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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

Gehaben freien Sinn und Schönheitssinn walten ließen, statt diese Dinge mit
einer Gedankenlosigkeit zu behandeln, die endlich gegen jegliche Zerstörung und
allen Verfall des Schönen und Ehrwürdigen rings um uns her stumpf
machen muß.




Die Alten und die Jungen
Lin Beitrag zur deutschen Litteraturgeschichte der Gegenwart
Adolf Barrels von(Fortsetzung)
7

in Gemälde der sogenannten Gründerzeit an dieser Stelle zu
geben, wird man mir erlassen. Die meisten von uns haben
sie noch mit erlebt und werden die scharfen Worte, mit denen
sie zum Beispiel Adolf Stern charakterisirt: Wühler Genu߬
taumel, sittliche Verlotterung, Lüsternheit und Gemütsroheit,
materieller Dünkel, niedrige Geldanbetung gewiß unterschreiben. Ich war in
jenen Tagen ein Knabe von zehn Jahren und lebte in einer kleinen holstei¬
nischen Stadt, aber auch mir ist, so jung ich selber und so weltfern mein
Geburtsort war, allerlei im Gedächtnis geblieben, was zeigt, daß die Zeit¬
krankheit auch in den entlegensten Winkeln des Reiches wirkte. Dennoch wäre
es falsch, eine plötzliche Erkrankung des ganzen Volkes anzunehmen, wenn
auch weite Kreise von einer Art Rausch ergriffen waren. Die Decadence
war schon vor dem Kriege da; jetzt trat sie in abschreckender Weise zu Tage,
aber doch namentlich in einer Gesellschaftsschicht, in der, die ich als die mo¬
derne Gesellschaft bezeichnet habe, und die wesentlich in den Großstädten zu
finden war, dort aber anch im Vordergrunde stand und im Ganzen mit dem
Schlagwort "Bildungspöbel" abzuthun ist. Die Schichten, die die eigentlichen
Träger unsrer nationalen Kultur und Sitte waren, wurden von der Krank¬
heit nicht in dem Maße befallen, daß eine allgemeine Zersetzung eingetreten
wäre, wenn auch die Epidemie alle Stunde und nicht bloß das internationale
Gesindel ergriff. So war es denn noch möglich, die Krankheit zu unter¬
drücken, doch gelang es nicht, das Gift aus dem Volkskörper zu entfernen,
es fraß weiter und schwächte den Organismus immer mehr; die Decadence
dauerte trotz jenes Ausbruchs fort und erreichte erst eine Reihe von Jahren


Die Alten und die Jungen

Gehaben freien Sinn und Schönheitssinn walten ließen, statt diese Dinge mit
einer Gedankenlosigkeit zu behandeln, die endlich gegen jegliche Zerstörung und
allen Verfall des Schönen und Ehrwürdigen rings um uns her stumpf
machen muß.




Die Alten und die Jungen
Lin Beitrag zur deutschen Litteraturgeschichte der Gegenwart
Adolf Barrels von(Fortsetzung)
7

in Gemälde der sogenannten Gründerzeit an dieser Stelle zu
geben, wird man mir erlassen. Die meisten von uns haben
sie noch mit erlebt und werden die scharfen Worte, mit denen
sie zum Beispiel Adolf Stern charakterisirt: Wühler Genu߬
taumel, sittliche Verlotterung, Lüsternheit und Gemütsroheit,
materieller Dünkel, niedrige Geldanbetung gewiß unterschreiben. Ich war in
jenen Tagen ein Knabe von zehn Jahren und lebte in einer kleinen holstei¬
nischen Stadt, aber auch mir ist, so jung ich selber und so weltfern mein
Geburtsort war, allerlei im Gedächtnis geblieben, was zeigt, daß die Zeit¬
krankheit auch in den entlegensten Winkeln des Reiches wirkte. Dennoch wäre
es falsch, eine plötzliche Erkrankung des ganzen Volkes anzunehmen, wenn
auch weite Kreise von einer Art Rausch ergriffen waren. Die Decadence
war schon vor dem Kriege da; jetzt trat sie in abschreckender Weise zu Tage,
aber doch namentlich in einer Gesellschaftsschicht, in der, die ich als die mo¬
derne Gesellschaft bezeichnet habe, und die wesentlich in den Großstädten zu
finden war, dort aber anch im Vordergrunde stand und im Ganzen mit dem
Schlagwort „Bildungspöbel" abzuthun ist. Die Schichten, die die eigentlichen
Träger unsrer nationalen Kultur und Sitte waren, wurden von der Krank¬
heit nicht in dem Maße befallen, daß eine allgemeine Zersetzung eingetreten
wäre, wenn auch die Epidemie alle Stunde und nicht bloß das internationale
Gesindel ergriff. So war es denn noch möglich, die Krankheit zu unter¬
drücken, doch gelang es nicht, das Gift aus dem Volkskörper zu entfernen,
es fraß weiter und schwächte den Organismus immer mehr; die Decadence
dauerte trotz jenes Ausbruchs fort und erreichte erst eine Reihe von Jahren


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[0372] Die Alten und die Jungen Gehaben freien Sinn und Schönheitssinn walten ließen, statt diese Dinge mit einer Gedankenlosigkeit zu behandeln, die endlich gegen jegliche Zerstörung und allen Verfall des Schönen und Ehrwürdigen rings um uns her stumpf machen muß. Die Alten und die Jungen Lin Beitrag zur deutschen Litteraturgeschichte der Gegenwart Adolf Barrels von(Fortsetzung) 7 in Gemälde der sogenannten Gründerzeit an dieser Stelle zu geben, wird man mir erlassen. Die meisten von uns haben sie noch mit erlebt und werden die scharfen Worte, mit denen sie zum Beispiel Adolf Stern charakterisirt: Wühler Genu߬ taumel, sittliche Verlotterung, Lüsternheit und Gemütsroheit, materieller Dünkel, niedrige Geldanbetung gewiß unterschreiben. Ich war in jenen Tagen ein Knabe von zehn Jahren und lebte in einer kleinen holstei¬ nischen Stadt, aber auch mir ist, so jung ich selber und so weltfern mein Geburtsort war, allerlei im Gedächtnis geblieben, was zeigt, daß die Zeit¬ krankheit auch in den entlegensten Winkeln des Reiches wirkte. Dennoch wäre es falsch, eine plötzliche Erkrankung des ganzen Volkes anzunehmen, wenn auch weite Kreise von einer Art Rausch ergriffen waren. Die Decadence war schon vor dem Kriege da; jetzt trat sie in abschreckender Weise zu Tage, aber doch namentlich in einer Gesellschaftsschicht, in der, die ich als die mo¬ derne Gesellschaft bezeichnet habe, und die wesentlich in den Großstädten zu finden war, dort aber anch im Vordergrunde stand und im Ganzen mit dem Schlagwort „Bildungspöbel" abzuthun ist. Die Schichten, die die eigentlichen Träger unsrer nationalen Kultur und Sitte waren, wurden von der Krank¬ heit nicht in dem Maße befallen, daß eine allgemeine Zersetzung eingetreten wäre, wenn auch die Epidemie alle Stunde und nicht bloß das internationale Gesindel ergriff. So war es denn noch möglich, die Krankheit zu unter¬ drücken, doch gelang es nicht, das Gift aus dem Volkskörper zu entfernen, es fraß weiter und schwächte den Organismus immer mehr; die Decadence dauerte trotz jenes Ausbruchs fort und erreichte erst eine Reihe von Jahren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/372>, abgerufen am 25.11.2024.