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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

Mag auch die Zahl der neuen Schattirungen der alten Lebensansichten ins
Unendliche wachsen, die alten drei Grundansichten bleiben doch bestehen, und
alle neuen Philosophien sind nur Variationen davon. Entweder man hält
mit dem Alten Testament und mit den Hellenen das Leben für ein Gut, wofür
man der Gottheit Dank schuldig sei, und man glaubt, daß die Übel dieses
Lebens durch Liebe. Gerechtigkeit und verständige Einrichtungen teils beseitigt,
teils bis zur Erträglichkeit gemildert werden können. Oder man hält mit den
Indern die Welt für unverbesserlich schlecht und das Leben sür ein Unglück.
Oder man nimmt die vom Christentum dargebotne mittlere Ansicht an. wonach
das Leben zwar ein Gut, aber ein für die meisten Menschen der Ergänzung
durch den Glauben an ein Jenseits bedürftiges Gut ist. Als Grundlage für
das Handeln sind nur die erste und die dritte Ansicht zu brauchen; mit dem
Pessimismus läßt sich nichts anfangen, und wer ihm verfallen ist, für den ist
es gleichgiltig, ob er durch Temperament, durch persönliches Unglück oder
durch das Klima dazu gekommen ist, oder ob er sich auf dem mühseligen Um¬
wege über die kritische Philosophie bis in diese Wasser- und vegetationslose
Wüste durchgeschlagen hat, um darin zu verschmachten.




Die Alten und die Jungen
Ein Beitrag zur deutschen Litteraturgeschichte der Gegenwart
Adolf Barrels von
1

erthold Litzmann sagt in seinem Buche "Das deutsche Drama
in deu litterarischen Bewegungen der Gegenwart" (Hamburg,
Leopold Voß): "Eine Geschichte der Litteratur der Gegenwart
ist für den, der diese Aufgabe in ihrem ganzen Ernst und in
ihrem ganzen Umfang erfaßt, ein Unding, eine Unmöglichkeit.
Ebenso wenig wie ich mit meinen Händen die gleitenden Wellen greifen und
in Formen zwingen kann, ebenso unmöglich ist es für einen, der noch mitten
in einer litterarischen Bewegung steht, für eine systematische Darstellung die
abgrenzenden Linien zu ziehen, die abrundenden Formen zu gestalten, die ab¬
schließenden Urteile zu fällen, die man von einem als Geschichte der Litteratur
eines bestimmten Zeitraums sich ankündigenden Unternehmen erwarten und
fordern darf. Wer Litteraturgeschichte schreibt oder vorträgt, muß in seinem


Die Alten und die Jungen

Mag auch die Zahl der neuen Schattirungen der alten Lebensansichten ins
Unendliche wachsen, die alten drei Grundansichten bleiben doch bestehen, und
alle neuen Philosophien sind nur Variationen davon. Entweder man hält
mit dem Alten Testament und mit den Hellenen das Leben für ein Gut, wofür
man der Gottheit Dank schuldig sei, und man glaubt, daß die Übel dieses
Lebens durch Liebe. Gerechtigkeit und verständige Einrichtungen teils beseitigt,
teils bis zur Erträglichkeit gemildert werden können. Oder man hält mit den
Indern die Welt für unverbesserlich schlecht und das Leben sür ein Unglück.
Oder man nimmt die vom Christentum dargebotne mittlere Ansicht an. wonach
das Leben zwar ein Gut, aber ein für die meisten Menschen der Ergänzung
durch den Glauben an ein Jenseits bedürftiges Gut ist. Als Grundlage für
das Handeln sind nur die erste und die dritte Ansicht zu brauchen; mit dem
Pessimismus läßt sich nichts anfangen, und wer ihm verfallen ist, für den ist
es gleichgiltig, ob er durch Temperament, durch persönliches Unglück oder
durch das Klima dazu gekommen ist, oder ob er sich auf dem mühseligen Um¬
wege über die kritische Philosophie bis in diese Wasser- und vegetationslose
Wüste durchgeschlagen hat, um darin zu verschmachten.




