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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

gemacht und viel mit zum Ausbruch des eigentlichen Sturms und Drangs
beigetragen.

Schon vor diesen modernen Franzosen waren die Norweger in Deutsch¬
land eingedrungen, zuerst Björnson, dann Ibsen. Noch Heinrich Laube hatte
sie freundlich begrüßt, wahrscheinlich von ihrer französischen Technik angezogen.
Vjörnsons "Fallissement" wurde schon Anfang der siebziger Jahre sogar in
deutschen Kleinstädter aufgeführt und ist eine meiner Jugenderinnerungen,
seine Bauernovellen erregten nicht viel später das Entzücken weiter Kreise;
Ibsens Dramen waren doch um 1880 herum schon bei Reclam und wurden
verschlungen, nachdem die Berliner Aufführungen der "Stützen der Gesellschaft"
und später der "Nora" die nötige Reklame gemacht hatten. Von den Russen
war Turgenjew ja schon seit den sechziger Jahren in Deutschland, wo er lange
lebte und Freunde hatte, bekannt; in den siebziger Jahren hat noch Julian
Schmidt in Westermanns Monatsheften ausführlich über ihn geschrieben. Er
lag, von westeuropäischem Geiste genährt, wie er war, unsrer deutschen Ent¬
wicklung ja auch nicht fern, ihm konnten wir ruhig unsern Storni, Heyse
und Keller an die Seite setzen, wenn auch der fremdartige Reiz des Russen
immer bestehen blieb. Dagegen mußten Tolstoi und Dostojewskh zunächst
neu und verblüffend auf die Deutschen wirken, zugleich aber unheimlich an¬
ziehend, und das Erscheinen von Dostojewskis "Schuld und Sühne" (Ras-
kolnikow) in der deutschen Übersetzung von Wilhelm Henckell (1882, 2. Auflage
1886) ist denn auch ein Ereignis, das in der Geschichte des jüngsten Deutschlands
nicht vergessen werden darf.

Was war es nun, das die deutsche Jugend, und nicht nur sie, sondern
alle Litteratnrfreuude, die echten wie die unechten, die bloß Neugierigen und
die Modelente, zu den fremden Litteraturen zog? Wieder nur die unheilvolle
deutsche Sucht, das Fremde anzubeten und nachzuahmen? Sie hat gewiß
mitgespielt, wie andrerseits auch der deutsche Hochmut, der da zu sagen liebt:
"Nein, Gott sei Dank, so was haben wir bei uns nicht," aber ausschlaggebend
ist sie nicht gewesen, und für die geschichtliche Betrachtung kommt sie kaum
in Betracht. Ich muß nun zwar gestehen, daß ich der Überzeugung bin, daß
wir alle Vorzüge, die die fremden Litteraturen vor der gleichzeitigen deutschen
aufwiesen, auch auf den Wege normaler Entwicklung von innen heraus hätten
erreichen können, ja ich halte sogar dafür, daß die besten Werke der Fremden
künstlerisch unter den ältern deutschen der verwandten Richtungen stehen,
daß weder die Franzosen noch die Norweger noch die Russen Werke wie
Hebbels "Maria Magdcilena," Ludwigs "Erbförster" und "Zwischen Himmel
und Erde" und eine Lebensarbeit wie die Jeremicis Gotthelfs besitzen; aber
das alles hindert mich nicht, das Versenken der Deutschen in die fremden Werke
um 1880 herum natürlich und berechtigt zu finden. Man sieht bekanntlich
besser im fremden wie im eignen Hause, und es ist vielleicht ein Gesetz der


Die Alten und die Jungen

gemacht und viel mit zum Ausbruch des eigentlichen Sturms und Drangs
beigetragen.

Schon vor diesen modernen Franzosen waren die Norweger in Deutsch¬
land eingedrungen, zuerst Björnson, dann Ibsen. Noch Heinrich Laube hatte
sie freundlich begrüßt, wahrscheinlich von ihrer französischen Technik angezogen.
Vjörnsons „Fallissement" wurde schon Anfang der siebziger Jahre sogar in
deutschen Kleinstädter aufgeführt und ist eine meiner Jugenderinnerungen,
seine Bauernovellen erregten nicht viel später das Entzücken weiter Kreise;
Ibsens Dramen waren doch um 1880 herum schon bei Reclam und wurden
verschlungen, nachdem die Berliner Aufführungen der „Stützen der Gesellschaft"
und später der „Nora" die nötige Reklame gemacht hatten. Von den Russen
war Turgenjew ja schon seit den sechziger Jahren in Deutschland, wo er lange
lebte und Freunde hatte, bekannt; in den siebziger Jahren hat noch Julian
Schmidt in Westermanns Monatsheften ausführlich über ihn geschrieben. Er
lag, von westeuropäischem Geiste genährt, wie er war, unsrer deutschen Ent¬
wicklung ja auch nicht fern, ihm konnten wir ruhig unsern Storni, Heyse
und Keller an die Seite setzen, wenn auch der fremdartige Reiz des Russen
immer bestehen blieb. Dagegen mußten Tolstoi und Dostojewskh zunächst
neu und verblüffend auf die Deutschen wirken, zugleich aber unheimlich an¬
ziehend, und das Erscheinen von Dostojewskis „Schuld und Sühne" (Ras-
kolnikow) in der deutschen Übersetzung von Wilhelm Henckell (1882, 2. Auflage
1886) ist denn auch ein Ereignis, das in der Geschichte des jüngsten Deutschlands
nicht vergessen werden darf.

