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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

im Wege, die geistige Bewegung selbst als tels sekundäre, die Bücher, zumal
wenn sie künstlerische Werke sind, als das Primäre, als Thaten anzunehmen,
von denen die Bewegung ausgeht, wobei man freilich nicht vergessen darf, daß
auch die künstlerische oder geistige That wieder aus natürlichen Bedingungen
hervorwächst. Aber diese Bedingungen liegen ja, sobald das Werk daist, nicht
in der Gegenwart, sondern schon in der Vergangenheit, und wir können daher
die Frage: Was verdankt eine Erscheinung ihren Vorgängern, was ihrer eignen
Individualität? in der Regel sofort beantworten, wenn wir nur die Vergangen¬
heit gründlich kennen. Schwieriger erscheint schon die Beantwortung der Frage:
Was verdankt sie der allgemeinen Strömung der Zeit? Ich nehme aber an,
daß eine bedeutendere Persönlichkeit -- und eine solche muß der Litteratur¬
geschichtschreiber, jeder Geschichtschreiber sein, die Methode thut es nicht -- auch
über die vorherrschende Strömung der Zeit, selbst über die Ueberströmungen
eine aus der genauen Kenntnis der Vergangenheit und eigner Anschauungs¬
kraft (Intuition) gewonnene verhältnismüßig richtige Anschauung haben kann,
die denen, die Späterlebende gewinnen können, mindestens gleichwertig ist.
Sind die Litteraturwerke zum Teil Niederschlag der Zeitströmungen, so ermög¬
lichen sie eben dem scharfen, klaren, vor allem dem "intuitiver" Geiste auch
das Verständnis seiner Zeit, und die Vergleichung einer größern Anzahl von
Werken wird dann bald klar herausstellen, was persönliches, was Zeitgut ist.
Die Frage endlich, wie die Wirkung der Erscheinungen auf die Nachwelt ist,
scheint mir keineswegs die wichtigste zu sein. Zunächst hat wie jeder Mensch,
auch der Dichter und Schriftsteller seiner Zeit zu leben, und die Wirkung, die
er auf feine Zeit übt, und die sich im allgemeinen feststellen läßt, ist sür den
Geschichtschreiber unmittelbar maßgebend; nur wenige Persönlichkeiten wirken
ja auch über ihre Zeit hinaus. Ich halte es aber auch nicht für unmöglich,
daß der Litteraturgeschichtschreiber seiner Zeit diese Persönlichkeiten und die
wahrhaft bedeutenden Werke erkennt und ihre Wirkung auf die Nachwelt richtig
bemißt. Ganz zweifellos hat es zu jeder Zeit Menschen gegeben, die sich durch
den Erfolg nicht blenden ließen, das Echte und Bleibende, wenn nicht auf
Grund ihrer ästhetischen und Verstandesbildung, so doch instinktiv erkannten,
und zu diesen muß freilich der Litteraturgeschichtschreiber gehören, mit der
großen Menge der Unberufnen kann man nicht rechnen.

Kurz und gut, es ist, wenn man die Erkenntnis der Unvollkommenheit
alles Menschlichen im allgemeinen und aller wissenschaftlichen Leistungen im
besondern auch dem Litteraturgeschichtschreiber zu gute kommen läßt, wohl eine
Litteraturgeschichte der Gegenwart möglich, die planvoll verfährt, abgrenzende
Linien zieht, abrundende Formen gestaltet, abschließende Urteile sällt so gut
wie ein Werk, das hundert Jahre später kommt. Nur muß man natürlich
nicht das Jahr, wo man gerade lebt, als Gegenwart auffassen, sondern den
Spielraum etwa eines Menschenalters gestatten, und ferner für das objektiv-


Die Alten und die Jungen

im Wege, die geistige Bewegung selbst als tels sekundäre, die Bücher, zumal
wenn sie künstlerische Werke sind, als das Primäre, als Thaten anzunehmen,
von denen die Bewegung ausgeht, wobei man freilich nicht vergessen darf, daß
auch die künstlerische oder geistige That wieder aus natürlichen Bedingungen
hervorwächst. Aber diese Bedingungen liegen ja, sobald das Werk daist, nicht
in der Gegenwart, sondern schon in der Vergangenheit, und wir können daher
die Frage: Was verdankt eine Erscheinung ihren Vorgängern, was ihrer eignen
Individualität? in der Regel sofort beantworten, wenn wir nur die Vergangen¬
heit gründlich kennen. Schwieriger erscheint schon die Beantwortung der Frage:
Was verdankt sie der allgemeinen Strömung der Zeit? Ich nehme aber an,
daß eine bedeutendere Persönlichkeit — und eine solche muß der Litteratur¬
geschichtschreiber, jeder Geschichtschreiber sein, die Methode thut es nicht — auch
über die vorherrschende Strömung der Zeit, selbst über die Ueberströmungen
eine aus der genauen Kenntnis der Vergangenheit und eigner Anschauungs¬
kraft (Intuition) gewonnene verhältnismüßig richtige Anschauung haben kann,
die denen, die Späterlebende gewinnen können, mindestens gleichwertig ist.
Sind die Litteraturwerke zum Teil Niederschlag der Zeitströmungen, so ermög¬
lichen sie eben dem scharfen, klaren, vor allem dem „intuitiver" Geiste auch
das Verständnis seiner Zeit, und die Vergleichung einer größern Anzahl von
Werken wird dann bald klar herausstellen, was persönliches, was Zeitgut ist.
Die Frage endlich, wie die Wirkung der Erscheinungen auf die Nachwelt ist,
scheint mir keineswegs die wichtigste zu sein. Zunächst hat wie jeder Mensch,
auch der Dichter und Schriftsteller seiner Zeit zu leben, und die Wirkung, die
er auf feine Zeit übt, und die sich im allgemeinen feststellen läßt, ist sür den
Geschichtschreiber unmittelbar maßgebend; nur wenige Persönlichkeiten wirken
ja auch über ihre Zeit hinaus. Ich halte es aber auch nicht für unmöglich,
daß der Litteraturgeschichtschreiber seiner Zeit diese Persönlichkeiten und die
wahrhaft bedeutenden Werke erkennt und ihre Wirkung auf die Nachwelt richtig
bemißt. Ganz zweifellos hat es zu jeder Zeit Menschen gegeben, die sich durch
den Erfolg nicht blenden ließen, das Echte und Bleibende, wenn nicht auf
Grund ihrer ästhetischen und Verstandesbildung, so doch instinktiv erkannten,
und zu diesen muß freilich der Litteraturgeschichtschreiber gehören, mit der
großen Menge der Unberufnen kann man nicht rechnen.

