Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.Warum sollen wir ins Gefängnis? So sagt das Gericht, und wer wollte ihm Unrecht geben? Der Richter Hierin liegt eine Härte, ja ein sittliches Unrecht und in weiterer Folge Das ist freilich nur ein Name, und noch dazu ein mißverständlicher. Es giebt aber noch eine andre Klasse von Menschen, die geistig oft ganz Wir wollen von vornherein dein Verdachte begegnen, als wollten wir Warum sollen wir ins Gefängnis? So sagt das Gericht, und wer wollte ihm Unrecht geben? Der Richter Hierin liegt eine Härte, ja ein sittliches Unrecht und in weiterer Folge Das ist freilich nur ein Name, und noch dazu ein mißverständlicher. Es giebt aber noch eine andre Klasse von Menschen, die geistig oft ganz Wir wollen von vornherein dein Verdachte begegnen, als wollten wir <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0452" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223394"/> <fw type="header" place="top"> Warum sollen wir ins Gefängnis?</fw><lb/> <p xml:id="ID_1273"> So sagt das Gericht, und wer wollte ihm Unrecht geben? Der Richter<lb/> kennt den Angeklagten nicht und darf keinen andern Maßstab anlegen als den<lb/> Buchstaben des Gesetzes. Nach dem Gesetz aber wird nur der Geisteskranke<lb/> freigesprochen, und der geistig Beschränkte der Zwangserziehung überwiesen,<lb/> wohlgemerkt, ohne daß es sür solche Menschen bestimmte staatliche Erziehungs¬<lb/> anstalten gäbe! Alle übrigen jungen Verbrecher wandern ins Gefängnis.</p><lb/> <p xml:id="ID_1274"> Hierin liegt eine Härte, ja ein sittliches Unrecht und in weiterer Folge<lb/> auch eine volkswirtschaftliche Thorheit. Gewiß sind die Gesetze für die Wohl¬<lb/> fahrt des Ganzen gemacht; aber tausende, an die man bei der Gesetzgebung<lb/> nicht gedacht hat, fallen alljährlich diesen Gesetzen zum Opfer und vergrößern<lb/> die Zahl der Geächteten im Staate. Diese beklagenswerten Opfer der Gesetz¬<lb/> gebung, deren angeborene verkehrte Seelenverfassung sehr häufig kaum den<lb/> Angehörigen bekannt, dem großen Publikum aber so gut wie unbekannt ist, kann<lb/> man zusammenfassen unter dem Namen Schwachsinnige.</p><lb/> <p xml:id="ID_1275"> Das ist freilich nur ein Name, und noch dazu ein mißverständlicher.<lb/> Denn bei dem Worte schwachsinnig denkt man zunächst unwillkürlich an das<lb/> zahlreiche Heer der Idioten, der Blöden und der geistig Beschränkten. Die<lb/> bilden aber nur eine Art des Schwachsinns, und während die Idioten und<lb/> Blöden meist in Anstalten untergebracht werden, sind die geistig Beschränkten<lb/> in den meisten Füllen harmlose Geschöpfe und viel zu hilflos und unselbständig,<lb/> um die Bahn des Verbrechens zu betreten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1276"> Es giebt aber noch eine andre Klasse von Menschen, die geistig oft ganz<lb/> normal angelegt sind, die logisch denken, auch, was sie denken, in gewandter Rede<lb/> aussprechen können, die mit einem vortrefflichen Gedächtnis und besonders auch<lb/> mit großer Schlauheit ausgerüstet sind, die wir aber dennoch als schwachsinnig<lb/> bezeichnen müssen. Nur liegt ihr Schwachsinn nicht auf dem Gebiete der Einsicht,<lb/> sondern auf dem des Willens, man kann sie daher als moralisch Schwachsinnige<lb/> bezeichnen, ein Ausdruck, der auch schon vielfach von Männern der Innern Mission,<lb/> die sich bis jetzt am meisten dieser Unglücklichen angenommen hat, gebraucht wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_1277"> Wir wollen von vornherein dein Verdachte begegnen, als wollten wir<lb/> jede sittliche Schwäche, jeden Charakterfehler als moralischen Schwachsinn hin¬<lb/> stellen und entschuldigen. Es liegt uns nichts ferner als die Theorie Lombrosos,<lb/> der alle Verbrecher für geisteskrank erklärt und damit, wenn man seine letzten<lb/> Folgerungen zieht, alle Verantwortlichkeit aufhebt. Nein, verantwortlich sind<lb/> wir alle, schwachsinnig oder nicht; denn Sünde bleibt Sünde und verlangt<lb/> Sühne, das ist ein ewig giltiges Gesetz. Des Menschen Wille ist sein Himmel¬<lb/> reich oder — seine Hölle. Darum handelt es sich hier nicht. Wir wissen,<lb/> oder richtiger gesagt, die Gesetzgeber sollten es wissen, daß eine große Anzahl<lb/> von Menschen moralisch schwachsinnig, d. h. in weit geringerm Maße imstande<lb/> ist, das Verhältnis zwischen ihren Handlungen und den bestehenden Gesetzen<lb/> im gegebnen Augenblicke zu beurteilen, als es der Durchschnittsmensch vermag.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0452]
Warum sollen wir ins Gefängnis?
