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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Line Geschichte Livlands

Zeit alljährlich den Hafen von Lübeck verließen, nachdem sie für einen Sommer
das Kreuz gegen die Liven, Ehlen und Letten genommen hatten, hat unmittel¬
bar zur Folge gehabt, daß die vom Mongolenjoch freigebliebnen russischen
Gebiete nicht die Macht werden konnten, von der einst die Wiederaufrichtung
Gesamtrußlands hätte ausgehen können. Wäre das Gebiet von Nowgorod,
Pskow und Polozk durch die Gewinnung des Meeres zur Bildung einer
russischen Großmacht fähig geworden, die im Zusammenhange mit dem kul-
tivirten Europa stand, so wäre aller Wahrscheinlichkeit nach das Wachstum
Rußlands durch allmähliche Gewinnung der barbarisirten Teile von Westen
nach Osten vor sich gegangen und die Kultivirung des Landes und Volkes
organisch fortgeschritten; so aber entstand der Mittelpunkt der wiedererstehenden
russischen Macht in Moskau, im Osten, wo es mit aller Kultur gründlich und
auf immer vorbei war, als die mongolische Macht soweit erschlafft war, daß
die Wiederaufrichtung Rußlands möglich wurde.

Von der Zeit an aber, wo die Herrscher von Moskau diese ihre erste
Aufgabe, das Mongolenjoch abzuwerfen, gelöst hatten, mußten sie sich mit
Notwendigkeit der zweiten, ebenso wichtigen zuwenden, die ihrer harrte: das
Meer zu erreichen. Das bedeutete aber für die deutsche Kolonie Livland
die Frage: Sein oder Nichtsein? und daß die Dinge so lagen, wurde jedem
Einsichtigen im Lande klar, sobald Nowgorod und Pskow gegen Ausgang des
fünfzehnten Jahrhunderts durch den Großfürsten Iwan III. mit dem Staat
von Moskau vereinigt waren. Von dieser Zeit an beginnt der zweihundert¬
jährige Kampf Rußlands um Livland. Jetzt aber bedeutete das Emporwachsen
Rußlands zu einer Großmacht nicht mehr ein Vordringen abendländischer
Kultur nach Osten, wie es hätte werden können, wenn Livland im zwölften
Jahrhundert nicht deutsch, sondern russisch geworden wäre, sondern es bedeutete
Ausbreitung einer barbarischen Macht über altes Kulturland.

Den dreimaligen Vorstoß Moskaus gegen die Ostsee hat Seraphim sehr
gut geschildert. Die Teile des Werkes, die den Untergang des alten livlciu-
dischen Bundesstaats im Kampfe gegen Iwan den Schrecklichen schildern, halten
wir für die gelungensten. Allerdings ist das zum Teil den Quellen und Vor¬
arbeiten zu danken, die der Verfasser benutzen konnte. Fünfundzwanzig Jahre
(1558 bis 1583) hat der grause Zar um Livland gerungen, bis er davon ab¬
stehe" mußte, weil Polen und Schweden den Moskowiter auf keinen Fall an
die See zu lassen entschlossen waren. Dann kam in Rußland die Periode
der furchtbaren innern Zerrüttung nach dem Aussterben der Dynastie Njuriks,
des Normannen. Aber sobald das Reich wieder zu Kräften gekommen war,
erfolgte der zweite Ansturm, der den Zaren Alexei Michailowitsch im
Sommer 1656 bis vor das -- damals schwedische -- Riga führte. Der
Frieden von Kardis (1661) zwang Moskau nochmals zum Verzicht, aber fünfzig
Jahre später mußte sich Riga an Peters des Großen Feldmarschall Schere-


Line Geschichte Livlands

Zeit alljährlich den Hafen von Lübeck verließen, nachdem sie für einen Sommer
das Kreuz gegen die Liven, Ehlen und Letten genommen hatten, hat unmittel¬
bar zur Folge gehabt, daß die vom Mongolenjoch freigebliebnen russischen
Gebiete nicht die Macht werden konnten, von der einst die Wiederaufrichtung
Gesamtrußlands hätte ausgehen können. Wäre das Gebiet von Nowgorod,
Pskow und Polozk durch die Gewinnung des Meeres zur Bildung einer
russischen Großmacht fähig geworden, die im Zusammenhange mit dem kul-
tivirten Europa stand, so wäre aller Wahrscheinlichkeit nach das Wachstum
Rußlands durch allmähliche Gewinnung der barbarisirten Teile von Westen
nach Osten vor sich gegangen und die Kultivirung des Landes und Volkes
organisch fortgeschritten; so aber entstand der Mittelpunkt der wiedererstehenden
russischen Macht in Moskau, im Osten, wo es mit aller Kultur gründlich und
auf immer vorbei war, als die mongolische Macht soweit erschlafft war, daß
die Wiederaufrichtung Rußlands möglich wurde.

