Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Alten und die Jungen

lyrik von 1870 ist im ganzen unbedeutend -- obwohl sie immerhin ihren
Zweck erfüllte --, aber was hätte die herrschende akademische und Deeademe-
Poesie andres hervorbringen sollen? Übrigens hinderte, wie Riese in einem
seiner Vorträge gezeigt hat, auch eine Reihe äußerer Gründe die Entfaltung
der Kriegsdichtuug, vor allem die rasche Folge der Ereignisse. Will man den
Vergleich mit der Lyrik der Befreiungskriege gerecht durchführen, so muß man
auch die nationale Dichtung, die den Krieg und die Einigung vorbereitete,
heranziehen, die Geibelsche in ihrer Gesamtheit, Storms wunderbare Strophen
nach 1848 usw.; dann erhält man auf alle Fälle einen achtunggebietenden
Eindruck. Wenn ferner nicht gleich nach 1870 die neuen großen dentschen
Dichter kamen, so ist das auch kein Wunder; eben da der nationale Gehalt
gleichsam! vorweggenommen war, konnten die etwa vorhandnen jüngern Talente
uicht sofort neues bringen, es mußte erst eine neue große geistige Bewegung
kommen und die Seelen aufrütteln, und das war die soziale. Litzmann redet
von den unzähligen befruchtenden Samenkörnern für die Phantasie, die ein
großer Krieg mit sich bringt, und meint, wenn irgendwann, so sei damals
der Augenblick gekommen gewesen für ein deutsches Heldenlied. Aber selbst
die Befreiungskriege haben keins gezeitigt, obwohl der Sturz Napoleons I.
doch gewiß ein viel gewaltigeres Schauspiel war als der Napoleons III., und
die Befreiung von der Fremdherrschaft die Gemüter sicher tiefer ergriff als
die Einigung der deutschen Stämme. Es ist überhaupt eine eigne Sache um
die Einwirkung der Kriege auf die Phantasie der Dichter, und das Heldenlied,
das alte "objektive" Epos will in unsrer Zeit gar nicht mehr gedeihen, was
man ästhetisch auch recht wohl begreifen kann.

Manche ältere und jüngere Dichter haben wenigstens versucht, auf dem
Boden des Reichs größere Zeitbilder, als wir sie bis dahin hatten, zu schaffen;
trotz aller Decadence und dem immer mehr überhandnehmenden Konventionalis¬
mus kann man bei ihnen etwas wie ein energisches Sichzusammennehmen be¬
merken. Ich gebe Litzmann zu, daß weder Freytags "Ahnen" noch Spielhagens
neue Romane Werke großartiger Prägung sind, aber die Idee der "Ahnen"
kann man sich schon gefallen lassen, und Spielhagens "Sturmflut" ist trotz
seiner Schwächen ein wirklich aus der Zeit herausgeborner Roman. Auch
Heyses "Kinder der Welt" kann man von einem bestimmten Gesichtspunkt aus
und gegen das frühere Schaffen des Dichters gehalten loben, der Roman zeigt
wenigstens den ernsten Willen des Dichters, ein Zeitproblem zu gestalten. Selbst
die Idee des nationalen modernen Epos wurde damals gefaßt, und zwar von
Julius Grosse, dessen "Volkramslied" dann freilich erst 1889 erschien. Im
ganzen ist allerdings, wenn man die herrschenden Strömungen, die führenden
Geister im Auge hat, der Anblick der Zeit trostlos, trotzdem daß Keller nun
wieder hervortritt, Storm und Raabe ihr bestes leisten, und selbst wieder einige
Dichter auftreten, die man als Iioiniiuzs sui Asusris bezeichnen muß. Charakte-


Die Alten und die Jungen

lyrik von 1870 ist im ganzen unbedeutend — obwohl sie immerhin ihren
Zweck erfüllte —, aber was hätte die herrschende akademische und Deeademe-
Poesie andres hervorbringen sollen? Übrigens hinderte, wie Riese in einem
seiner Vorträge gezeigt hat, auch eine Reihe äußerer Gründe die Entfaltung
der Kriegsdichtuug, vor allem die rasche Folge der Ereignisse. Will man den
Vergleich mit der Lyrik der Befreiungskriege gerecht durchführen, so muß man
auch die nationale Dichtung, die den Krieg und die Einigung vorbereitete,
heranziehen, die Geibelsche in ihrer Gesamtheit, Storms wunderbare Strophen
nach 1848 usw.; dann erhält man auf alle Fälle einen achtunggebietenden
Eindruck. Wenn ferner nicht gleich nach 1870 die neuen großen dentschen
Dichter kamen, so ist das auch kein Wunder; eben da der nationale Gehalt
gleichsam! vorweggenommen war, konnten die etwa vorhandnen jüngern Talente
uicht sofort neues bringen, es mußte erst eine neue große geistige Bewegung
kommen und die Seelen aufrütteln, und das war die soziale. Litzmann redet
von den unzähligen befruchtenden Samenkörnern für die Phantasie, die ein
großer Krieg mit sich bringt, und meint, wenn irgendwann, so sei damals
der Augenblick gekommen gewesen für ein deutsches Heldenlied. Aber selbst
die Befreiungskriege haben keins gezeitigt, obwohl der Sturz Napoleons I.
doch gewiß ein viel gewaltigeres Schauspiel war als der Napoleons III., und
die Befreiung von der Fremdherrschaft die Gemüter sicher tiefer ergriff als
die Einigung der deutschen Stämme. Es ist überhaupt eine eigne Sache um
die Einwirkung der Kriege auf die Phantasie der Dichter, und das Heldenlied,
das alte „objektive" Epos will in unsrer Zeit gar nicht mehr gedeihen, was
man ästhetisch auch recht wohl begreifen kann.

