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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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WelterklLrungsversuche

Außenwelt, ein Gedanke, den auch Lotze ausgeführt hat, mit besondrer Be¬
tonung des Umstandes, daß es die Empfindung, nicht die Vorstellung ist, Mas
die lebendigen Wesen zu wirklich lebendigen, zu bewußten Wesen macht. Was
den von den Pessimisten behaupteten illusionären Charakter der Lustgefühle
anbetrifft, so meint Spir, daß die Unlustgefühle keine Illusion seien, den Lust¬
gefühlen aber wenigstens Illusion beigemischt sei.

Erst aus deu Unlustgefühlen entspringt das Wollen, das ursprünglich nichts
andres ist als das Streben nach Aufhebung des unlustigen Zustandes; der
Wille kann also nicht, wie Schopenhauer gemeint hat, das Ursprüngliche oder
gar der Weltschöpfer sein (II, 229). Die Unlustgefühle sind die einzigen
lebendigen Quellen von Veränderungen. "Nichts in der Welt enthält eine
innere Notwendigkeit von Veränderungen, außer den Gefühlen von Schmerz
und Unlust" (I, 224). Wenn sich jedes Wesen in seiner Lage vollkommen
wohl fühlte, so gäbe es nicht einen einzigen Anlaß zur Veränderung in der
Welt der bewußten Wesen. Der Schmerz, den alle lebenden Wesen los zu
werden streben, ist nun offenbar etwas, was nicht sein soll. Das Bewußtsein
des Nichtseinsollenden erzeugt aber die Vorstellung des seinsollenden und unsre
Sehnsucht darnach, d. h. die Religion.

Der Gegenstand der Religion, das Unbedingte, Normale, das Ideal,
Gott kann aber unmöglich der Urheber dieser schlechten Wirklichkeit sein. "Das
Grundgesetz, die Norm unsers Denkens, ist der Begriff, den wir von dem Un¬
bedingten, von der Substanz haben. Das ist der Begriff eines Gegenstandes,
der ein wahrhaft eignes Wesen besitzt und mit sich selbst identisch ist, d. h.
keine Vereinigung des Verschiednem enthält. Das Bedingte entspricht dieser
Norm nicht; es hat eine abnorme Beschaffenheit." Die vier Grundzüge dieser
Beschaffenheit sind: "1. Die Vergänglichkeit und Veränderlichkeit; 2. die Be¬
dingtheit ^Abhängigkeit^ der empirischen Objekte; 3. die Täuschung, auf der
die Welt der Erfahrung durchgängig beruht; 4. das unmittelbare Gefühl der
Abnormität und UnVollkommenheit als Schmerz" (I, 406 bis 411). In welchem
Verhältnis steht nun das Bedingte zum Unbedingten? Es kann weder ein
Teil, noch eine Vorstellung, noch eine Wirkung von ihm sein; so wenig die
Wahrheit den Trug gebären kann, so wenig kann Gott diese Welt geschaffen
haben. Nur der Träger oder die Substanz des Bedingten ist das Unbedingte
(I, 297 bis 301). Wenn die Religion in der Erhebung über diese gemeine
Wirklichkeit besteht, so kann der Gegenstand der Religion unmöglich der Ur¬
heber dieser gemeinen Wirklichkeit sein (III, 123 bis 129). "Was kann
empörender sein als die Annahme, daß ein Gott diese auf Täuschung be¬
ruhende und leidensvolle Welt absichtlich geschaffen, dem Menschen hinterlistig
auf jedem Schritte Fallstricke gelegt habe, die ihn in Irrtum führen, um ihn
desto mehr mit Übeln zu überhäufen? Diese Annahme ist, genau besehen, die
ärgste Blasphemie gegen die Gottheit und noch schlimmer als die atheistische


Grenzboten III 1896 27
WelterklLrungsversuche

Außenwelt, ein Gedanke, den auch Lotze ausgeführt hat, mit besondrer Be¬
tonung des Umstandes, daß es die Empfindung, nicht die Vorstellung ist, Mas
die lebendigen Wesen zu wirklich lebendigen, zu bewußten Wesen macht. Was
den von den Pessimisten behaupteten illusionären Charakter der Lustgefühle
anbetrifft, so meint Spir, daß die Unlustgefühle keine Illusion seien, den Lust¬
gefühlen aber wenigstens Illusion beigemischt sei.

Erst aus deu Unlustgefühlen entspringt das Wollen, das ursprünglich nichts
andres ist als das Streben nach Aufhebung des unlustigen Zustandes; der
Wille kann also nicht, wie Schopenhauer gemeint hat, das Ursprüngliche oder
gar der Weltschöpfer sein (II, 229). Die Unlustgefühle sind die einzigen
lebendigen Quellen von Veränderungen. „Nichts in der Welt enthält eine
innere Notwendigkeit von Veränderungen, außer den Gefühlen von Schmerz
und Unlust" (I, 224). Wenn sich jedes Wesen in seiner Lage vollkommen
wohl fühlte, so gäbe es nicht einen einzigen Anlaß zur Veränderung in der
Welt der bewußten Wesen. Der Schmerz, den alle lebenden Wesen los zu
werden streben, ist nun offenbar etwas, was nicht sein soll. Das Bewußtsein
des Nichtseinsollenden erzeugt aber die Vorstellung des seinsollenden und unsre
Sehnsucht darnach, d. h. die Religion.

