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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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welterkläruiigsversuche

Alle die hier angestellten Betrachtungen nud Vorschlüge dürften in dem
Nahmen der allgemeinen Wehrpflicht liegen; die allgemeine Wehrpflicht würde
erst dann im Sinne Scharnhorsts vollständig durchgeführt sein, wenn Jugend¬
erziehung, Dienst bei der Fahne und vaterländische Vereinigungen nach dem
Austritt aus dem Heere in eine planvolle Verbindung gebracht wären. Kein
Volk würde imstande sein, uns zu überwinden, wenn wir unsre Kraft in der
angedeuteten Weise sofort auf den Befehl zur Mobilmachung für Kampf, Ersatz
des Abgangs, Pflege der Verwundeten und Kranken und Ordnung im Innern
<L, v. H. des Vaterlandes in kürzester Frist entwickeln könnten.




Welterklärungsversuche
i

vlange ein Volk keine andre als seine eignen Glaubensmeinungen
kennt und seine Priester oder einige seiner Priester die einzigen
Denkenden unter ihm sind, solange fühlt sich der durchschnittliche
Volksgenosse durch die Auskunft über die ersten und letzten Dinge,
die ihm seine Religion gewährt, vollkommen befriedigt. Bei uns
sorgen die Schulbildung, die Presse und der Weltverkehr dafür, daß jeder so
ziemlich alle Glaubensmeinungen, die jemals in der Welt geherrscht haben,
wenn auch meist nur sehr oberflächlich, kennen lernt, und da auch ein viel¬
facher Zwang zum Denken geübt wird, so ist fast jedermann ein wenig Philo¬
soph, d. h. er versucht sich im Welterklüren, oder er wählt wenigstens zwischen
den Erklärungen, die ihm dargeboten werden, und modelt die erkorne nach
seinem Geschmack und Bedürfnis. Nomanleser Pflegen aller vierzehn Tage oder
vier Wochen eine andre Weltanschauung zu haben, nämlich jedesmal die des
Nomanhelden, mit dem sie sich gerade beschäftigen. Und wer nun schreiben
kann und Zeit dazu hat, der bringt seine Religion oder Philosophie gern zu
Papier und, wenn er einen Verleger findet, in die Öffentlichkeit. Findet eine
solche gedruckte Weltweisheit Leser, so findet sie gewöhnlich auch einige Gläu¬
bige, denen sie genügt, wie sie dem Verfasser genügt hat. Bildet sich dieser
ein, das Welträtsel gelöst zu haben, so ist das eine Illusion, die ihm Freude
macht und niemandem schadet; unangenehm wird die Sache für ihn erst, wenn
er sich einbildet, seine Lösung müsse aller Welt genügen, und die Menschheit
müsse ihn als ihren Heiland begrüßen; denn dann wird er zwar nicht ge¬
kreuzigt, aber ausgelacht. Wir unsrerseits wissen es längst, daß es hienieden


Grenzboten III 1896 21
welterkläruiigsversuche

Alle die hier angestellten Betrachtungen nud Vorschlüge dürften in dem
Nahmen der allgemeinen Wehrpflicht liegen; die allgemeine Wehrpflicht würde
erst dann im Sinne Scharnhorsts vollständig durchgeführt sein, wenn Jugend¬
erziehung, Dienst bei der Fahne und vaterländische Vereinigungen nach dem
Austritt aus dem Heere in eine planvolle Verbindung gebracht wären. Kein
Volk würde imstande sein, uns zu überwinden, wenn wir unsre Kraft in der
angedeuteten Weise sofort auf den Befehl zur Mobilmachung für Kampf, Ersatz
des Abgangs, Pflege der Verwundeten und Kranken und Ordnung im Innern
<L, v. H. des Vaterlandes in kürzester Frist entwickeln könnten.