Manche ältere und jüngere Dichter haben wenigstens versucht, auf dem
Boden des Reichs größere Zeitbilder, als wir sie bis dahin hatten, zu schaffen;
trotz aller Decadence und dem immer mehr überhandnehmenden Konventionalis¬
mus kann man bei ihnen etwas wie ein energisches Sichzusammennehmen be¬
merken. Ich gebe Litzmann zu, daß weder Freytags „Ahnen" noch Spielhagens
neue Romane Werke großartiger Prägung sind, aber die Idee der „Ahnen"
kann man sich schon gefallen lassen, und Spielhagens „Sturmflut" ist trotz
seiner Schwächen ein wirklich aus der Zeit herausgeborner Roman. Auch
Heyses „Kinder der Welt" kann man von einem bestimmten Gesichtspunkt aus
und gegen das frühere Schaffen des Dichters gehalten loben, der Roman zeigt
wenigstens den ernsten Willen des Dichters, ein Zeitproblem zu gestalten. Selbst
die Idee des nationalen modernen Epos wurde damals gefaßt, und zwar von
Julius Grosse, dessen „Volkramslied" dann freilich erst 1889 erschien. Im
ganzen ist allerdings, wenn man die herrschenden Strömungen, die führenden
Geister im Auge hat, der Anblick der Zeit trostlos, trotzdem daß Keller nun
wieder hervortritt, Storm und Raabe ihr bestes leisten, und selbst wieder einige
Dichter auftreten, die man als Iioiniiuzs sui Asusris bezeichnen muß. Charakte-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0327" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223269"/>
            <fw type="header" place="top"> Die Alten und die Jungen</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_946" prev="#ID_945"> lyrik von 1870 ist im ganzen unbedeutend &#x2014; obwohl sie immerhin ihren<lb/>
Zweck erfüllte &#x2014;, aber was hätte die herrschende akademische und Deeademe-<lb/>
Poesie andres hervorbringen sollen? Übrigens hinderte, wie Riese in einem<lb/>
seiner Vorträge gezeigt hat, auch eine Reihe äußerer Gründe die Entfaltung<lb/>
der Kriegsdichtuug, vor allem die rasche Folge der Ereignisse. Will man den<lb/>
Vergleich mit der Lyrik der Befreiungskriege gerecht durchführen, so muß man<lb/>
auch die nationale Dichtung, die den Krieg und die Einigung vorbereitete,<lb/>
heranziehen, die Geibelsche in ihrer Gesamtheit, Storms wunderbare Strophen<lb/>
nach 1848 usw.; dann erhält man auf alle Fälle einen achtunggebietenden<lb/>
Eindruck. Wenn ferner nicht gleich nach 1870 die neuen großen dentschen<lb/>
Dichter kamen, so ist das auch kein Wunder; eben da der nationale Gehalt<lb/>
gleichsam! vorweggenommen war, konnten die etwa vorhandnen jüngern Talente<lb/>
uicht sofort neues bringen, es mußte erst eine neue große geistige Bewegung<lb/>
kommen und die Seelen aufrütteln, und das war die soziale. Litzmann redet<lb/>
von den unzähligen befruchtenden Samenkörnern für die Phantasie, die ein<lb/>
großer Krieg mit sich bringt, und meint, wenn irgendwann, so sei damals<lb/>
der Augenblick gekommen gewesen für ein deutsches Heldenlied. Aber selbst<lb/>
die Befreiungskriege haben keins gezeitigt, obwohl der Sturz Napoleons I.<lb/>
doch gewiß ein viel gewaltigeres Schauspiel war als der Napoleons III., und<lb/>
die Befreiung von der Fremdherrschaft die Gemüter sicher tiefer ergriff als<lb/>
die Einigung der deutschen Stämme. Es ist überhaupt eine eigne Sache um<lb/>
die Einwirkung der Kriege auf die Phantasie der Dichter, und das Heldenlied,<lb/>
das alte &#x201E;objektive" Epos will in unsrer Zeit gar nicht mehr gedeihen, was<lb/>
man ästhetisch auch recht wohl begreifen kann.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_947" next="#ID_948"> Manche ältere und jüngere Dichter haben wenigstens versucht, auf dem<lb/>
Boden des Reichs größere Zeitbilder, als wir sie bis dahin hatten, zu schaffen;<lb/>
trotz aller Decadence und dem immer mehr überhandnehmenden Konventionalis¬<lb/>
mus kann man bei ihnen etwas wie ein energisches Sichzusammennehmen be¬<lb/>
merken. Ich gebe Litzmann zu, daß weder Freytags &#x201E;Ahnen" noch Spielhagens<lb/>
neue Romane Werke großartiger Prägung sind, aber die Idee der &#x201E;Ahnen"<lb/>
kann man sich schon gefallen lassen, und Spielhagens &#x201E;Sturmflut" ist trotz<lb/>
