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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Schulprogramme

gebildeten Lehrer gewissermaßen unter Aufsicht zu stellen. Manche Pessimisten
glauben das allerdings, aber es ist nicht so. Wollte der Staat wirklich die
wissenschaftliche Arbeit und den Sinn dafür kontrolliren, so Hütte man das
viel eher bei den Universitäten zu erwarten, die ja auch irmwtis NiutMutis
dem Lehrberufe nachgehen, umsomehr, als die Bedeutung der einzelnen wissen¬
schaftlichen Lehrämter weit größer ist. Aber gerade dort geschieht das nicht.
Zwar lassen alljährlich so und so viele deutsche Universitäten "Programme"
und Inclioss löotiomun erscheinen, aber der einzelne Professor nimmt nur dann
an ihrer Abfassung teil, wenn er das Ehrenamt eines Dekans oder Pro-
caneellars bekleidet, und die besondre Mühwaltung pflegt ihm dann auch be¬
sonders vergütet zu werden. Anderwärts wird diese Bemühung nur von dem
ehemaligen xrotsssor v1ociuöntig,6 xoLssos verlangt, der sich als os ^oa-
clömiouiQ für alle zu äußern hat, d. h. von den heutigen Professoren der
Philologie; ob aber gerade die zu besonders fleißiger Beteiligung am Ab¬
handlungschreiben noch des Sporns bedürfen, ist doch fraglich. Nein, das Er¬
scheinen aller dieser Universitätsschriften bei irgend welchen Gelegenheiten ist ein
alter, geschichtlicher Brauch. Man hat ihn frühzeitig auf die andern Lehr¬
anstalten übertragen, und dort hat er unzweifelhaft sein gutes gehabt, als das
"Programm" noch eine Art von Vesähigungsnachweis war. Jetzt ist er nur
noch eine Reliquie, die man aus Achtung vor ihrem ehrwürdigen Alter weiter
bestehen läßt. Leider hat man aber nun ans der freien Übung ein Gesetz ge¬
macht und um einen neuen "Zweck" für das eigentlich zwecklos gewordne
zu schaffen, die Formel gefunden: "um den wissenschaftlichen Sinn in den
Lehrerkollegien rege zu erhalten."

Ist es aber wirklich nötig, durch den Zwang des Programmschreibens
auf den wissenschaftlichen Sinn der Lehrerkollegien einzuwirken? Es wäre
schlimm, wenn man das erst erzwingen müßte, was nur in freier Entfaltung
den rechten Wert hat, und so ideallos ist die deutsche Lehrerwelt doch nicht,
daß sie erst genötigt werden müßte, das beste und schönste, was ihnen ihr
selbstgewühlter wissenschaftlicher Beruf bietet, nicht zu vernachlässigen.

Der junge Mann, der sich sein Oberlehrerzeugnis ehrenvoll erworben hat,
braucht zunächst seine Liebe zur Wissenschaft nicht darzuthun. Er hat sie ja
eben erst bewiesen und bringt sie von der Universität mit. In den ersten
wahren seiner Lehrerthätigkeit wird er nur sehr wenig Zeit finden, sich gründ¬
licher mit seiner "Spezialität" zu beschäftigen. Anders stellt sich das Bild
aber etwa nach den ersten fünf Jahren feiner Amtsthätigkeit. Das Neue und
Ungewohnte der praktischen Thätigkeit hat sich für den jungen Lehrer verloren;
das Probe- und das Seminarjahr sind vorüber, die erste nichtständige An¬
stellung ist erreicht, die erste Klasse zum Ziele geführt, der erste Verdruß ist
auch dagewesen. In das Schultechnische, das auch gelernt sein will (viel mehr,
sich mancher vorher hat träumen lassen), ist er nnn eingedrungen und


Die Schulprogramme

gebildeten Lehrer gewissermaßen unter Aufsicht zu stellen. Manche Pessimisten
glauben das allerdings, aber es ist nicht so. Wollte der Staat wirklich die
wissenschaftliche Arbeit und den Sinn dafür kontrolliren, so Hütte man das
viel eher bei den Universitäten zu erwarten, die ja auch irmwtis NiutMutis
dem Lehrberufe nachgehen, umsomehr, als die Bedeutung der einzelnen wissen¬
schaftlichen Lehrämter weit größer ist. Aber gerade dort geschieht das nicht.
Zwar lassen alljährlich so und so viele deutsche Universitäten „Programme"
und Inclioss löotiomun erscheinen, aber der einzelne Professor nimmt nur dann
an ihrer Abfassung teil, wenn er das Ehrenamt eines Dekans oder Pro-
caneellars bekleidet, und die besondre Mühwaltung pflegt ihm dann auch be¬
sonders vergütet zu werden. Anderwärts wird diese Bemühung nur von dem
ehemaligen xrotsssor v1ociuöntig,6 xoLssos verlangt, der sich als os ^oa-
clömiouiQ für alle zu äußern hat, d. h. von den heutigen Professoren der
Philologie; ob aber gerade die zu besonders fleißiger Beteiligung am Ab¬
handlungschreiben noch des Sporns bedürfen, ist doch fraglich. Nein, das Er¬
scheinen aller dieser Universitätsschriften bei irgend welchen Gelegenheiten ist ein
alter, geschichtlicher Brauch. Man hat ihn frühzeitig auf die andern Lehr¬
anstalten übertragen, und dort hat er unzweifelhaft sein gutes gehabt, als das
„Programm" noch eine Art von Vesähigungsnachweis war. Jetzt ist er nur
noch eine Reliquie, die man aus Achtung vor ihrem ehrwürdigen Alter weiter
bestehen läßt. Leider hat man aber nun ans der freien Übung ein Gesetz ge¬
macht und um einen neuen „Zweck" für das eigentlich zwecklos gewordne
zu schaffen, die Formel gefunden: „um den wissenschaftlichen Sinn in den
Lehrerkollegien rege zu erhalten."

