute ius Leben hinein¬ stellen, da man doch zehn gegen eins wetten kann, daß sie sich über kurz oder laug aufs neue gegen die Gesetze vergehen werden? Es läßt sich thatsächlich für die heute übliche Behandlung solcher Naturen kein sittlich haltbarer Grund anführen; sie gehören weder ins Gefängnis noch ins Korrektionshaus, sie ge¬ hören in eine Erziehungsanstalt. Mau sage nicht, daß es ein Unrecht und für unsre Zeit ein Rückschritt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/454>, abgerufen am 01.09.2024.