Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Alten und die Jungen

Zeit erfaßt wurde, freilich ein so kräftiges Talent ist, daß er sich immer einmal
wieder freimachen konnte. Am freiesten vom Verfall erhielten sich von den
jüngern Münchnern wohl Wilhelm Hertz und Felix Dahn, vielleicht, weil ihre
Stoffwelt in der Vergangenheit lag, doch wird man in "Sind Götter" und
auch im "Kampf um Rom" die Decadence schwerlich verkennen.

Der charakteristischste Decadencepoet vor 1870 aber ist Eduard Grisebach,
der "neue Tanhäuser," dessen Sammlung 1869 erschien. Mit welcher Sorg¬
falt man oft Litteraturgeschichte schreibt, beweist der Umstand, daß man sie
als Spiegelbild sowohl des wilden Gennßtaumels, wie der ihm folgenden
Pessimistischen Katerstimmung der -- Gründerperiode hinstellte. Grisebachs
Deendeucelyrik steht übrigens nicht allein, 1868 bereits waren die "Lieder einer
Verlornen" der Wienerin Ada Christen erschienen, ebenso die ersten Gedichte
von Emil Claar, und wer die Gedichtbücher jener Zeit genauer durchforscht,
wird sicherlich noch mehr Vertreter einer stark parfümirten Decadeneelyrik
finden. Ihr Gipfel war in den siebziger Jahren Prinz Emil Schönaich-
Cnrolath.

Auch die beiden Vertreter der schlüpfrigsten Unterhaltungslitteratur unsrer
Zeit, die man zum Teil ruhig mit der frivolen französischen Litteratur vor
der Revolution vergleichen kann, Sander-Masons und Emile Mario Vaeano
traten noch vor 1870 auf. Es ist bezeichnend, daß beide aus den östlichen
Ländern stammten. Vaeano scheint in seiner Jugend in den Händen von
"Geschäftsleuten" gewesen zu sein, die ihn in Sinnlichkeit "machen" ließen,
Sander-Masons wäre eher selbst verantwortlich und bei seinem bedeutenden
Talent als das verlottertste Subjekt der deutschen Litteratur zu betrachten,
wenn man nicht fast gezwungen wäre, eine Art erotischen Wahnsinns bei
ihm anzunehmen.

Nimmt man zu den geschilderten Erscheinungen nnn noch den in den
sechziger Jahren zuerst ausgeführten "Tristan" Wagners, sicher ein gro߬
artiges Decadencewerk, und die Operetten Offenbachs, die schon vor 1870 nach
Deutschland eingeführt wurden, so hat man das Bild der deutschen Früh-
decadenee so ziemlich zusammen. Doch wollen wir nicht vergessen, daß
wir namentlich dank den Bemühungen Heinrich Laubes auch die moderne
französische Sittenkomödie vor 1870 bereits ganz gut kennen lernten, und daß
sich der Pariser Feuilletonismus schon damals in Wien und Berlin einbürgerte.
Schon erfreute sich Paul Lindau eines gewissen Ansehens! Wenn ich endlich
noch hinzufüge, daß die Marlitt schon vor 1870 berühmt, also die Herrschaft
auf dem Gebiet des Unterhaltungsromans vom Mann auf die Frau über¬
gegangen war, so wird wohl nicht gut mehr zu bestreiten sein, daß sich unser
Vaterland seit der Mitte der sechziger Jahre in unaufhaltsam scheinenden
Niedergange befand.


Die Alten und die Jungen

Zeit erfaßt wurde, freilich ein so kräftiges Talent ist, daß er sich immer einmal
wieder freimachen konnte. Am freiesten vom Verfall erhielten sich von den
jüngern Münchnern wohl Wilhelm Hertz und Felix Dahn, vielleicht, weil ihre
Stoffwelt in der Vergangenheit lag, doch wird man in „Sind Götter" und
auch im „Kampf um Rom" die Decadence schwerlich verkennen.

Der charakteristischste Decadencepoet vor 1870 aber ist Eduard Grisebach,
der „neue Tanhäuser," dessen Sammlung 1869 erschien. Mit welcher Sorg¬
falt man oft Litteraturgeschichte schreibt, beweist der Umstand, daß man sie
als Spiegelbild sowohl des wilden Gennßtaumels, wie der ihm folgenden
Pessimistischen Katerstimmung der — Gründerperiode hinstellte. Grisebachs
Deendeucelyrik steht übrigens nicht allein, 1868 bereits waren die „Lieder einer
Verlornen" der Wienerin Ada Christen erschienen, ebenso die ersten Gedichte
von Emil Claar, und wer die Gedichtbücher jener Zeit genauer durchforscht,
wird sicherlich noch mehr Vertreter einer stark parfümirten Decadeneelyrik
finden. Ihr Gipfel war in den siebziger Jahren Prinz Emil Schönaich-
Cnrolath.