Was war es nun, das die deutsche Jugend, und nicht nur sie, sondern
alle Litteratnrfreuude, die echten wie die unechten, die bloß Neugierigen und
die Modelente, zu den fremden Litteraturen zog? Wieder nur die unheilvolle
deutsche Sucht, das Fremde anzubeten und nachzuahmen? Sie hat gewiß
mitgespielt, wie andrerseits auch der deutsche Hochmut, der da zu sagen liebt:
„Nein, Gott sei Dank, so was haben wir bei uns nicht," aber ausschlaggebend
ist sie nicht gewesen, und für die geschichtliche Betrachtung kommt sie kaum
in Betracht. Ich muß nun zwar gestehen, daß ich der Überzeugung bin, daß
wir alle Vorzüge, die die fremden Litteraturen vor der gleichzeitigen deutschen
aufwiesen, auch auf den Wege normaler Entwicklung von innen heraus hätten
erreichen können, ja ich halte sogar dafür, daß die besten Werke der Fremden
künstlerisch unter den ältern deutschen der verwandten Richtungen stehen,
daß weder die Franzosen noch die Norweger noch die Russen Werke wie
Hebbels „Maria Magdcilena," Ludwigs „Erbförster" und „Zwischen Himmel
und Erde" und eine Lebensarbeit wie die Jeremicis Gotthelfs besitzen; aber
das alles hindert mich nicht, das Versenken der Deutschen in die fremden Werke
um 1880 herum natürlich und berechtigt zu finden. Man sieht bekanntlich
besser im fremden wie im eignen Hause, und es ist vielleicht ein Gesetz der


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[0420] Die Alten und die Jungen gemacht und viel mit zum Ausbruch des eigentlichen Sturms und Drangs beigetragen. Schon vor diesen modernen Franzosen waren die Norweger in Deutsch¬ land eingedrungen, zuerst Björnson, dann Ibsen. Noch Heinrich Laube hatte sie freundlich begrüßt, wahrscheinlich von ihrer französischen Technik angezogen. Vjörnsons „Fallissement" wurde schon Anfang der siebziger Jahre sogar in deutschen Kleinstädter aufgeführt und ist eine meiner Jugenderinnerungen, seine Bauernovellen erregten nicht viel später das Entzücken weiter Kreise; Ibsens Dramen waren doch um 1880 herum schon bei Reclam und wurden verschlungen, nachdem die Berliner Aufführungen der „Stützen der Gesellschaft" und später der „Nora" die nötige Reklame gemacht hatten. Von den Russen war Turgenjew ja schon seit den sechziger Jahren in Deutschland, wo er lange lebte und Freunde hatte, bekannt; in den siebziger Jahren hat noch Julian Schmidt in Westermanns Monatsheften ausführlich über ihn geschrieben. Er lag, von westeuropäischem Geiste genährt, wie er war, unsrer deutschen Ent¬ wicklung ja auch nicht fern, ihm konnten wir ruhig unsern Storni, Heyse und Keller an die Seite setzen, wenn auch der fremdartige Reiz des Russen immer bestehen blieb. Dagegen mußten Tolstoi und Dostojewskh zunächst neu und verblüffend auf die Deutschen wirken, zugleich aber unheimlich an¬ ziehend, und das Erscheinen von Dostojewskis „Schuld und Sühne" (Ras- kolnikow) in der deutschen Übersetzung von Wilhelm Henckell (1882, 2. Auflage 1886) ist denn auch ein Ereignis, das in der Geschichte des jüngsten Deutschlands nicht vergessen werden darf. Was war es nun, das die deutsche Jugend, und nicht nur sie, sondern alle Litteratnrfreuude, die echten wie die unechten, die bloß Neugierigen und die Modelente, zu den fremden Litteraturen zog? Wieder nur die unheilvolle deutsche Sucht, das Fremde anzubeten und nachzuahmen? Sie hat gewiß mitgespielt, wie andrerseits auch der deutsche Hochmut, der da zu sagen liebt: „Nein, Gott sei Dank, so was haben wir bei uns nicht," aber ausschlaggebend ist sie nicht gewesen, und für die geschichtliche Betrachtung kommt sie kaum in Betracht. Ich muß nun zwar gestehen, daß ich der Überzeugung bin, daß wir alle Vorzüge, die die fremden Litteraturen vor der gleichzeitigen deutschen aufwiesen, auch auf den Wege normaler Entwicklung von innen heraus hätten erreichen können, ja ich halte sogar dafür, daß die besten Werke der Fremden künstlerisch unter den ältern deutschen der verwandten Richtungen stehen, daß weder die Franzosen noch die Norweger noch die Russen Werke wie Hebbels „Maria Magdcilena," Ludwigs „Erbförster" und „Zwischen Himmel und Erde" und eine Lebensarbeit wie die Jeremicis Gotthelfs besitzen; aber das alles hindert mich nicht, das Versenken der Deutschen in die fremden Werke um 1880 herum natürlich und berechtigt zu finden. Man sieht bekanntlich besser im fremden wie im eignen Hause, und es ist vielleicht ein Gesetz der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/420>, abgerufen am 01.09.2024.