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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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zu sammeln und herauszugeben. Ein wenig nachbessern müßte man, aber es
giebt Leute genug, die, was sie erlebt und erfahren haben, einfach und an¬
sprechend niederschreiben können. Wenn nur die Schriftstellereitelkeit nicht überall
in der Luft läge!

Das Jahr 1895, das Jubiläumsjahr des großen Krieges, hatte natürlich
manche Bewerber auch bewogen, Kriegsepisoden zu behandeln; es mag dies in
reichlich einem Dutzend Fällen geschehen sein. Zwei oder drei dieser Er¬
zählungen taugten etwas, die richtige Stimmung des Jahres 1870 brachte keine
heraus- Von deu drei oder vier Erzählungen, die die Zeit Napoleons I. und
der Befreiungskriege behandelten, war eine gelungen. Die Bewegung des
Jahres 1848 tauchte in einer einzigen Erzählung auf; man scheint sie im
deutschen Volke so ziemlich vergessen zu haben. Gegen die Erzählung aus
dem modernen Leben spielte die geschichtliche Erzählung überhaupt eine un¬
bedeutende Rolle; es war einiges Mittelgut da.

Das wären so die wichtigsten der vertretenen Gattungen. Vorhanden
war natürlich alles, was an beliebten Formen in den Spalten unsrer Unter¬
haltungsblätter je das Licht der Welt erblickt hat: die Kriminalgeschichte und
die Humoreske, die Familiengeschichte und das Idyll s. ig. Leberecht Hühnchen,
die Abenteuererzählung und die Geschichte der Backfischliebe, das naturalistische
Lebensbild und das Märchen. Neben sehr weltlichen Erzeugnissen waren auch
solche mit religiöser Stimmung vertreten. Manchmal erwies sich eine Er¬
zählung als die Bearbeitung einer bekannten Anekdote, überhaupt war der
Aufwand an neuen Erfindungen nicht sonderlich groß. Und trotz der vielen
Humoresken war auch der echte Humor nicht häufig zu finden.

Die Gesichtspunkte, nach denen die Erzählungen zu beurteilen waren, er¬
gaben sich von selbst: aus der großen Masse mußte zunächst das heraus¬
genommen werden, was eine mehr oder minder ausgebildete Erzählungskunst
verriet, also druckreif war, und aus diesem wieder, was sich durch Neuheit
und Bedeutung des Stoffs, Selbständigkeit in seiner Behandlung und der
Lebensauffassung überhaupt auszeichnete. Daneben war auch im Auge zu be¬
halten, daß die zu erwerbenden Arbeiten der volkstümlichen Wirkung nicht
entbehren durften, das Volk zu fesseln imstande sein mußten, wodurch manche
Gattungen unsrer modernen Belletristik, wie z. B. die Backfischgeschichte, von
vornherein ausgeschlossen wurden, und die Erzählung mit starken (nur nicht
ungesunden) Wirkungen und einem volkserzieherischen Zug (nur nicht einer
Tendenz oder nüchterner Lehrhciftigkeit) einen Vorzug vor den feinern, rein
poetischen Arbeiten bekam. Das Ergebnis stellte sich darnach ungefähr so:
Von 310 Arbeiten waren etwa 30, also reichlich ein Viertel, druckreif, d. h.
für Unterhaltungsblütter, die nicht allzu hohe Ansprüche stellen, verwendbar;
von diesen 80 war wieder reichlich ein Viertel, nämlich 21 Stück, gut,
d. h. durch besondre Vorzüge ausgezeichnet, sei es durch Vorzüge allgemein-


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zu sammeln und herauszugeben. Ein wenig nachbessern müßte man, aber es
giebt Leute genug, die, was sie erlebt und erfahren haben, einfach und an¬
sprechend niederschreiben können. Wenn nur die Schriftstellereitelkeit nicht überall
in der Luft läge!

Das Jahr 1895, das Jubiläumsjahr des großen Krieges, hatte natürlich
manche Bewerber auch bewogen, Kriegsepisoden zu behandeln; es mag dies in
reichlich einem Dutzend Fällen geschehen sein. Zwei oder drei dieser Er¬
zählungen taugten etwas, die richtige Stimmung des Jahres 1870 brachte keine
heraus- Von deu drei oder vier Erzählungen, die die Zeit Napoleons I. und
der Befreiungskriege behandelten, war eine gelungen. Die Bewegung des
Jahres 1848 tauchte in einer einzigen Erzählung auf; man scheint sie im
deutschen Volke so ziemlich vergessen zu haben. Gegen die Erzählung aus
dem modernen Leben spielte die geschichtliche Erzählung überhaupt eine un¬
bedeutende Rolle; es war einiges Mittelgut da.

Das wären so die wichtigsten der vertretenen Gattungen. Vorhanden
war natürlich alles, was an beliebten Formen in den Spalten unsrer Unter¬
haltungsblätter je das Licht der Welt erblickt hat: die Kriminalgeschichte und
die Humoreske, die Familiengeschichte und das Idyll s. ig. Leberecht Hühnchen,
die Abenteuererzählung und die Geschichte der Backfischliebe, das naturalistische
Lebensbild und das Märchen. Neben sehr weltlichen Erzeugnissen waren auch
solche mit religiöser Stimmung vertreten. Manchmal erwies sich eine Er¬
zählung als die Bearbeitung einer bekannten Anekdote, überhaupt war der
Aufwand an neuen Erfindungen nicht sonderlich groß. Und trotz der vielen
Humoresken war auch der echte Humor nicht häufig zu finden.

