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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

Sinnlichkeit mit wahrer und reiner Empfindung, Größenwahn mit klarer
Erkenntnis der eignen Bedeutung. Conradi fühlte, daß er die Decadence
in sich nicht überwinden werde, und sah sein frühes Ende voraus; daher seine
merkwürdige Neigung zu allen Gescheiterem und Verkommenen in der
Litteratur, zur porllnta, gvnw. Nicht nur Lenz und Kleist, Grabbe und
Büchner, Talente dritten und vierten Ranges dieser Art nahmen sein tiefstes
Interesse in Anspruch; er hat Daniel Lcßmanns "Tagebuch eines schwer¬
mütigen" herausgegeben, gedachte Waiblinger neu bekannt zu machen und
führte über den Dramatiker F. Marlowe (Wolfram), der im Leipziger Gcorgen-
hanse starb, einen längern Briefwechsel mit Adolf Stern, wie mir dieser er¬
zählte. So hat mau ihn einfach für einen kranken Phantasten erklärt, und er
war wohl krank, aber seine Krankheit war vor allem die Krankheit der Zeit,
er war ein Schwelger in großen Worten, aber begeisternngsfähig, stark und
heiß empfindend, er wurde früh ein Komödiant und war doch wieder wahr.
Als Dichter hat er nur dnrch einige schöne lyrische Gedichte und manche
quälende, aber wahre Analhsen verwickelter Seelenstimmungen Bedeutung,
wird aber als Thpns dieses heißringenden, übermütig prahlenden, aber dabei
oft tief unglücklichen Geschlechts in Erinnerung bleibe". Nicht lauge nach
Conradi erschoß sich in Darmstadt ein achtzehnjähriger Ghmnasiast, der sich
als Schriftsteller Hermann Ludwig nannte und auf den Bahnen Couradis kritisch
und produktiv thätig gewesen war.

Aus der ersten Generation der Jüngstdentsche", die um 1885 auftrat,
ist überhaupt nicht viel geworden. Es waren die gährenden, vielfach rettungs¬
los unklaren Elemente, die sich in lyrischem Überschwang äußerten, aber es
später nicht zu größerer und geschlossener Produktiv" brachte". Von deu
zwanzig Dichtern, die zu deu "Modernen Dichtercharaktereu" Beiträge geliefert
habe", ist die Hälfte völlig unbekannt geblieben, und von den übrigen zehn
sind manche jetzt stark in den Hintergrund getreten. Von reifern Dichtern
waren Wildenbruch, Kirchbach und die Gebrüder Hart dabei. Wnnderbarerweise
fehlten Bleibtreu und M. G. Conrad; gerade über ihre dichterische Thätigkeit
muß ich aber jetzt sprechen. Karl Bleibtreu, der Sohn des berühmten Berliner
Schlachtenmalers, ist eine so widerspruchsvolle Erscheinung, daß er für einen
tiefciudringcudeu Litteraturpshchvlvgeu einmal ein "gefundnes Fressen" sein
wird. Voll der gewaltigsten Vorsätze, aber ohne die Kraft, nur eiuen einzigen
groß, ja nur gleichmäßig durchzuführen, mit einer Reihe von wirklichen Talenten
ausgestattet, aber dabei sei" Gut nehmend, wo es zu finden ist (so hat er
z. B. in seinem Drama über Cesare Borgia ^ich entsinne mich des Titels nicht j
ganz einfach die Vankettszene aus Viktor Hugos "Lucrezia Borgia" eingeführt,
auch das Wortspiel "Borgia. Orgia" benutzt), nicht ohne tiefere Einsichten,
aber dann wieder unglaublich konfus, hat er immer eine große Rolle zu
spielen geglaubt, aber nie eine gespielt, und seine sechzig Bände sind fast


Die Alten und die Jungen

Sinnlichkeit mit wahrer und reiner Empfindung, Größenwahn mit klarer
Erkenntnis der eignen Bedeutung. Conradi fühlte, daß er die Decadence
in sich nicht überwinden werde, und sah sein frühes Ende voraus; daher seine
merkwürdige Neigung zu allen Gescheiterem und Verkommenen in der
Litteratur, zur porllnta, gvnw. Nicht nur Lenz und Kleist, Grabbe und
Büchner, Talente dritten und vierten Ranges dieser Art nahmen sein tiefstes
Interesse in Anspruch; er hat Daniel Lcßmanns „Tagebuch eines schwer¬
mütigen" herausgegeben, gedachte Waiblinger neu bekannt zu machen und
führte über den Dramatiker F. Marlowe (Wolfram), der im Leipziger Gcorgen-
hanse starb, einen längern Briefwechsel mit Adolf Stern, wie mir dieser er¬
zählte. So hat mau ihn einfach für einen kranken Phantasten erklärt, und er
war wohl krank, aber seine Krankheit war vor allem die Krankheit der Zeit,
er war ein Schwelger in großen Worten, aber begeisternngsfähig, stark und
heiß empfindend, er wurde früh ein Komödiant und war doch wieder wahr.
Als Dichter hat er nur dnrch einige schöne lyrische Gedichte und manche
quälende, aber wahre Analhsen verwickelter Seelenstimmungen Bedeutung,
wird aber als Thpns dieses heißringenden, übermütig prahlenden, aber dabei
oft tief unglücklichen Geschlechts in Erinnerung bleibe». Nicht lauge nach
Conradi erschoß sich in Darmstadt ein achtzehnjähriger Ghmnasiast, der sich
als Schriftsteller Hermann Ludwig nannte und auf den Bahnen Couradis kritisch
und produktiv thätig gewesen war.

