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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Richard lNuther und die deutsche Kunstwissenschaft

dieser Gesetze in der Vergangenheit nachzuspüren. Giebt man das aber nicht
zu, stellt man sich "jenseits von Gut und Böse" und läßt nur "den Willen
zum Nichts" gelten, was hat dann die Beschäftigung mit der Vergangenheit
überhaupt sür Wert?

So darf denn auch Mulder die Aufgabe des Kunsthistorikers nicht so
gering fassen, wie er es Band 1, Seite 165 thut, indem er seine Thätigkeit
lediglich auf die des Berichterstatters einschränkt. Wohl ist unsre Aufgabe
vor allem, die Geschichte der Kunst zu verstehen, dem nachzuspüren, was die
Künstler wollten, wie sie es wollten, und wie sie das Gewollte zum Ausdruck
bringen konnten. Es war verkehrt, wie man es früher that, nach g. priori
aufgestellten Gesetzen über das Schöne die Geschichte der Kunst zu modeln. Zur
Verbreitung dieser Erkenntnis wesentlich beigetragen zu haben, ist ein Verdienst
Muthers. Wir sind heute zum Teil dank ihm der Überzeugung, daß uns nicht
neue Kunsttheorien not thun, sondern eine Kunstgeschichte, die ohne Tendenz
feststellt, was man früher wollte, und andrerseits scharf ausgeprägte Künstler-
persönlichkeiten, an denen wir dann weiter beobachten können. Aber bei allem
ehrlichen, unbefangnen Eingehen auf die Absichten der Künstler dürfen wir
doch niemals darauf verzichten, uach höhern, unser Urteil begründenden Ge¬
sichtspunkten zu streben. Denn urteilen müssen wir doch immer; das thut auch
Mulder. Und dann, wenn man genötigt ist, Urteile auszusprechen, nach einer
festern Grundlage unsers Urteils zu streben, als sie das bloße Temperament
bietet, das ist ein Recht, das in der Wissenschaft zur Pflicht wird. Daß
Mulder diese Pflicht verkennt, nenne ich unwissenschaftlich. Und diese Ver¬
nachlässigung rächt sich an seinem eignen Werke. Im ersten Teile fühlt man
deutlich, wie Mulder, oder ich muß wohl sagen sein "Temperament," einen
gesunden Realismus für das Wahre hält, für das, was vor seinem Urteile
besteht. In den Schlußteilen aber erhebt er den Neuidealismns und Symbo¬
lismus auf den Schild. Sehr natürlich! denn die Münchner Künstlerkreise,
deren Interpret zu sein seinem Temperament als höchste Aufgabe erschien,
hatten inzwischen eine Wandlung durchgemacht. Einen solchen Wandel des
Urteils in einunddemselben Buche kann die Wissenschaft nicht loben. Er
wird auch dem nicht begegnen, der sein Urteil nicht bloß von der jeweiligen
Stimmung abhängig macht, sondern auf Grund sorgfältiger Beobachtung
des Wesens und des Schaffens der Künstler in der Erkenntnis allgemein
giltiger Wahrheiten weiter zu kommen hofft.

In dem zuletzt angeführten Punkte liegt schon der zweite Vorwurf an-
gedentet, den ich Mulder zu machen habe: daß seine Beweisführung in sich
widerspruchsvoll ist, und daß er das gefährliche Spiel mit halben Wahrheiten
treibt. Ein paar Beispiele werden das belegen. Wie Mulder richtig die Ver¬
kehrtheit der ältern Forschung zeigt, die nach n. priori gemachten Gesetzen
arbeitete, nun aber auch gleich den Schluß zieht, daß gar keine Gesetze maß-


Richard lNuther und die deutsche Kunstwissenschaft

dieser Gesetze in der Vergangenheit nachzuspüren. Giebt man das aber nicht
zu, stellt man sich „jenseits von Gut und Böse" und läßt nur „den Willen
zum Nichts" gelten, was hat dann die Beschäftigung mit der Vergangenheit
überhaupt sür Wert?

So darf denn auch Mulder die Aufgabe des Kunsthistorikers nicht so
gering fassen, wie er es Band 1, Seite 165 thut, indem er seine Thätigkeit
lediglich auf die des Berichterstatters einschränkt. Wohl ist unsre Aufgabe
vor allem, die Geschichte der Kunst zu verstehen, dem nachzuspüren, was die
Künstler wollten, wie sie es wollten, und wie sie das Gewollte zum Ausdruck
bringen konnten. Es war verkehrt, wie man es früher that, nach g. priori
aufgestellten Gesetzen über das Schöne die Geschichte der Kunst zu modeln. Zur
Verbreitung dieser Erkenntnis wesentlich beigetragen zu haben, ist ein Verdienst
Muthers. Wir sind heute zum Teil dank ihm der Überzeugung, daß uns nicht
neue Kunsttheorien not thun, sondern eine Kunstgeschichte, die ohne Tendenz
feststellt, was man früher wollte, und andrerseits scharf ausgeprägte Künstler-
persönlichkeiten, an denen wir dann weiter beobachten können. Aber bei allem
ehrlichen, unbefangnen Eingehen auf die Absichten der Künstler dürfen wir
doch niemals darauf verzichten, uach höhern, unser Urteil begründenden Ge¬
sichtspunkten zu streben. Denn urteilen müssen wir doch immer; das thut auch
Mulder. Und dann, wenn man genötigt ist, Urteile auszusprechen, nach einer
festern Grundlage unsers Urteils zu streben, als sie das bloße Temperament
bietet, das ist ein Recht, das in der Wissenschaft zur Pflicht wird. Daß
Mulder diese Pflicht verkennt, nenne ich unwissenschaftlich. Und diese Ver¬
nachlässigung rächt sich an seinem eignen Werke. Im ersten Teile fühlt man
deutlich, wie Mulder, oder ich muß wohl sagen sein „Temperament," einen
gesunden Realismus für das Wahre hält, für das, was vor seinem Urteile
besteht. In den Schlußteilen aber erhebt er den Neuidealismns und Symbo¬
lismus auf den Schild. Sehr natürlich! denn die Münchner Künstlerkreise,
deren Interpret zu sein seinem Temperament als höchste Aufgabe erschien,
hatten inzwischen eine Wandlung durchgemacht. Einen solchen Wandel des
Urteils in einunddemselben Buche kann die Wissenschaft nicht loben. Er
wird auch dem nicht begegnen, der sein Urteil nicht bloß von der jeweiligen
Stimmung abhängig macht, sondern auf Grund sorgfältiger Beobachtung
des Wesens und des Schaffens der Künstler in der Erkenntnis allgemein
giltiger Wahrheiten weiter zu kommen hofft.