Auch die beiden Vertreter der schlüpfrigsten Unterhaltungslitteratur unsrer
Zeit, die man zum Teil ruhig mit der frivolen französischen Litteratur vor
der Revolution vergleichen kann, Sander-Masons und Emile Mario Vaeano
traten noch vor 1870 auf. Es ist bezeichnend, daß beide aus den östlichen
Ländern stammten. Vaeano scheint in seiner Jugend in den Händen von
„Geschäftsleuten" gewesen zu sein, die ihn in Sinnlichkeit „machen" ließen,
Sander-Masons wäre eher selbst verantwortlich und bei seinem bedeutenden
Talent als das verlottertste Subjekt der deutschen Litteratur zu betrachten,
wenn man nicht fast gezwungen wäre, eine Art erotischen Wahnsinns bei
ihm anzunehmen.

Nimmt man zu den geschilderten Erscheinungen nnn noch den in den
sechziger Jahren zuerst ausgeführten „Tristan" Wagners, sicher ein gro߬
artiges Decadencewerk, und die Operetten Offenbachs, die schon vor 1870 nach
Deutschland eingeführt wurden, so hat man das Bild der deutschen Früh-
decadenee so ziemlich zusammen. Doch wollen wir nicht vergessen, daß
wir namentlich dank den Bemühungen Heinrich Laubes auch die moderne
französische Sittenkomödie vor 1870 bereits ganz gut kennen lernten, und daß
sich der Pariser Feuilletonismus schon damals in Wien und Berlin einbürgerte.
Schon erfreute sich Paul Lindau eines gewissen Ansehens! Wenn ich endlich
noch hinzufüge, daß die Marlitt schon vor 1870 berühmt, also die Herrschaft
auf dem Gebiet des Unterhaltungsromans vom Mann auf die Frau über¬
gegangen war, so wird wohl nicht gut mehr zu bestreiten sein, daß sich unser
Vaterland seit der Mitte der sechziger Jahre in unaufhaltsam scheinenden
Niedergange befand.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0325" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223267"/>
            <fw type="header" place="top"> Die Alten und die Jungen</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_940" prev="#ID_939"> Zeit erfaßt wurde, freilich ein so kräftiges Talent ist, daß er sich immer einmal<lb/>
wieder freimachen konnte. Am freiesten vom Verfall erhielten sich von den<lb/>
jüngern Münchnern wohl Wilhelm Hertz und Felix Dahn, vielleicht, weil ihre<lb/>
Stoffwelt in der Vergangenheit lag, doch wird man in &#x201E;Sind Götter" und<lb/>
auch im &#x201E;Kampf um Rom" die Decadence schwerlich verkennen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_941"> Der charakteristischste Decadencepoet vor 1870 aber ist Eduard Grisebach,<lb/>
der &#x201E;neue Tanhäuser," dessen Sammlung 1869 erschien. Mit welcher Sorg¬<lb/>
falt man oft Litteraturgeschichte schreibt, beweist der Umstand, daß man sie<lb/>
als Spiegelbild sowohl des wilden Gennßtaumels, wie der ihm folgenden<lb/>
Pessimistischen Katerstimmung der &#x2014; Gründerperiode hinstellte. Grisebachs<lb/>
Deendeucelyrik steht übrigens nicht allein, 1868 bereits waren die &#x201E;Lieder einer<lb/>
Verlornen" der Wienerin Ada Christen erschienen, ebenso die ersten Gedichte<lb/>
von Emil Claar, und wer die Gedichtbücher jener Zeit genauer durchforscht,<lb/>
wird sicherlich noch mehr Vertreter einer stark parfümirten Decadeneelyrik<lb/>
finden. Ihr Gipfel war in den siebziger Jahren Prinz Emil Schönaich-<lb/>
Cnrolath.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_942"> Auch die beiden Vertreter der schlüpfrigsten Unterhaltungslitteratur unsrer<lb/>
Zeit, die man zum Teil ruhig mit der frivolen französischen Litteratur vor<lb/>
der Revolution vergleichen kann, Sander-Masons und Emile Mario Vaeano<lb/>
traten noch vor 1870 auf. Es ist bezeichnend, daß beide aus den östlichen<lb/>
Ländern stammten. Vaeano scheint in seiner Jugend in den Händen von<lb/>
&#x201E;Geschäftsleuten" gewesen zu sein, die ihn in Sinnlichkeit &#x201E;machen" ließen,<lb/>
Sander-Masons wäre eher selbst verantwortlich und bei seinem bedeutenden<lb/>
Talent als das verlottertste Subjekt der deutschen Litteratur zu betrachten,<lb/>
wenn man nicht fast gezwungen wäre, eine Art erotischen Wahnsinns bei<lb/>
