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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alte" und die Jungen

den freien, wenn man seine dramatische Thätigkeit deshalb auch noch nicht,
wie es geschehen ist, mit der Shakespeares zu vergleichen und ihm ebensowenig
die Vollendung dessen, was Hebbel und Otto Ludwig mit "Maria Magdalena"
und dem "Erbförster" begonnen hatten, zuzuschreiben braucht. Kommt Anzen-
gruber diesen beiden weder als künstlerischer Genius noch als Persönlichkeit
gleich, so überragt er doch alle, die mit ihm auf demselben Gebiete thätig ge¬
wesen sind, selbst Jeremias Gotthelf, den Keller das größte epische Talent
seiner Zeit nannte; denn er hat sich nach und nach über die Tendenz, wenigstens
die unmittelbare erhoben, die bei dem durchaus praktischen Gotthelf immer den
roten Faden und sehr oft viel mehr als das abgab, und als Dramatiker war
er ja schon von vornherein zu einer geschlosseneren Form gezwungen als der
Schweizer Romanschriftsteller. Wenn man will, kann man Gotthelf und
Auzeugruber die beiden größen Naturalisten unsrer Litteratur nennen -- unsre
modernen Naturalisten würden bei einem Vergleich mit ihnen schlecht weg¬
kommen trotz ihrer ausgebildeten Technik und ihrer "Konsequenz." Anzengruber
hat auch etwas wie ein Programm des Naturalismus, den er freilich bloß
Realismus nannte, gegeben, in der Vorrede zu seinen "Dorfgängern."
Zum Unterschied von dem modernen konsequenten würde ich seinen (und
auch Gotthelfs) Naturalismus den poetischen nennen; denn hier ist noch das
dichterische "Temperament" alles und die Methode nichts, weswegen man denn
auch Anzengruber gegenüber mit der "alten" Ästhetik recht wohl auskommt,
z. B. die Begriffe Tragödie und Komödie sehr gut auf seine Dramen anwenden
kann. Sie sind von ungleichem Wert, aber die besten von ihnen erheben
sich weit über das, was man als "Volksstück" bezeichnet und schon vor
1870 in Wien und München pflegte, sie wachsen unbedingt in die "hohe"
Litteratur hinein. Auch Anzengrubers erzählende Schriften können auf dem
Gebiete der Dorfgeschichte, wenn wir diesen Namen festhalten wollen, eine
besondre, überragende Stellung beanspruchen; man findet in ihnen nicht bloß
die genaue Wiedergabe dessen, was wir jetzt das "Milieu" nennen, sondern
auch, wie z. V. in dem 1885 erschienenen "Sternsteinhof" die psychologische
Schärfe und Unerbittlichkeit, die das junge Geschlecht damals von Russen,
Norwegern und Franzosen lernen zu müssen glaubte. Endlich hat Anzengruber
auch das moderne Sozialgefühl. Wenn einer von Anzengrubers Bewunderern
sagt, daß er uns in seinen Werken ein Weltbild hinterlassen habe, wie es tiefer
und ergreifender noch von keinem Dichter geschaffen worden sei, so ist das
sicherlich übertrieben, aber völlig falsch ist es, Anzengruber als gewöhnlichen
volkstümlichen Tendenzdichter aufzufassen; er ist zweifellos einer der größten
Menschendarsteller unsrer Zeit und um so mehr zu schätzen, als er nicht von
oben herab für das Volk, sondern aus dem Volke herausschuf. Die robuste
Kraft Jeremias Gotthelfs und dessen starke Hoffnung hatte er nicht, er wußte,


Grenzboten III 1396 41
Die Alte» und die Jungen

den freien, wenn man seine dramatische Thätigkeit deshalb auch noch nicht,
wie es geschehen ist, mit der Shakespeares zu vergleichen und ihm ebensowenig
die Vollendung dessen, was Hebbel und Otto Ludwig mit „Maria Magdalena"
und dem „Erbförster" begonnen hatten, zuzuschreiben braucht. Kommt Anzen-
gruber diesen beiden weder als künstlerischer Genius noch als Persönlichkeit
gleich, so überragt er doch alle, die mit ihm auf demselben Gebiete thätig ge¬
wesen sind, selbst Jeremias Gotthelf, den Keller das größte epische Talent
seiner Zeit nannte; denn er hat sich nach und nach über die Tendenz, wenigstens
die unmittelbare erhoben, die bei dem durchaus praktischen Gotthelf immer den
roten Faden und sehr oft viel mehr als das abgab, und als Dramatiker war
er ja schon von vornherein zu einer geschlosseneren Form gezwungen als der
Schweizer Romanschriftsteller. Wenn man will, kann man Gotthelf und
Auzeugruber die beiden größen Naturalisten unsrer Litteratur nennen — unsre
modernen Naturalisten würden bei einem Vergleich mit ihnen schlecht weg¬
kommen trotz ihrer ausgebildeten Technik und ihrer „Konsequenz." Anzengruber
hat auch etwas wie ein Programm des Naturalismus, den er freilich bloß
Realismus nannte, gegeben, in der Vorrede zu seinen „Dorfgängern."
Zum Unterschied von dem modernen konsequenten würde ich seinen (und
auch Gotthelfs) Naturalismus den poetischen nennen; denn hier ist noch das
dichterische „Temperament" alles und die Methode nichts, weswegen man denn
auch Anzengruber gegenüber mit der „alten" Ästhetik recht wohl auskommt,
z. B. die Begriffe Tragödie und Komödie sehr gut auf seine Dramen anwenden
kann. Sie sind von ungleichem Wert, aber die besten von ihnen erheben
sich weit über das, was man als „Volksstück" bezeichnet und schon vor
1870 in Wien und München pflegte, sie wachsen unbedingt in die „hohe"
Litteratur hinein. Auch Anzengrubers erzählende Schriften können auf dem
Gebiete der Dorfgeschichte, wenn wir diesen Namen festhalten wollen, eine
besondre, überragende Stellung beanspruchen; man findet in ihnen nicht bloß
die genaue Wiedergabe dessen, was wir jetzt das „Milieu" nennen, sondern
auch, wie z. V. in dem 1885 erschienenen „Sternsteinhof" die psychologische
Schärfe und Unerbittlichkeit, die das junge Geschlecht damals von Russen,
Norwegern und Franzosen lernen zu müssen glaubte. Endlich hat Anzengruber
auch das moderne Sozialgefühl. Wenn einer von Anzengrubers Bewunderern
sagt, daß er uns in seinen Werken ein Weltbild hinterlassen habe, wie es tiefer
und ergreifender noch von keinem Dichter geschaffen worden sei, so ist das
sicherlich übertrieben, aber völlig falsch ist es, Anzengruber als gewöhnlichen
volkstümlichen Tendenzdichter aufzufassen; er ist zweifellos einer der größten
Menschendarsteller unsrer Zeit und um so mehr zu schätzen, als er nicht von
oben herab für das Volk, sondern aus dem Volke herausschuf. Die robuste
Kraft Jeremias Gotthelfs und dessen starke Hoffnung hatte er nicht, er wußte,


Grenzboten III 1396 41
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/329>, abgerufen am 25.11.2024.