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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

burschentum auftreten, ja das blcisirte Wesen mußte naturgemäß in ein Natur-
burschentum umschlagen, wie es Detlev von Liliencron zeigt, der dem Alter nach
zu diesen Poeten gehört, freilich mit dieser Bemerkung nicht abgethan ist.
Decadencelyriker sind endlich im ganzen auch die Gebrüder^ Hart, die als
Kritiker ja die neue Zeit einleiten, und manche andre Jüngstdeutsche.

Noch aber habe ich mir das vortrefflichste Exemplar eines Decadencc-
menschen und -dichters, die Krone der Decadence sozusagen, aufgespart, näm¬
lich Richard Voß, der von seinen ersten Veröffentlichungen, den "Nachtgedanken"
und den "Scherben, gesammelt von einem müden Mann" an eigentlich weiter
nichts gethan hat, als die einzelnen Stadien der -- Verwesung, hätte ich bald
gesagt, zu verkörpern. Nein, so schlimm ist es doch nicht, aber Voß hat bis
auf diesen Tag kein Werk geschrieben, das auch nur eine gesunde Faser hätte,
und was das Schrecklichste ist, die Züge wahren Leidens, die bei ihm unver¬
kennbar sind, vermischen sich mit dem äußersten Raffinement und wieder mit
der allergewöhnlichsten Effekthascherei, sodaß man sich bei aller Anerkennung
einer gewissen Begabung des Dichters zugleich gequält, angeekelt und erbittert
sühlt. Ich wüßte keine einzige Erscheinung der ganzen Weltlitteratur zu nennen,
die so unangenehm wirkte wie Richard Voß.

Damit kann ich die Schilderung der Decadcncelitteratur abschließen.
Er versteht sich von selbst, daß nicht alle um das Jahr 1880 herum thätigen
Talente von der Decadence ergriffen waren, wie ich überhaupt den Begriff
Decadence keineswegs als den einzigen, der auf die neuere Litteratur anzuwenden
wäre, angesehen wissen will. Seine Anwendung zeigt, wie die aller dieser
allgemeinen Begriffe, eben auch nur eine Seite der Dinge. Daß Dichter wie
Keller und Storm, oder um einige weniger berühmte zu nennen, F. Th. Bischer,
der 1879 den humoristischen Roman "Auch Einer" herausgab, wie W. H. Nicht,
der 1881 neue Novellen veröffentlichte, wie Adolf Stern, der um diese Zeit
die beiden Romane "Die letzten Humanisten" und "Ohne Ideale" schrieb, dem
Kern ihres Wesens nach gesund waren und blieben, bedarf keiner Versicherung.
Aber sie merkten auch, daß eine neue Zeit gekommen sei, das alte Deutschland
zu Grunde gegangen und das neue noch nicht geboren sei; daher, wenn auch kein
Verzweifeln an der Zukunft des Volkes, doch ein Hauch der Resignation über
allen ihren Werken. Nur in Wilhelm Jordans beiden sehr merkwürdigen Ro¬
manen "Die Sebalds" und "Zwei Wiegen" merkt man nichts davon; sie fallen
aber etwas später, schon in die Übergangszeit. Zu Beginn der achtziger
Jahre kamen dann zu den Dceadeneefreien alten auch uoch einige neue gesunde
Talente oder traten mehr in den Vordergrund, so Hans Herrig, der Dramatiker,
der damals sein Lutherfestspiel schrieb und von einer deutscheu Volksbühne
träumte, so Hans Hoffmann, der Erzähler, so Ferdinand Avenarius, der wenige
Jahre später den "Kunstwart" gründete -- sie alle konnten die Decadence zu¬
nächst nnr in sich selbst überwinden. Wäre damals aber auch der größte


Die Alten und die Jungen

burschentum auftreten, ja das blcisirte Wesen mußte naturgemäß in ein Natur-
burschentum umschlagen, wie es Detlev von Liliencron zeigt, der dem Alter nach
zu diesen Poeten gehört, freilich mit dieser Bemerkung nicht abgethan ist.
Decadencelyriker sind endlich im ganzen auch die Gebrüder^ Hart, die als
Kritiker ja die neue Zeit einleiten, und manche andre Jüngstdeutsche.

Noch aber habe ich mir das vortrefflichste Exemplar eines Decadencc-
menschen und -dichters, die Krone der Decadence sozusagen, aufgespart, näm¬
lich Richard Voß, der von seinen ersten Veröffentlichungen, den „Nachtgedanken"
und den „Scherben, gesammelt von einem müden Mann" an eigentlich weiter
nichts gethan hat, als die einzelnen Stadien der — Verwesung, hätte ich bald
gesagt, zu verkörpern. Nein, so schlimm ist es doch nicht, aber Voß hat bis
auf diesen Tag kein Werk geschrieben, das auch nur eine gesunde Faser hätte,
und was das Schrecklichste ist, die Züge wahren Leidens, die bei ihm unver¬
kennbar sind, vermischen sich mit dem äußersten Raffinement und wieder mit
der allergewöhnlichsten Effekthascherei, sodaß man sich bei aller Anerkennung
einer gewissen Begabung des Dichters zugleich gequält, angeekelt und erbittert
sühlt. Ich wüßte keine einzige Erscheinung der ganzen Weltlitteratur zu nennen,
die so unangenehm wirkte wie Richard Voß.

Damit kann ich die Schilderung der Decadcncelitteratur abschließen.
Er versteht sich von selbst, daß nicht alle um das Jahr 1880 herum thätigen
Talente von der Decadence ergriffen waren, wie ich überhaupt den Begriff
Decadence keineswegs als den einzigen, der auf die neuere Litteratur anzuwenden
wäre, angesehen wissen will. Seine Anwendung zeigt, wie die aller dieser
allgemeinen Begriffe, eben auch nur eine Seite der Dinge. Daß Dichter wie
Keller und Storm, oder um einige weniger berühmte zu nennen, F. Th. Bischer,
der 1879 den humoristischen Roman „Auch Einer" herausgab, wie W. H. Nicht,
der 1881 neue Novellen veröffentlichte, wie Adolf Stern, der um diese Zeit
die beiden Romane „Die letzten Humanisten" und „Ohne Ideale" schrieb, dem
Kern ihres Wesens nach gesund waren und blieben, bedarf keiner Versicherung.
Aber sie merkten auch, daß eine neue Zeit gekommen sei, das alte Deutschland
zu Grunde gegangen und das neue noch nicht geboren sei; daher, wenn auch kein
Verzweifeln an der Zukunft des Volkes, doch ein Hauch der Resignation über
allen ihren Werken. Nur in Wilhelm Jordans beiden sehr merkwürdigen Ro¬
manen „Die Sebalds" und „Zwei Wiegen" merkt man nichts davon; sie fallen
aber etwas später, schon in die Übergangszeit. Zu Beginn der achtziger
Jahre kamen dann zu den Dceadeneefreien alten auch uoch einige neue gesunde
Talente oder traten mehr in den Vordergrund, so Hans Herrig, der Dramatiker,
der damals sein Lutherfestspiel schrieb und von einer deutscheu Volksbühne
träumte, so Hans Hoffmann, der Erzähler, so Ferdinand Avenarius, der wenige
Jahre später den „Kunstwart" gründete — sie alle konnten die Decadence zu¬
nächst nnr in sich selbst überwinden. Wäre damals aber auch der größte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/382>, abgerufen am 01.09.2024.