Von der Zeit an aber, wo die Herrscher von Moskau diese ihre erste
Aufgabe, das Mongolenjoch abzuwerfen, gelöst hatten, mußten sie sich mit
Notwendigkeit der zweiten, ebenso wichtigen zuwenden, die ihrer harrte: das
Meer zu erreichen. Das bedeutete aber für die deutsche Kolonie Livland
die Frage: Sein oder Nichtsein? und daß die Dinge so lagen, wurde jedem
Einsichtigen im Lande klar, sobald Nowgorod und Pskow gegen Ausgang des
fünfzehnten Jahrhunderts durch den Großfürsten Iwan III. mit dem Staat
von Moskau vereinigt waren. Von dieser Zeit an beginnt der zweihundert¬
jährige Kampf Rußlands um Livland. Jetzt aber bedeutete das Emporwachsen
Rußlands zu einer Großmacht nicht mehr ein Vordringen abendländischer
Kultur nach Osten, wie es hätte werden können, wenn Livland im zwölften
Jahrhundert nicht deutsch, sondern russisch geworden wäre, sondern es bedeutete
Ausbreitung einer barbarischen Macht über altes Kulturland.

Den dreimaligen Vorstoß Moskaus gegen die Ostsee hat Seraphim sehr
gut geschildert. Die Teile des Werkes, die den Untergang des alten livlciu-
dischen Bundesstaats im Kampfe gegen Iwan den Schrecklichen schildern, halten
wir für die gelungensten. Allerdings ist das zum Teil den Quellen und Vor¬
arbeiten zu danken, die der Verfasser benutzen konnte. Fünfundzwanzig Jahre
(1558 bis 1583) hat der grause Zar um Livland gerungen, bis er davon ab¬
stehe» mußte, weil Polen und Schweden den Moskowiter auf keinen Fall an
die See zu lassen entschlossen waren. Dann kam in Rußland die Periode
der furchtbaren innern Zerrüttung nach dem Aussterben der Dynastie Njuriks,
des Normannen. Aber sobald das Reich wieder zu Kräften gekommen war,
erfolgte der zweite Ansturm, der den Zaren Alexei Michailowitsch im
Sommer 1656 bis vor das — damals schwedische — Riga führte. Der
Frieden von Kardis (1661) zwang Moskau nochmals zum Verzicht, aber fünfzig
Jahre später mußte sich Riga an Peters des Großen Feldmarschall Schere-


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[0075] Line Geschichte Livlands Zeit alljährlich den Hafen von Lübeck verließen, nachdem sie für einen Sommer das Kreuz gegen die Liven, Ehlen und Letten genommen hatten, hat unmittel¬ bar zur Folge gehabt, daß die vom Mongolenjoch freigebliebnen russischen Gebiete nicht die Macht werden konnten, von der einst die Wiederaufrichtung Gesamtrußlands hätte ausgehen können. Wäre das Gebiet von Nowgorod, Pskow und Polozk durch die Gewinnung des Meeres zur Bildung einer russischen Großmacht fähig geworden, die im Zusammenhange mit dem kul- tivirten Europa stand, so wäre aller Wahrscheinlichkeit nach das Wachstum Rußlands durch allmähliche Gewinnung der barbarisirten Teile von Westen nach Osten vor sich gegangen und die Kultivirung des Landes und Volkes organisch fortgeschritten; so aber entstand der Mittelpunkt der wiedererstehenden russischen Macht in Moskau, im Osten, wo es mit aller Kultur gründlich und auf immer vorbei war, als die mongolische Macht soweit erschlafft war, daß die Wiederaufrichtung Rußlands möglich wurde. Von der Zeit an aber, wo die Herrscher von Moskau diese ihre erste Aufgabe, das Mongolenjoch abzuwerfen, gelöst hatten, mußten sie sich mit Notwendigkeit der zweiten, ebenso wichtigen zuwenden, die ihrer harrte: das Meer zu erreichen. Das bedeutete aber für die deutsche Kolonie Livland die Frage: Sein oder Nichtsein? und daß die Dinge so lagen, wurde jedem Einsichtigen im Lande klar, sobald Nowgorod und Pskow gegen Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts durch den Großfürsten Iwan III. mit dem Staat von Moskau vereinigt waren. Von dieser Zeit an beginnt der zweihundert¬ jährige Kampf Rußlands um Livland. Jetzt aber bedeutete das Emporwachsen Rußlands zu einer Großmacht nicht mehr ein Vordringen abendländischer Kultur nach Osten, wie es hätte werden können, wenn Livland im zwölften Jahrhundert nicht deutsch, sondern russisch geworden wäre, sondern es bedeutete Ausbreitung einer barbarischen Macht über altes Kulturland. Den dreimaligen Vorstoß Moskaus gegen die Ostsee hat Seraphim sehr gut geschildert. Die Teile des Werkes, die den Untergang des alten livlciu- dischen Bundesstaats im Kampfe gegen Iwan den Schrecklichen schildern, halten wir für die gelungensten. Allerdings ist das zum Teil den Quellen und Vor¬ arbeiten zu danken, die der Verfasser benutzen konnte. Fünfundzwanzig Jahre (1558 bis 1583) hat der grause Zar um Livland gerungen, bis er davon ab¬ stehe» mußte, weil Polen und Schweden den Moskowiter auf keinen Fall an die See zu lassen entschlossen waren. Dann kam in Rußland die Periode der furchtbaren innern Zerrüttung nach dem Aussterben der Dynastie Njuriks, des Normannen. Aber sobald das Reich wieder zu Kräften gekommen war, erfolgte der zweite Ansturm, der den Zaren Alexei Michailowitsch im Sommer 1656 bis vor das — damals schwedische — Riga führte. Der Frieden von Kardis (1661) zwang Moskau nochmals zum Verzicht, aber fünfzig Jahre später mußte sich Riga an Peters des Großen Feldmarschall Schere-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/75>, abgerufen am 02.10.2024.