Ist es aber wirklich nötig, durch den Zwang des Programmschreibens
auf den wissenschaftlichen Sinn der Lehrerkollegien einzuwirken? Es wäre
schlimm, wenn man das erst erzwingen müßte, was nur in freier Entfaltung
den rechten Wert hat, und so ideallos ist die deutsche Lehrerwelt doch nicht,
daß sie erst genötigt werden müßte, das beste und schönste, was ihnen ihr
selbstgewühlter wissenschaftlicher Beruf bietet, nicht zu vernachlässigen.

Der junge Mann, der sich sein Oberlehrerzeugnis ehrenvoll erworben hat,
braucht zunächst seine Liebe zur Wissenschaft nicht darzuthun. Er hat sie ja
eben erst bewiesen und bringt sie von der Universität mit. In den ersten
wahren seiner Lehrerthätigkeit wird er nur sehr wenig Zeit finden, sich gründ¬
licher mit seiner „Spezialität" zu beschäftigen. Anders stellt sich das Bild
aber etwa nach den ersten fünf Jahren feiner Amtsthätigkeit. Das Neue und
Ungewohnte der praktischen Thätigkeit hat sich für den jungen Lehrer verloren;
das Probe- und das Seminarjahr sind vorüber, die erste nichtständige An¬
stellung ist erreicht, die erste Klasse zum Ziele geführt, der erste Verdruß ist
auch dagewesen. In das Schultechnische, das auch gelernt sein will (viel mehr,
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[0123] Die Schulprogramme gebildeten Lehrer gewissermaßen unter Aufsicht zu stellen. Manche Pessimisten glauben das allerdings, aber es ist nicht so. Wollte der Staat wirklich die wissenschaftliche Arbeit und den Sinn dafür kontrolliren, so Hütte man das viel eher bei den Universitäten zu erwarten, die ja auch irmwtis NiutMutis dem Lehrberufe nachgehen, umsomehr, als die Bedeutung der einzelnen wissen¬ schaftlichen Lehrämter weit größer ist. Aber gerade dort geschieht das nicht. Zwar lassen alljährlich so und so viele deutsche Universitäten „Programme" und Inclioss löotiomun erscheinen, aber der einzelne Professor nimmt nur dann an ihrer Abfassung teil, wenn er das Ehrenamt eines Dekans oder Pro- caneellars bekleidet, und die besondre Mühwaltung pflegt ihm dann auch be¬ sonders vergütet zu werden. Anderwärts wird diese Bemühung nur von dem ehemaligen xrotsssor v1ociuöntig,6 xoLssos verlangt, der sich als os ^oa- clömiouiQ für alle zu äußern hat, d. h. von den heutigen Professoren der Philologie; ob aber gerade die zu besonders fleißiger Beteiligung am Ab¬ handlungschreiben noch des Sporns bedürfen, ist doch fraglich. Nein, das Er¬ scheinen aller dieser Universitätsschriften bei irgend welchen Gelegenheiten ist ein alter, geschichtlicher Brauch. Man hat ihn frühzeitig auf die andern Lehr¬ anstalten übertragen, und dort hat er unzweifelhaft sein gutes gehabt, als das „Programm" noch eine Art von Vesähigungsnachweis war. Jetzt ist er nur noch eine Reliquie, die man aus Achtung vor ihrem ehrwürdigen Alter weiter bestehen läßt. Leider hat man aber nun ans der freien Übung ein Gesetz ge¬ macht und um einen neuen „Zweck" für das eigentlich zwecklos gewordne zu schaffen, die Formel gefunden: „um den wissenschaftlichen Sinn in den Lehrerkollegien rege zu erhalten." Ist es aber wirklich nötig, durch den Zwang des Programmschreibens auf den wissenschaftlichen Sinn der Lehrerkollegien einzuwirken? Es wäre schlimm, wenn man das erst erzwingen müßte, was nur in freier Entfaltung den rechten Wert hat, und so ideallos ist die deutsche Lehrerwelt doch nicht, daß sie erst genötigt werden müßte, das beste und schönste, was ihnen ihr selbstgewühlter wissenschaftlicher Beruf bietet, nicht zu vernachlässigen. Der junge Mann, der sich sein Oberlehrerzeugnis ehrenvoll erworben hat, braucht zunächst seine Liebe zur Wissenschaft nicht darzuthun. Er hat sie ja eben erst bewiesen und bringt sie von der Universität mit. In den ersten wahren seiner Lehrerthätigkeit wird er nur sehr wenig Zeit finden, sich gründ¬ licher mit seiner „Spezialität" zu beschäftigen. Anders stellt sich das Bild aber etwa nach den ersten fünf Jahren feiner Amtsthätigkeit. Das Neue und Ungewohnte der praktischen Thätigkeit hat sich für den jungen Lehrer verloren; das Probe- und das Seminarjahr sind vorüber, die erste nichtständige An¬ stellung ist erreicht, die erste Klasse zum Ziele geführt, der erste Verdruß ist auch dagewesen. In das Schultechnische, das auch gelernt sein will (viel mehr, sich mancher vorher hat träumen lassen), ist er nnn eingedrungen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/123>, abgerufen am 01.09.2024.