Die Gesichtspunkte, nach denen die Erzählungen zu beurteilen waren, er¬
gaben sich von selbst: aus der großen Masse mußte zunächst das heraus¬
genommen werden, was eine mehr oder minder ausgebildete Erzählungskunst
verriet, also druckreif war, und aus diesem wieder, was sich durch Neuheit
und Bedeutung des Stoffs, Selbständigkeit in seiner Behandlung und der
Lebensauffassung überhaupt auszeichnete. Daneben war auch im Auge zu be¬
halten, daß die zu erwerbenden Arbeiten der volkstümlichen Wirkung nicht
entbehren durften, das Volk zu fesseln imstande sein mußten, wodurch manche
Gattungen unsrer modernen Belletristik, wie z. B. die Backfischgeschichte, von
vornherein ausgeschlossen wurden, und die Erzählung mit starken (nur nicht
ungesunden) Wirkungen und einem volkserzieherischen Zug (nur nicht einer
Tendenz oder nüchterner Lehrhciftigkeit) einen Vorzug vor den feinern, rein
poetischen Arbeiten bekam. Das Ergebnis stellte sich darnach ungefähr so:
Von 310 Arbeiten waren etwa 30, also reichlich ein Viertel, druckreif, d. h.
für Unterhaltungsblütter, die nicht allzu hohe Ansprüche stellen, verwendbar;
von diesen 80 war wieder reichlich ein Viertel, nämlich 21 Stück, gut,
d. h. durch besondre Vorzüge ausgezeichnet, sei es durch Vorzüge allgemein-


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[0044] Lin Preisausschreiben zu sammeln und herauszugeben. Ein wenig nachbessern müßte man, aber es giebt Leute genug, die, was sie erlebt und erfahren haben, einfach und an¬ sprechend niederschreiben können. Wenn nur die Schriftstellereitelkeit nicht überall in der Luft läge! Das Jahr 1895, das Jubiläumsjahr des großen Krieges, hatte natürlich manche Bewerber auch bewogen, Kriegsepisoden zu behandeln; es mag dies in reichlich einem Dutzend Fällen geschehen sein. Zwei oder drei dieser Er¬ zählungen taugten etwas, die richtige Stimmung des Jahres 1870 brachte keine heraus- Von deu drei oder vier Erzählungen, die die Zeit Napoleons I. und der Befreiungskriege behandelten, war eine gelungen. Die Bewegung des Jahres 1848 tauchte in einer einzigen Erzählung auf; man scheint sie im deutschen Volke so ziemlich vergessen zu haben. Gegen die Erzählung aus dem modernen Leben spielte die geschichtliche Erzählung überhaupt eine un¬ bedeutende Rolle; es war einiges Mittelgut da. Das wären so die wichtigsten der vertretenen Gattungen. Vorhanden war natürlich alles, was an beliebten Formen in den Spalten unsrer Unter¬ haltungsblätter je das Licht der Welt erblickt hat: die Kriminalgeschichte und die Humoreske, die Familiengeschichte und das Idyll s. ig. Leberecht Hühnchen, die Abenteuererzählung und die Geschichte der Backfischliebe, das naturalistische Lebensbild und das Märchen. Neben sehr weltlichen Erzeugnissen waren auch solche mit religiöser Stimmung vertreten. Manchmal erwies sich eine Er¬ zählung als die Bearbeitung einer bekannten Anekdote, überhaupt war der Aufwand an neuen Erfindungen nicht sonderlich groß. Und trotz der vielen Humoresken war auch der echte Humor nicht häufig zu finden. Die Gesichtspunkte, nach denen die Erzählungen zu beurteilen waren, er¬ gaben sich von selbst: aus der großen Masse mußte zunächst das heraus¬ genommen werden, was eine mehr oder minder ausgebildete Erzählungskunst verriet, also druckreif war, und aus diesem wieder, was sich durch Neuheit und Bedeutung des Stoffs, Selbständigkeit in seiner Behandlung und der Lebensauffassung überhaupt auszeichnete. Daneben war auch im Auge zu be¬ halten, daß die zu erwerbenden Arbeiten der volkstümlichen Wirkung nicht entbehren durften, das Volk zu fesseln imstande sein mußten, wodurch manche Gattungen unsrer modernen Belletristik, wie z. B. die Backfischgeschichte, von vornherein ausgeschlossen wurden, und die Erzählung mit starken (nur nicht ungesunden) Wirkungen und einem volkserzieherischen Zug (nur nicht einer Tendenz oder nüchterner Lehrhciftigkeit) einen Vorzug vor den feinern, rein poetischen Arbeiten bekam. Das Ergebnis stellte sich darnach ungefähr so: Von 310 Arbeiten waren etwa 30, also reichlich ein Viertel, druckreif, d. h. für Unterhaltungsblütter, die nicht allzu hohe Ansprüche stellen, verwendbar; von diesen 80 war wieder reichlich ein Viertel, nämlich 21 Stück, gut, d. h. durch besondre Vorzüge ausgezeichnet, sei es durch Vorzüge allgemein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/44>, abgerufen am 01.09.2024.