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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Der sozialpolitische Kurs

Sicherheit, die sich nicht zutraut, die besser begründete Überzeugung festzu¬
halten. Und es ist ja nicht entfernt die eigentliche Volksmeinung, die Über¬
zeugung der Mehrheit des ganzen Volks, die in dieser Weise nach oben hin
wirkt. Lärmende Agitatoren, die sich den Anschein geben, als ob sie die
Volksmeinung verträten, die sich mit hohem Selbstbewußtsein als Wortführer
des Volkes geberden, wissen den Eindruck zu erwecken, als ob ihre eng¬
herzigen Pnrteiforderungen die unabweisbaren Forderungen des Zeitgeistes und
vom Standpunkt des Volkswohls aus unerläßlich wären. Und daß der Ein¬
fluß der bezeichneten Richtung nach und nach stärker wurde, hat auch dazu
beigetragen, daß die Regierung nicht an den bisher befolgten sozialpolitischen
Grundsätzen festgehalten hat.

Will man uns wirklich glauben machen, daß der sozialpolitische Kurs
der Negicrungspolitik "unentwegt" der alte geblieben sei? Auch wenn wir
nicht die Sozialpolitik des Fürsten Bismarck zum Vergleich heranziehen wollen,
ist doch seit seinem Weggang eine wesentliche Änderung im Vergleich zu der
damals befolgten Politik eingetreten. Damals schien eine neue Zeit heran-
znbrechen; es wurde geträumt von einer Aussöhnung der Sozialdemokratie nicht
bloß mit der bestehenden Gesellschaftsordnung, sondern auch mit der Mon¬
archie, der sie so feindselig gegenübersteht. Das Schlagwort von dem sozialen
Königtum wurde häufig gehört. So schien dem Kaiser gewährt zu sein, was
des Kaisers war, und den untern Volksklassen das Ihre; beide schienen friedlich
mit einander auszukommen. Die Monarchie, getragen von der Volksgunst,
schien so am besten gesichert zu sein gegen die gührende Unzufriedenheit, die
sich namentlich auch gegen sie richtet.

Aber diese Stimmung hielt nicht lange an, und eben weil sie zu opti¬
mistisch war, mußte um so eher ein Rückschlag kommen und Enttäuschung
folgen. Der Irrtum lag darin, daß angenommen wurde, durch rasches und
energisches Eingreifen lasse sich die soziale Frage sozusagen mit einem Schlage
losen. Es gab sich (und das ist für unsre Sozialpolitik von Anfang an
verhängnisvoll geworden) eine starke Überschätzung dessen kund, was von
oben her für das Volk, insbesondre für die arbeitenden Klassen, gethan werden
kann. Und namentlich wenn die Person des Monarchen selbst als die segen¬
spendende Gewalt bezeichnet wird, so ist dagegen einzuwenden, daß für die
Herstellung eiues so warmen und persönlichen Verhältnisses zwischen dem
Trüger der Krone und den untern Volksklassen unsre Zeit wenig ge¬
eignet ist.

Wenn nun seitdem der sozialpolitische Eifer merklich erkaltet ist, so
gehen wir wohl nicht fehl in der Annahme, daß der bisherige Verlauf der
sozialistischen Bewegung als ein Zeichen der UnVersöhnlichkeit der Sozial-
demokratie gedeutet wird, und daß daraufhin auch den Bemühungen, durch
Maßregeln zur Hebung des Arbeiterstandes die Sozialdemokratie zu versöhnen,


Der sozialpolitische Kurs

Sicherheit, die sich nicht zutraut, die besser begründete Überzeugung festzu¬
halten. Und es ist ja nicht entfernt die eigentliche Volksmeinung, die Über¬
zeugung der Mehrheit des ganzen Volks, die in dieser Weise nach oben hin
wirkt. Lärmende Agitatoren, die sich den Anschein geben, als ob sie die
Volksmeinung verträten, die sich mit hohem Selbstbewußtsein als Wortführer
des Volkes geberden, wissen den Eindruck zu erwecken, als ob ihre eng¬
herzigen Pnrteiforderungen die unabweisbaren Forderungen des Zeitgeistes und
vom Standpunkt des Volkswohls aus unerläßlich wären. Und daß der Ein¬
fluß der bezeichneten Richtung nach und nach stärker wurde, hat auch dazu
beigetragen, daß die Regierung nicht an den bisher befolgten sozialpolitischen
Grundsätzen festgehalten hat.

Will man uns wirklich glauben machen, daß der sozialpolitische Kurs
der Negicrungspolitik „unentwegt" der alte geblieben sei? Auch wenn wir
nicht die Sozialpolitik des Fürsten Bismarck zum Vergleich heranziehen wollen,
ist doch seit seinem Weggang eine wesentliche Änderung im Vergleich zu der
damals befolgten Politik eingetreten. Damals schien eine neue Zeit heran-
znbrechen; es wurde geträumt von einer Aussöhnung der Sozialdemokratie nicht
bloß mit der bestehenden Gesellschaftsordnung, sondern auch mit der Mon¬
archie, der sie so feindselig gegenübersteht. Das Schlagwort von dem sozialen
Königtum wurde häufig gehört. So schien dem Kaiser gewährt zu sein, was
des Kaisers war, und den untern Volksklassen das Ihre; beide schienen friedlich
mit einander auszukommen. Die Monarchie, getragen von der Volksgunst,
schien so am besten gesichert zu sein gegen die gührende Unzufriedenheit, die
sich namentlich auch gegen sie richtet.