Kurz und gut, es ist, wenn man die Erkenntnis der Unvollkommenheit
alles Menschlichen im allgemeinen und aller wissenschaftlichen Leistungen im
besondern auch dem Litteraturgeschichtschreiber zu gute kommen läßt, wohl eine
Litteraturgeschichte der Gegenwart möglich, die planvoll verfährt, abgrenzende
Linien zieht, abrundende Formen gestaltet, abschließende Urteile sällt so gut
wie ein Werk, das hundert Jahre später kommt. Nur muß man natürlich
nicht das Jahr, wo man gerade lebt, als Gegenwart auffassen, sondern den
Spielraum etwa eines Menschenalters gestatten, und ferner für das objektiv-


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[0228] Die Alten und die Jungen im Wege, die geistige Bewegung selbst als tels sekundäre, die Bücher, zumal wenn sie künstlerische Werke sind, als das Primäre, als Thaten anzunehmen, von denen die Bewegung ausgeht, wobei man freilich nicht vergessen darf, daß auch die künstlerische oder geistige That wieder aus natürlichen Bedingungen hervorwächst. Aber diese Bedingungen liegen ja, sobald das Werk daist, nicht in der Gegenwart, sondern schon in der Vergangenheit, und wir können daher die Frage: Was verdankt eine Erscheinung ihren Vorgängern, was ihrer eignen Individualität? in der Regel sofort beantworten, wenn wir nur die Vergangen¬ heit gründlich kennen. Schwieriger erscheint schon die Beantwortung der Frage: Was verdankt sie der allgemeinen Strömung der Zeit? Ich nehme aber an, daß eine bedeutendere Persönlichkeit — und eine solche muß der Litteratur¬ geschichtschreiber, jeder Geschichtschreiber sein, die Methode thut es nicht — auch über die vorherrschende Strömung der Zeit, selbst über die Ueberströmungen eine aus der genauen Kenntnis der Vergangenheit und eigner Anschauungs¬ kraft (Intuition) gewonnene verhältnismüßig richtige Anschauung haben kann, die denen, die Späterlebende gewinnen können, mindestens gleichwertig ist. Sind die Litteraturwerke zum Teil Niederschlag der Zeitströmungen, so ermög¬ lichen sie eben dem scharfen, klaren, vor allem dem „intuitiver" Geiste auch das Verständnis seiner Zeit, und die Vergleichung einer größern Anzahl von Werken wird dann bald klar herausstellen, was persönliches, was Zeitgut ist. Die Frage endlich, wie die Wirkung der Erscheinungen auf die Nachwelt ist, scheint mir keineswegs die wichtigste zu sein. Zunächst hat wie jeder Mensch, auch der Dichter und Schriftsteller seiner Zeit zu leben, und die Wirkung, die er auf feine Zeit übt, und die sich im allgemeinen feststellen läßt, ist sür den Geschichtschreiber unmittelbar maßgebend; nur wenige Persönlichkeiten wirken ja auch über ihre Zeit hinaus. Ich halte es aber auch nicht für unmöglich, daß der Litteraturgeschichtschreiber seiner Zeit diese Persönlichkeiten und die wahrhaft bedeutenden Werke erkennt und ihre Wirkung auf die Nachwelt richtig bemißt. Ganz zweifellos hat es zu jeder Zeit Menschen gegeben, die sich durch den Erfolg nicht blenden ließen, das Echte und Bleibende, wenn nicht auf Grund ihrer ästhetischen und Verstandesbildung, so doch instinktiv erkannten, und zu diesen muß freilich der Litteraturgeschichtschreiber gehören, mit der großen Menge der Unberufnen kann man nicht rechnen. Kurz und gut, es ist, wenn man die Erkenntnis der Unvollkommenheit alles Menschlichen im allgemeinen und aller wissenschaftlichen Leistungen im besondern auch dem Litteraturgeschichtschreiber zu gute kommen läßt, wohl eine Litteraturgeschichte der Gegenwart möglich, die planvoll verfährt, abgrenzende Linien zieht, abrundende Formen gestaltet, abschließende Urteile sällt so gut wie ein Werk, das hundert Jahre später kommt. Nur muß man natürlich nicht das Jahr, wo man gerade lebt, als Gegenwart auffassen, sondern den Spielraum etwa eines Menschenalters gestatten, und ferner für das objektiv-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/228>, abgerufen am 01.09.2024.