Der Gegenstand der Religion, das Unbedingte, Normale, das Ideal,
Gott kann aber unmöglich der Urheber dieser schlechten Wirklichkeit sein. „Das
Grundgesetz, die Norm unsers Denkens, ist der Begriff, den wir von dem Un¬
bedingten, von der Substanz haben. Das ist der Begriff eines Gegenstandes,
der ein wahrhaft eignes Wesen besitzt und mit sich selbst identisch ist, d. h.
keine Vereinigung des Verschiednem enthält. Das Bedingte entspricht dieser
Norm nicht; es hat eine abnorme Beschaffenheit." Die vier Grundzüge dieser
Beschaffenheit sind: „1. Die Vergänglichkeit und Veränderlichkeit; 2. die Be¬
dingtheit ^Abhängigkeit^ der empirischen Objekte; 3. die Täuschung, auf der
die Welt der Erfahrung durchgängig beruht; 4. das unmittelbare Gefühl der
Abnormität und UnVollkommenheit als Schmerz" (I, 406 bis 411). In welchem
Verhältnis steht nun das Bedingte zum Unbedingten? Es kann weder ein
Teil, noch eine Vorstellung, noch eine Wirkung von ihm sein; so wenig die
Wahrheit den Trug gebären kann, so wenig kann Gott diese Welt geschaffen
haben. Nur der Träger oder die Substanz des Bedingten ist das Unbedingte
(I, 297 bis 301). Wenn die Religion in der Erhebung über diese gemeine
Wirklichkeit besteht, so kann der Gegenstand der Religion unmöglich der Ur¬
heber dieser gemeinen Wirklichkeit sein (III, 123 bis 129). „Was kann
empörender sein als die Annahme, daß ein Gott diese auf Täuschung be¬
ruhende und leidensvolle Welt absichtlich geschaffen, dem Menschen hinterlistig
auf jedem Schritte Fallstricke gelegt habe, die ihn in Irrtum führen, um ihn
desto mehr mit Übeln zu überhäufen? Diese Annahme ist, genau besehen, die
ärgste Blasphemie gegen die Gottheit und noch schlimmer als die atheistische


Grenzboten III 1896 27
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[0217] WelterklLrungsversuche Außenwelt, ein Gedanke, den auch Lotze ausgeführt hat, mit besondrer Be¬ tonung des Umstandes, daß es die Empfindung, nicht die Vorstellung ist, Mas die lebendigen Wesen zu wirklich lebendigen, zu bewußten Wesen macht. Was den von den Pessimisten behaupteten illusionären Charakter der Lustgefühle anbetrifft, so meint Spir, daß die Unlustgefühle keine Illusion seien, den Lust¬ gefühlen aber wenigstens Illusion beigemischt sei. Erst aus deu Unlustgefühlen entspringt das Wollen, das ursprünglich nichts andres ist als das Streben nach Aufhebung des unlustigen Zustandes; der Wille kann also nicht, wie Schopenhauer gemeint hat, das Ursprüngliche oder gar der Weltschöpfer sein (II, 229). Die Unlustgefühle sind die einzigen lebendigen Quellen von Veränderungen. „Nichts in der Welt enthält eine innere Notwendigkeit von Veränderungen, außer den Gefühlen von Schmerz und Unlust" (I, 224). Wenn sich jedes Wesen in seiner Lage vollkommen wohl fühlte, so gäbe es nicht einen einzigen Anlaß zur Veränderung in der Welt der bewußten Wesen. Der Schmerz, den alle lebenden Wesen los zu werden streben, ist nun offenbar etwas, was nicht sein soll. Das Bewußtsein des Nichtseinsollenden erzeugt aber die Vorstellung des seinsollenden und unsre Sehnsucht darnach, d. h. die Religion. Der Gegenstand der Religion, das Unbedingte, Normale, das Ideal, Gott kann aber unmöglich der Urheber dieser schlechten Wirklichkeit sein. „Das Grundgesetz, die Norm unsers Denkens, ist der Begriff, den wir von dem Un¬ bedingten, von der Substanz haben. Das ist der Begriff eines Gegenstandes, der ein wahrhaft eignes Wesen besitzt und mit sich selbst identisch ist, d. h. keine Vereinigung des Verschiednem enthält. Das Bedingte entspricht dieser Norm nicht; es hat eine abnorme Beschaffenheit." Die vier Grundzüge dieser Beschaffenheit sind: „1. Die Vergänglichkeit und Veränderlichkeit; 2. die Be¬ dingtheit ^Abhängigkeit^ der empirischen Objekte; 3. die Täuschung, auf der die Welt der Erfahrung durchgängig beruht; 4. das unmittelbare Gefühl der Abnormität und UnVollkommenheit als Schmerz" (I, 406 bis 411). In welchem Verhältnis steht nun das Bedingte zum Unbedingten? Es kann weder ein Teil, noch eine Vorstellung, noch eine Wirkung von ihm sein; so wenig die Wahrheit den Trug gebären kann, so wenig kann Gott diese Welt geschaffen haben. Nur der Träger oder die Substanz des Bedingten ist das Unbedingte (I, 297 bis 301). Wenn die Religion in der Erhebung über diese gemeine Wirklichkeit besteht, so kann der Gegenstand der Religion unmöglich der Ur¬ heber dieser gemeinen Wirklichkeit sein (III, 123 bis 129). „Was kann empörender sein als die Annahme, daß ein Gott diese auf Täuschung be¬ ruhende und leidensvolle Welt absichtlich geschaffen, dem Menschen hinterlistig auf jedem Schritte Fallstricke gelegt habe, die ihn in Irrtum führen, um ihn desto mehr mit Übeln zu überhäufen? Diese Annahme ist, genau besehen, die ärgste Blasphemie gegen die Gottheit und noch schlimmer als die atheistische Grenzboten III 1896 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/217>, abgerufen am 01.09.2024.