Aus der ersten Generation der Jüngstdentsche», die um 1885 auftrat,
ist überhaupt nicht viel geworden. Es waren die gährenden, vielfach rettungs¬
los unklaren Elemente, die sich in lyrischem Überschwang äußerten, aber es
später nicht zu größerer und geschlossener Produktiv» brachte». Von deu
zwanzig Dichtern, die zu deu „Modernen Dichtercharaktereu" Beiträge geliefert
habe», ist die Hälfte völlig unbekannt geblieben, und von den übrigen zehn
sind manche jetzt stark in den Hintergrund getreten. Von reifern Dichtern
waren Wildenbruch, Kirchbach und die Gebrüder Hart dabei. Wnnderbarerweise
fehlten Bleibtreu und M. G. Conrad; gerade über ihre dichterische Thätigkeit
muß ich aber jetzt sprechen. Karl Bleibtreu, der Sohn des berühmten Berliner
Schlachtenmalers, ist eine so widerspruchsvolle Erscheinung, daß er für einen
tiefciudringcudeu Litteraturpshchvlvgeu einmal ein „gefundnes Fressen" sein
wird. Voll der gewaltigsten Vorsätze, aber ohne die Kraft, nur eiuen einzigen
groß, ja nur gleichmäßig durchzuführen, mit einer Reihe von wirklichen Talenten
ausgestattet, aber dabei sei» Gut nehmend, wo es zu finden ist (so hat er
z. B. in seinem Drama über Cesare Borgia ^ich entsinne mich des Titels nicht j
ganz einfach die Vankettszene aus Viktor Hugos „Lucrezia Borgia" eingeführt,
auch das Wortspiel „Borgia. Orgia" benutzt), nicht ohne tiefere Einsichten,
aber dann wieder unglaublich konfus, hat er immer eine große Rolle zu
spielen geglaubt, aber nie eine gespielt, und seine sechzig Bände sind fast


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[0430] Die Alten und die Jungen Sinnlichkeit mit wahrer und reiner Empfindung, Größenwahn mit klarer Erkenntnis der eignen Bedeutung. Conradi fühlte, daß er die Decadence in sich nicht überwinden werde, und sah sein frühes Ende voraus; daher seine merkwürdige Neigung zu allen Gescheiterem und Verkommenen in der Litteratur, zur porllnta, gvnw. Nicht nur Lenz und Kleist, Grabbe und Büchner, Talente dritten und vierten Ranges dieser Art nahmen sein tiefstes Interesse in Anspruch; er hat Daniel Lcßmanns „Tagebuch eines schwer¬ mütigen" herausgegeben, gedachte Waiblinger neu bekannt zu machen und führte über den Dramatiker F. Marlowe (Wolfram), der im Leipziger Gcorgen- hanse starb, einen längern Briefwechsel mit Adolf Stern, wie mir dieser er¬ zählte. So hat mau ihn einfach für einen kranken Phantasten erklärt, und er war wohl krank, aber seine Krankheit war vor allem die Krankheit der Zeit, er war ein Schwelger in großen Worten, aber begeisternngsfähig, stark und heiß empfindend, er wurde früh ein Komödiant und war doch wieder wahr. Als Dichter hat er nur dnrch einige schöne lyrische Gedichte und manche quälende, aber wahre Analhsen verwickelter Seelenstimmungen Bedeutung, wird aber als Thpns dieses heißringenden, übermütig prahlenden, aber dabei oft tief unglücklichen Geschlechts in Erinnerung bleibe». Nicht lauge nach Conradi erschoß sich in Darmstadt ein achtzehnjähriger Ghmnasiast, der sich als Schriftsteller Hermann Ludwig nannte und auf den Bahnen Couradis kritisch und produktiv thätig gewesen war. Aus der ersten Generation der Jüngstdentsche», die um 1885 auftrat, ist überhaupt nicht viel geworden. Es waren die gährenden, vielfach rettungs¬ los unklaren Elemente, die sich in lyrischem Überschwang äußerten, aber es später nicht zu größerer und geschlossener Produktiv» brachte». Von deu zwanzig Dichtern, die zu deu „Modernen Dichtercharaktereu" Beiträge geliefert habe», ist die Hälfte völlig unbekannt geblieben, und von den übrigen zehn sind manche jetzt stark in den Hintergrund getreten. Von reifern Dichtern waren Wildenbruch, Kirchbach und die Gebrüder Hart dabei. Wnnderbarerweise fehlten Bleibtreu und M. G. Conrad; gerade über ihre dichterische Thätigkeit muß ich aber jetzt sprechen. Karl Bleibtreu, der Sohn des berühmten Berliner Schlachtenmalers, ist eine so widerspruchsvolle Erscheinung, daß er für einen tiefciudringcudeu Litteraturpshchvlvgeu einmal ein „gefundnes Fressen" sein wird. Voll der gewaltigsten Vorsätze, aber ohne die Kraft, nur eiuen einzigen groß, ja nur gleichmäßig durchzuführen, mit einer Reihe von wirklichen Talenten ausgestattet, aber dabei sei» Gut nehmend, wo es zu finden ist (so hat er z. B. in seinem Drama über Cesare Borgia ^ich entsinne mich des Titels nicht j ganz einfach die Vankettszene aus Viktor Hugos „Lucrezia Borgia" eingeführt, auch das Wortspiel „Borgia. Orgia" benutzt), nicht ohne tiefere Einsichten, aber dann wieder unglaublich konfus, hat er immer eine große Rolle zu spielen geglaubt, aber nie eine gespielt, und seine sechzig Bände sind fast

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/430>, abgerufen am 01.09.2024.