Aber diese Stimmung hielt nicht lange an, und eben weil sie zu opti¬
mistisch war, mußte um so eher ein Rückschlag kommen und Enttäuschung
folgen. Der Irrtum lag darin, daß angenommen wurde, durch rasches und
energisches Eingreifen lasse sich die soziale Frage sozusagen mit einem Schlage
losen. Es gab sich (und das ist für unsre Sozialpolitik von Anfang an
verhängnisvoll geworden) eine starke Überschätzung dessen kund, was von
oben her für das Volk, insbesondre für die arbeitenden Klassen, gethan werden
kann. Und namentlich wenn die Person des Monarchen selbst als die segen¬
spendende Gewalt bezeichnet wird, so ist dagegen einzuwenden, daß für die
Herstellung eiues so warmen und persönlichen Verhältnisses zwischen dem
Trüger der Krone und den untern Volksklassen unsre Zeit wenig ge¬
eignet ist.

Wenn nun seitdem der sozialpolitische Eifer merklich erkaltet ist, so
gehen wir wohl nicht fehl in der Annahme, daß der bisherige Verlauf der
sozialistischen Bewegung als ein Zeichen der UnVersöhnlichkeit der Sozial-
demokratie gedeutet wird, und daß daraufhin auch den Bemühungen, durch
Maßregeln zur Hebung des Arbeiterstandes die Sozialdemokratie zu versöhnen,


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[0299] Der sozialpolitische Kurs Sicherheit, die sich nicht zutraut, die besser begründete Überzeugung festzu¬ halten. Und es ist ja nicht entfernt die eigentliche Volksmeinung, die Über¬ zeugung der Mehrheit des ganzen Volks, die in dieser Weise nach oben hin wirkt. Lärmende Agitatoren, die sich den Anschein geben, als ob sie die Volksmeinung verträten, die sich mit hohem Selbstbewußtsein als Wortführer des Volkes geberden, wissen den Eindruck zu erwecken, als ob ihre eng¬ herzigen Pnrteiforderungen die unabweisbaren Forderungen des Zeitgeistes und vom Standpunkt des Volkswohls aus unerläßlich wären. Und daß der Ein¬ fluß der bezeichneten Richtung nach und nach stärker wurde, hat auch dazu beigetragen, daß die Regierung nicht an den bisher befolgten sozialpolitischen Grundsätzen festgehalten hat. Will man uns wirklich glauben machen, daß der sozialpolitische Kurs der Negicrungspolitik „unentwegt" der alte geblieben sei? Auch wenn wir nicht die Sozialpolitik des Fürsten Bismarck zum Vergleich heranziehen wollen, ist doch seit seinem Weggang eine wesentliche Änderung im Vergleich zu der damals befolgten Politik eingetreten. Damals schien eine neue Zeit heran- znbrechen; es wurde geträumt von einer Aussöhnung der Sozialdemokratie nicht bloß mit der bestehenden Gesellschaftsordnung, sondern auch mit der Mon¬ archie, der sie so feindselig gegenübersteht. Das Schlagwort von dem sozialen Königtum wurde häufig gehört. So schien dem Kaiser gewährt zu sein, was des Kaisers war, und den untern Volksklassen das Ihre; beide schienen friedlich mit einander auszukommen. Die Monarchie, getragen von der Volksgunst, schien so am besten gesichert zu sein gegen die gührende Unzufriedenheit, die sich namentlich auch gegen sie richtet. Aber diese Stimmung hielt nicht lange an, und eben weil sie zu opti¬ mistisch war, mußte um so eher ein Rückschlag kommen und Enttäuschung folgen. Der Irrtum lag darin, daß angenommen wurde, durch rasches und energisches Eingreifen lasse sich die soziale Frage sozusagen mit einem Schlage losen. Es gab sich (und das ist für unsre Sozialpolitik von Anfang an verhängnisvoll geworden) eine starke Überschätzung dessen kund, was von oben her für das Volk, insbesondre für die arbeitenden Klassen, gethan werden kann. Und namentlich wenn die Person des Monarchen selbst als die segen¬ spendende Gewalt bezeichnet wird, so ist dagegen einzuwenden, daß für die Herstellung eiues so warmen und persönlichen Verhältnisses zwischen dem Trüger der Krone und den untern Volksklassen unsre Zeit wenig ge¬ eignet ist. Wenn nun seitdem der sozialpolitische Eifer merklich erkaltet ist, so gehen wir wohl nicht fehl in der Annahme, daß der bisherige Verlauf der sozialistischen Bewegung als ein Zeichen der UnVersöhnlichkeit der Sozial- demokratie gedeutet wird, und daß daraufhin auch den Bemühungen, durch Maßregeln zur Hebung des Arbeiterstandes die Sozialdemokratie zu versöhnen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/299>, abgerufen am 01.09.2024.