Die Alten und die Jungen
Ein Beitrag zur deutschen Litteraturgeschichte der Gegenwart
Adolf Barrels von
1

erthold Litzmann sagt in seinem Buche „Das deutsche Drama
in deu litterarischen Bewegungen der Gegenwart" (Hamburg,
Leopold Voß): „Eine Geschichte der Litteratur der Gegenwart
ist für den, der diese Aufgabe in ihrem ganzen Ernst und in
ihrem ganzen Umfang erfaßt, ein Unding, eine Unmöglichkeit.
Ebenso wenig wie ich mit meinen Händen die gleitenden Wellen greifen und
in Formen zwingen kann, ebenso unmöglich ist es für einen, der noch mitten
in einer litterarischen Bewegung steht, für eine systematische Darstellung die
abgrenzenden Linien zu ziehen, die abrundenden Formen zu gestalten, die ab¬
schließenden Urteile zu fällen, die man von einem als Geschichte der Litteratur
eines bestimmten Zeitraums sich ankündigenden Unternehmen erwarten und
fordern darf. Wer Litteraturgeschichte schreibt oder vorträgt, muß in seinem


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[0226] Die Alten und die Jungen Mag auch die Zahl der neuen Schattirungen der alten Lebensansichten ins Unendliche wachsen, die alten drei Grundansichten bleiben doch bestehen, und alle neuen Philosophien sind nur Variationen davon. Entweder man hält mit dem Alten Testament und mit den Hellenen das Leben für ein Gut, wofür man der Gottheit Dank schuldig sei, und man glaubt, daß die Übel dieses Lebens durch Liebe. Gerechtigkeit und verständige Einrichtungen teils beseitigt, teils bis zur Erträglichkeit gemildert werden können. Oder man hält mit den Indern die Welt für unverbesserlich schlecht und das Leben sür ein Unglück. Oder man nimmt die vom Christentum dargebotne mittlere Ansicht an. wonach das Leben zwar ein Gut, aber ein für die meisten Menschen der Ergänzung durch den Glauben an ein Jenseits bedürftiges Gut ist. Als Grundlage für das Handeln sind nur die erste und die dritte Ansicht zu brauchen; mit dem Pessimismus läßt sich nichts anfangen, und wer ihm verfallen ist, für den ist es gleichgiltig, ob er durch Temperament, durch persönliches Unglück oder durch das Klima dazu gekommen ist, oder ob er sich auf dem mühseligen Um¬ wege über die kritische Philosophie bis in diese Wasser- und vegetationslose Wüste durchgeschlagen hat, um darin zu verschmachten. Die Alten und die Jungen Ein Beitrag zur deutschen Litteraturgeschichte der Gegenwart Adolf Barrels von 1 erthold Litzmann sagt in seinem Buche „Das deutsche Drama in deu litterarischen Bewegungen der Gegenwart" (Hamburg, Leopold Voß): „Eine Geschichte der Litteratur der Gegenwart ist für den, der diese Aufgabe in ihrem ganzen Ernst und in ihrem ganzen Umfang erfaßt, ein Unding, eine Unmöglichkeit. Ebenso wenig wie ich mit meinen Händen die gleitenden Wellen greifen und in Formen zwingen kann, ebenso unmöglich ist es für einen, der noch mitten in einer litterarischen Bewegung steht, für eine systematische Darstellung die abgrenzenden Linien zu ziehen, die abrundenden Formen zu gestalten, die ab¬ schließenden Urteile zu fällen, die man von einem als Geschichte der Litteratur eines bestimmten Zeitraums sich ankündigenden Unternehmen erwarten und fordern darf. Wer Litteraturgeschichte schreibt oder vorträgt, muß in seinem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/226>, abgerufen am 01.09.2024.