In dem zuletzt angeführten Punkte liegt schon der zweite Vorwurf an-
gedentet, den ich Mulder zu machen habe: daß seine Beweisführung in sich
widerspruchsvoll ist, und daß er das gefährliche Spiel mit halben Wahrheiten
treibt. Ein paar Beispiele werden das belegen. Wie Mulder richtig die Ver¬
kehrtheit der ältern Forschung zeigt, die nach n. priori gemachten Gesetzen
arbeitete, nun aber auch gleich den Schluß zieht, daß gar keine Gesetze maß-


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[0136] Richard lNuther und die deutsche Kunstwissenschaft dieser Gesetze in der Vergangenheit nachzuspüren. Giebt man das aber nicht zu, stellt man sich „jenseits von Gut und Böse" und läßt nur „den Willen zum Nichts" gelten, was hat dann die Beschäftigung mit der Vergangenheit überhaupt sür Wert? So darf denn auch Mulder die Aufgabe des Kunsthistorikers nicht so gering fassen, wie er es Band 1, Seite 165 thut, indem er seine Thätigkeit lediglich auf die des Berichterstatters einschränkt. Wohl ist unsre Aufgabe vor allem, die Geschichte der Kunst zu verstehen, dem nachzuspüren, was die Künstler wollten, wie sie es wollten, und wie sie das Gewollte zum Ausdruck bringen konnten. Es war verkehrt, wie man es früher that, nach g. priori aufgestellten Gesetzen über das Schöne die Geschichte der Kunst zu modeln. Zur Verbreitung dieser Erkenntnis wesentlich beigetragen zu haben, ist ein Verdienst Muthers. Wir sind heute zum Teil dank ihm der Überzeugung, daß uns nicht neue Kunsttheorien not thun, sondern eine Kunstgeschichte, die ohne Tendenz feststellt, was man früher wollte, und andrerseits scharf ausgeprägte Künstler- persönlichkeiten, an denen wir dann weiter beobachten können. Aber bei allem ehrlichen, unbefangnen Eingehen auf die Absichten der Künstler dürfen wir doch niemals darauf verzichten, uach höhern, unser Urteil begründenden Ge¬ sichtspunkten zu streben. Denn urteilen müssen wir doch immer; das thut auch Mulder. Und dann, wenn man genötigt ist, Urteile auszusprechen, nach einer festern Grundlage unsers Urteils zu streben, als sie das bloße Temperament bietet, das ist ein Recht, das in der Wissenschaft zur Pflicht wird. Daß Mulder diese Pflicht verkennt, nenne ich unwissenschaftlich. Und diese Ver¬ nachlässigung rächt sich an seinem eignen Werke. Im ersten Teile fühlt man deutlich, wie Mulder, oder ich muß wohl sagen sein „Temperament," einen gesunden Realismus für das Wahre hält, für das, was vor seinem Urteile besteht. In den Schlußteilen aber erhebt er den Neuidealismns und Symbo¬ lismus auf den Schild. Sehr natürlich! denn die Münchner Künstlerkreise, deren Interpret zu sein seinem Temperament als höchste Aufgabe erschien, hatten inzwischen eine Wandlung durchgemacht. Einen solchen Wandel des Urteils in einunddemselben Buche kann die Wissenschaft nicht loben. Er wird auch dem nicht begegnen, der sein Urteil nicht bloß von der jeweiligen Stimmung abhängig macht, sondern auf Grund sorgfältiger Beobachtung des Wesens und des Schaffens der Künstler in der Erkenntnis allgemein giltiger Wahrheiten weiter zu kommen hofft. In dem zuletzt angeführten Punkte liegt schon der zweite Vorwurf an- gedentet, den ich Mulder zu machen habe: daß seine Beweisführung in sich widerspruchsvoll ist, und daß er das gefährliche Spiel mit halben Wahrheiten treibt. Ein paar Beispiele werden das belegen. Wie Mulder richtig die Ver¬ kehrtheit der ältern Forschung zeigt, die nach n. priori gemachten Gesetzen arbeitete, nun aber auch gleich den Schluß zieht, daß gar keine Gesetze maß-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/136>, abgerufen am 01.09.2024.