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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

Meißner, Waldau, Gottschall usw., die alten freiheitlichen Ideale darum nicht
aufgeben und gelegentlich in das jungdeutsche Geistreichthuu und das revolutionäre
deklamatorische Pathos zurückfallen. Ganz rein lassen sich die drei Richtungen
nicht scheiden, mehr oder minder kommen sie alle zuletzt zum Realismus, der
aber nur bei einigen Dichtern als ausgeprägte Wirklichkeitsdichtuug, meist als
sogenannter poetischer Realismus auftritt. Der Sturm und Drang der Jugend
beginnt dann in Norddeutschland und wird von dort nach München getragen.
Er ist der harmloseste, den wir je gehabt haben, mehr einer der Form als
des Inhalts, aber er führt zur Gründung einer großen Schule, der Münchner,
die 1861 mit dem ersten "Münchner Dichterbuch" stattlich vor die Öffentlichkeit
tritt und ihren innern Zusammenhang so gut wahrt, daß noch zwei Jahr¬
zehnte später, 1882, ein neues Dichterbuch erscheinen konnte.

Es bleibt noch übrig, einen Blick auf die sozialen Zustände Deutschlands
zu werfen, unter denen sich diese neue Litteratur entwickelte. Bedeuten die
politischen Ereignisse für die Litteratur im allgemeinen sehr wenig, so haben
die sozialen Verhältnisse um so größere Bedeutung. Die fünfziger und die
ersten sechziger Jahre sind nun, mögen sie auch politisch zunächst eine Re¬
aktionszeit sein, vom wirtschaftlichen Standpunkt aus eine Zeit gewaltigen
Aufschwungs, in ihnen erhält das heutige Deutschland durch die Ausbildung
der modernen Verkehrsmittel und die allgemeine Verbreitung der Industrie
seine Physiognomie, das liberale Bürgertum wird die herrschende Klasse in
Deutschland, und der Nationalwohlstand schwillt unter kapitalistischen Formen
gewaltig an. Will man einen Vergleich, so kann man an das Frankreich
Louis Philipps in den dreißiger Jahren erinnern; genau wie dieses, das Frank¬
reich der Bourgeoisie, sah auch das neue Deutschland der Bourgeoisie eine
bedeutende Entwicklung von Kunst und Wissenschaft. Im ganzen waren die
fünfziger und sechziger Jahre, so viel man auch an ihnen aussetzen mag, keine
üble Zeit; noch war, wie die Auswüchse des Kapitalismus, die durch sie
hervorgerufne soziale Bewegung erst in ihren Anfängen da, das Lebensbehagen
im allgemeinen noch nicht gestört, man fing an, mit dem wachsenden Wohl¬
stand überall in Deutschland auch an den Schmuck des Daseins zu denken,
bildende Kunst und Kunstgewerbe begannen wieder eine Rolle zu spielen,
die Litteratur war zwar ein wenig im tiefern Interesse der Nation zurück¬
getreten, konnte aber dafür durch die damals zuerst hervortretenden billigen
Klassikerausgaben und durch die Entwicklung der Presse, vor allem der Unter-
haltungsblütter tWestermcmns Monatshefte, begründet 1846, Gartenlaube 1852,
Über Land und Meer 1858, Daheim 1864), immer weitere Kreise gewinnen.
Geistig stand die Zeit im Zeichen des politischen und religiösen Liberalismus,
der in der Entwicklung der Naturwissenschaft den festen Grund gefunden zu
haben glaubte, aber der große Bruch zwischen dem alten und dem neuen
Deutschland war noch nicht eingetreten, man war noch idealistisch gesinnt,


Die Alten und die Jungen

Meißner, Waldau, Gottschall usw., die alten freiheitlichen Ideale darum nicht
aufgeben und gelegentlich in das jungdeutsche Geistreichthuu und das revolutionäre
deklamatorische Pathos zurückfallen. Ganz rein lassen sich die drei Richtungen
nicht scheiden, mehr oder minder kommen sie alle zuletzt zum Realismus, der
aber nur bei einigen Dichtern als ausgeprägte Wirklichkeitsdichtuug, meist als
sogenannter poetischer Realismus auftritt. Der Sturm und Drang der Jugend
beginnt dann in Norddeutschland und wird von dort nach München getragen.
Er ist der harmloseste, den wir je gehabt haben, mehr einer der Form als
des Inhalts, aber er führt zur Gründung einer großen Schule, der Münchner,
die 1861 mit dem ersten „Münchner Dichterbuch" stattlich vor die Öffentlichkeit
tritt und ihren innern Zusammenhang so gut wahrt, daß noch zwei Jahr¬
zehnte später, 1882, ein neues Dichterbuch erscheinen konnte.

Es bleibt noch übrig, einen Blick auf die sozialen Zustände Deutschlands
zu werfen, unter denen sich diese neue Litteratur entwickelte. Bedeuten die
politischen Ereignisse für die Litteratur im allgemeinen sehr wenig, so haben
die sozialen Verhältnisse um so größere Bedeutung. Die fünfziger und die
ersten sechziger Jahre sind nun, mögen sie auch politisch zunächst eine Re¬
aktionszeit sein, vom wirtschaftlichen Standpunkt aus eine Zeit gewaltigen
Aufschwungs, in ihnen erhält das heutige Deutschland durch die Ausbildung
der modernen Verkehrsmittel und die allgemeine Verbreitung der Industrie
seine Physiognomie, das liberale Bürgertum wird die herrschende Klasse in
Deutschland, und der Nationalwohlstand schwillt unter kapitalistischen Formen
gewaltig an. Will man einen Vergleich, so kann man an das Frankreich
Louis Philipps in den dreißiger Jahren erinnern; genau wie dieses, das Frank¬
reich der Bourgeoisie, sah auch das neue Deutschland der Bourgeoisie eine
bedeutende Entwicklung von Kunst und Wissenschaft. Im ganzen waren die
fünfziger und sechziger Jahre, so viel man auch an ihnen aussetzen mag, keine
üble Zeit; noch war, wie die Auswüchse des Kapitalismus, die durch sie
hervorgerufne soziale Bewegung erst in ihren Anfängen da, das Lebensbehagen
im allgemeinen noch nicht gestört, man fing an, mit dem wachsenden Wohl¬
stand überall in Deutschland auch an den Schmuck des Daseins zu denken,
bildende Kunst und Kunstgewerbe begannen wieder eine Rolle zu spielen,
die Litteratur war zwar ein wenig im tiefern Interesse der Nation zurück¬
getreten, konnte aber dafür durch die damals zuerst hervortretenden billigen
Klassikerausgaben und durch die Entwicklung der Presse, vor allem der Unter-
haltungsblütter tWestermcmns Monatshefte, begründet 1846, Gartenlaube 1852,
Über Land und Meer 1858, Daheim 1864), immer weitere Kreise gewinnen.
Geistig stand die Zeit im Zeichen des politischen und religiösen Liberalismus,
der in der Entwicklung der Naturwissenschaft den festen Grund gefunden zu
haben glaubte, aber der große Bruch zwischen dem alten und dem neuen
Deutschland war noch nicht eingetreten, man war noch idealistisch gesinnt,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/234>, abgerufen am 01.09.2024.