ihm anzunehmen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_943"> Nimmt man zu den geschilderten Erscheinungen nnn noch den in den<lb/>
sechziger Jahren zuerst ausgeführten &#x201E;Tristan" Wagners, sicher ein gro߬<lb/>
artiges Decadencewerk, und die Operetten Offenbachs, die schon vor 1870 nach<lb/>
Deutschland eingeführt wurden, so hat man das Bild der deutschen Früh-<lb/>
decadenee so ziemlich zusammen. Doch wollen wir nicht vergessen, daß<lb/>
wir namentlich dank den Bemühungen Heinrich Laubes auch die moderne<lb/>
französische Sittenkomödie vor 1870 bereits ganz gut kennen lernten, und daß<lb/>
sich der Pariser Feuilletonismus schon damals in Wien und Berlin einbürgerte.<lb/>
Schon erfreute sich Paul Lindau eines gewissen Ansehens! Wenn ich endlich<lb/>
noch hinzufüge, daß die Marlitt schon vor 1870 berühmt, also die Herrschaft<lb/>
auf dem Gebiet des Unterhaltungsromans vom Mann auf die Frau über¬<lb/>
gegangen war, so wird wohl nicht gut mehr zu bestreiten sein, daß sich unser<lb/>
Vaterland seit der Mitte der sechziger Jahre in unaufhaltsam scheinenden<lb/>
Niedergange befand.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0325] Die Alten und die Jungen Zeit erfaßt wurde, freilich ein so kräftiges Talent ist, daß er sich immer einmal wieder freimachen konnte. Am freiesten vom Verfall erhielten sich von den jüngern Münchnern wohl Wilhelm Hertz und Felix Dahn, vielleicht, weil ihre Stoffwelt in der Vergangenheit lag, doch wird man in „Sind Götter" und auch im „Kampf um Rom" die Decadence schwerlich verkennen. Der charakteristischste Decadencepoet vor 1870 aber ist Eduard Grisebach, der „neue Tanhäuser," dessen Sammlung 1869 erschien. Mit welcher Sorg¬ falt man oft Litteraturgeschichte schreibt, beweist der Umstand, daß man sie als Spiegelbild sowohl des wilden Gennßtaumels, wie der ihm folgenden Pessimistischen Katerstimmung der — Gründerperiode hinstellte. Grisebachs Deendeucelyrik steht übrigens nicht allein, 1868 bereits waren die „Lieder einer Verlornen" der Wienerin Ada Christen erschienen, ebenso die ersten Gedichte von Emil Claar, und wer die Gedichtbücher jener Zeit genauer durchforscht, wird sicherlich noch mehr Vertreter einer stark parfümirten Decadeneelyrik finden. Ihr Gipfel war in den siebziger Jahren Prinz Emil Schönaich- Cnrolath. Auch die beiden Vertreter der schlüpfrigsten Unterhaltungslitteratur unsrer Zeit, die man zum Teil ruhig mit der frivolen französischen Litteratur vor der Revolution vergleichen kann, Sander-Masons und Emile Mario Vaeano traten noch vor 1870 auf. Es ist bezeichnend, daß beide aus den östlichen Ländern stammten. Vaeano scheint in seiner Jugend in den Händen von „Geschäftsleuten" gewesen zu sein, die ihn in Sinnlichkeit „machen" ließen, Sander-Masons wäre eher selbst verantwortlich und bei seinem bedeutenden Talent als das verlottertste Subjekt der deutschen Litteratur zu betrachten, wenn man nicht fast gezwungen wäre, eine Art erotischen Wahnsinns bei ihm anzunehmen. Nimmt man zu den geschilderten Erscheinungen nnn noch den in den sechziger Jahren zuerst ausgeführten „Tristan" Wagners, sicher ein gro߬ artiges Decadencewerk, und die Operetten Offenbachs, die schon vor 1870 nach Deutschland eingeführt wurden, so hat man das Bild der deutschen Früh- decadenee so ziemlich zusammen. Doch wollen wir nicht vergessen, daß wir namentlich dank den Bemühungen Heinrich Laubes auch die moderne französische Sittenkomödie vor 1870 bereits ganz gut kennen lernten, und daß sich der Pariser Feuilletonismus schon damals in Wien und Berlin einbürgerte. Schon erfreute sich Paul Lindau eines gewissen Ansehens! Wenn ich endlich noch hinzufüge, daß die Marlitt schon vor 1870 berühmt, also die Herrschaft auf dem Gebiet des Unterhaltungsromans vom Mann auf die Frau über¬ gegangen war, so wird wohl nicht gut mehr zu bestreiten sein, daß sich unser Vaterland seit der Mitte der sechziger Jahre in unaufhaltsam scheinenden Niedergange befand.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/325
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/325>, abgerufen am 01.09.2024.