seiner Schwächen ein wirklich aus der Zeit herausgeborner Roman. Auch<lb/>
Heyses &#x201E;Kinder der Welt" kann man von einem bestimmten Gesichtspunkt aus<lb/>
und gegen das frühere Schaffen des Dichters gehalten loben, der Roman zeigt<lb/>
wenigstens den ernsten Willen des Dichters, ein Zeitproblem zu gestalten. Selbst<lb/>
die Idee des nationalen modernen Epos wurde damals gefaßt, und zwar von<lb/>
Julius Grosse, dessen &#x201E;Volkramslied" dann freilich erst 1889 erschien. Im<lb/>
ganzen ist allerdings, wenn man die herrschenden Strömungen, die führenden<lb/>
Geister im Auge hat, der Anblick der Zeit trostlos, trotzdem daß Keller nun<lb/>
wieder hervortritt, Storm und Raabe ihr bestes leisten, und selbst wieder einige<lb/>
Dichter auftreten, die man als Iioiniiuzs sui Asusris bezeichnen muß. Charakte-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0327] Die Alten und die Jungen lyrik von 1870 ist im ganzen unbedeutend — obwohl sie immerhin ihren Zweck erfüllte —, aber was hätte die herrschende akademische und Deeademe- Poesie andres hervorbringen sollen? Übrigens hinderte, wie Riese in einem seiner Vorträge gezeigt hat, auch eine Reihe äußerer Gründe die Entfaltung der Kriegsdichtuug, vor allem die rasche Folge der Ereignisse. Will man den Vergleich mit der Lyrik der Befreiungskriege gerecht durchführen, so muß man auch die nationale Dichtung, die den Krieg und die Einigung vorbereitete, heranziehen, die Geibelsche in ihrer Gesamtheit, Storms wunderbare Strophen nach 1848 usw.; dann erhält man auf alle Fälle einen achtunggebietenden Eindruck. Wenn ferner nicht gleich nach 1870 die neuen großen dentschen Dichter kamen, so ist das auch kein Wunder; eben da der nationale Gehalt gleichsam! vorweggenommen war, konnten die etwa vorhandnen jüngern Talente uicht sofort neues bringen, es mußte erst eine neue große geistige Bewegung kommen und die Seelen aufrütteln, und das war die soziale. Litzmann redet von den unzähligen befruchtenden Samenkörnern für die Phantasie, die ein großer Krieg mit sich bringt, und meint, wenn irgendwann, so sei damals der Augenblick gekommen gewesen für ein deutsches Heldenlied. Aber selbst die Befreiungskriege haben keins gezeitigt, obwohl der Sturz Napoleons I. doch gewiß ein viel gewaltigeres Schauspiel war als der Napoleons III., und die Befreiung von der Fremdherrschaft die Gemüter sicher tiefer ergriff als die Einigung der deutschen Stämme. Es ist überhaupt eine eigne Sache um die Einwirkung der Kriege auf die Phantasie der Dichter, und das Heldenlied, das alte „objektive" Epos will in unsrer Zeit gar nicht mehr gedeihen, was man ästhetisch auch recht wohl begreifen kann. Manche ältere und jüngere Dichter haben wenigstens versucht, auf dem Boden des Reichs größere Zeitbilder, als wir sie bis dahin hatten, zu schaffen; trotz aller Decadence und dem immer mehr überhandnehmenden Konventionalis¬ mus kann man bei ihnen etwas wie ein energisches Sichzusammennehmen be¬ merken. Ich gebe Litzmann zu, daß weder Freytags „Ahnen" noch Spielhagens neue Romane Werke großartiger Prägung sind, aber die Idee der „Ahnen" kann man sich schon gefallen lassen, und Spielhagens „Sturmflut" ist trotz seiner Schwächen ein wirklich aus der Zeit herausgeborner Roman. Auch Heyses „Kinder der Welt" kann man von einem bestimmten Gesichtspunkt aus und gegen das frühere Schaffen des Dichters gehalten loben, der Roman zeigt wenigstens den ernsten Willen des Dichters, ein Zeitproblem zu gestalten. Selbst die Idee des nationalen modernen Epos wurde damals gefaßt, und zwar von Julius Grosse, dessen „Volkramslied" dann freilich erst 1889 erschien. Im ganzen ist allerdings, wenn man die herrschenden Strömungen, die führenden Geister im Auge hat, der Anblick der Zeit trostlos, trotzdem daß Keller nun wieder hervortritt, Storm und Raabe ihr bestes leisten, und selbst wieder einige Dichter auftreten, die man als Iioiniiuzs sui Asusris bezeichnen muß. Charakte-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/327
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/327>, abgerufen am 01.09.2024.