Welterklärungsversuche
i

vlange ein Volk keine andre als seine eignen Glaubensmeinungen
kennt und seine Priester oder einige seiner Priester die einzigen
Denkenden unter ihm sind, solange fühlt sich der durchschnittliche
Volksgenosse durch die Auskunft über die ersten und letzten Dinge,
die ihm seine Religion gewährt, vollkommen befriedigt. Bei uns
sorgen die Schulbildung, die Presse und der Weltverkehr dafür, daß jeder so
ziemlich alle Glaubensmeinungen, die jemals in der Welt geherrscht haben,
wenn auch meist nur sehr oberflächlich, kennen lernt, und da auch ein viel¬
facher Zwang zum Denken geübt wird, so ist fast jedermann ein wenig Philo¬
soph, d. h. er versucht sich im Welterklüren, oder er wählt wenigstens zwischen
den Erklärungen, die ihm dargeboten werden, und modelt die erkorne nach
seinem Geschmack und Bedürfnis. Nomanleser Pflegen aller vierzehn Tage oder
vier Wochen eine andre Weltanschauung zu haben, nämlich jedesmal die des
Nomanhelden, mit dem sie sich gerade beschäftigen. Und wer nun schreiben
kann und Zeit dazu hat, der bringt seine Religion oder Philosophie gern zu
Papier und, wenn er einen Verleger findet, in die Öffentlichkeit. Findet eine
solche gedruckte Weltweisheit Leser, so findet sie gewöhnlich auch einige Gläu¬
bige, denen sie genügt, wie sie dem Verfasser genügt hat. Bildet sich dieser
ein, das Welträtsel gelöst zu haben, so ist das eine Illusion, die ihm Freude
macht und niemandem schadet; unangenehm wird die Sache für ihn erst, wenn
er sich einbildet, seine Lösung müsse aller Welt genügen, und die Menschheit
müsse ihn als ihren Heiland begrüßen; denn dann wird er zwar nicht ge¬
kreuzigt, aber ausgelacht. Wir unsrerseits wissen es längst, daß es hienieden


Grenzboten III 1896 21
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[0169] welterkläruiigsversuche Alle die hier angestellten Betrachtungen nud Vorschlüge dürften in dem Nahmen der allgemeinen Wehrpflicht liegen; die allgemeine Wehrpflicht würde erst dann im Sinne Scharnhorsts vollständig durchgeführt sein, wenn Jugend¬ erziehung, Dienst bei der Fahne und vaterländische Vereinigungen nach dem Austritt aus dem Heere in eine planvolle Verbindung gebracht wären. Kein Volk würde imstande sein, uns zu überwinden, wenn wir unsre Kraft in der angedeuteten Weise sofort auf den Befehl zur Mobilmachung für Kampf, Ersatz des Abgangs, Pflege der Verwundeten und Kranken und Ordnung im Innern <L, v. H. des Vaterlandes in kürzester Frist entwickeln könnten. Welterklärungsversuche i vlange ein Volk keine andre als seine eignen Glaubensmeinungen kennt und seine Priester oder einige seiner Priester die einzigen Denkenden unter ihm sind, solange fühlt sich der durchschnittliche Volksgenosse durch die Auskunft über die ersten und letzten Dinge, die ihm seine Religion gewährt, vollkommen befriedigt. Bei uns sorgen die Schulbildung, die Presse und der Weltverkehr dafür, daß jeder so ziemlich alle Glaubensmeinungen, die jemals in der Welt geherrscht haben, wenn auch meist nur sehr oberflächlich, kennen lernt, und da auch ein viel¬ facher Zwang zum Denken geübt wird, so ist fast jedermann ein wenig Philo¬ soph, d. h. er versucht sich im Welterklüren, oder er wählt wenigstens zwischen den Erklärungen, die ihm dargeboten werden, und modelt die erkorne nach seinem Geschmack und Bedürfnis. Nomanleser Pflegen aller vierzehn Tage oder vier Wochen eine andre Weltanschauung zu haben, nämlich jedesmal die des Nomanhelden, mit dem sie sich gerade beschäftigen. Und wer nun schreiben kann und Zeit dazu hat, der bringt seine Religion oder Philosophie gern zu Papier und, wenn er einen Verleger findet, in die Öffentlichkeit. Findet eine solche gedruckte Weltweisheit Leser, so findet sie gewöhnlich auch einige Gläu¬ bige, denen sie genügt, wie sie dem Verfasser genügt hat. Bildet sich dieser ein, das Welträtsel gelöst zu haben, so ist das eine Illusion, die ihm Freude macht und niemandem schadet; unangenehm wird die Sache für ihn erst, wenn er sich einbildet, seine Lösung müsse aller Welt genügen, und die Menschheit müsse ihn als ihren Heiland begrüßen; denn dann wird er zwar nicht ge¬ kreuzigt, aber ausgelacht. Wir unsrerseits wissen es längst, daß es hienieden Grenzboten III 1896 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/169>, abgerufen am 24.11.2024.