So sagt das Gericht, und wer wollte ihm Unrecht geben? Der Richter
kennt den Angeklagten nicht und darf keinen andern Maßstab anlegen als den
Buchstaben des Gesetzes. Nach dem Gesetz aber wird nur der Geisteskranke
freigesprochen, und der geistig Beschränkte der Zwangserziehung überwiesen,
wohlgemerkt, ohne daß es sür solche Menschen bestimmte staatliche Erziehungs¬
anstalten gäbe! Alle übrigen jungen Verbrecher wandern ins Gefängnis.
Hierin liegt eine Härte, ja ein sittliches Unrecht und in weiterer Folge
auch eine volkswirtschaftliche Thorheit. Gewiß sind die Gesetze für die Wohl¬
fahrt des Ganzen gemacht; aber tausende, an die man bei der Gesetzgebung
nicht gedacht hat, fallen alljährlich diesen Gesetzen zum Opfer und vergrößern
die Zahl der Geächteten im Staate. Diese beklagenswerten Opfer der Gesetz¬
gebung, deren angeborene verkehrte Seelenverfassung sehr häufig kaum den
Angehörigen bekannt, dem großen Publikum aber so gut wie unbekannt ist, kann
man zusammenfassen unter dem Namen Schwachsinnige.
Das ist freilich nur ein Name, und noch dazu ein mißverständlicher.
Denn bei dem Worte schwachsinnig denkt man zunächst unwillkürlich an das
zahlreiche Heer der Idioten, der Blöden und der geistig Beschränkten. Die
bilden aber nur eine Art des Schwachsinns, und während die Idioten und
Blöden meist in Anstalten untergebracht werden, sind die geistig Beschränkten
in den meisten Füllen harmlose Geschöpfe und viel zu hilflos und unselbständig,
um die Bahn des Verbrechens zu betreten.
Es giebt aber noch eine andre Klasse von Menschen, die geistig oft ganz
normal angelegt sind, die logisch denken, auch, was sie denken, in gewandter Rede
aussprechen können, die mit einem vortrefflichen Gedächtnis und besonders auch
mit großer Schlauheit ausgerüstet sind, die wir aber dennoch als schwachsinnig
bezeichnen müssen. Nur liegt ihr Schwachsinn nicht auf dem Gebiete der Einsicht,
sondern auf dem des Willens, man kann sie daher als moralisch Schwachsinnige
bezeichnen, ein Ausdruck, der auch schon vielfach von Männern der Innern Mission,
die sich bis jetzt am meisten dieser Unglücklichen angenommen hat, gebraucht wird.
Wir wollen von vornherein dein Verdachte begegnen, als wollten wir
jede sittliche Schwäche, jeden Charakterfehler als moralischen Schwachsinn hin¬
stellen und entschuldigen. Es liegt uns nichts ferner als die Theorie Lombrosos,
der alle Verbrecher für geisteskrank erklärt und damit, wenn man seine letzten
Folgerungen zieht, alle Verantwortlichkeit aufhebt. Nein, verantwortlich sind
wir alle, schwachsinnig oder nicht; denn Sünde bleibt Sünde und verlangt
Sühne, das ist ein ewig giltiges Gesetz. Des Menschen Wille ist sein Himmel¬
reich oder — seine Hölle. Darum handelt es sich hier nicht. Wir wissen,
oder richtiger gesagt, die Gesetzgeber sollten es wissen, daß eine große Anzahl
von Menschen moralisch schwachsinnig, d. h. in weit geringerm Maße imstande
ist, das Verhältnis zwischen ihren Handlungen und den bestehenden Gesetzen
im gegebnen Augenblicke zu beurteilen, als es der Durchschnittsmensch vermag.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |