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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Zur Lage des Grundbesitzes

schaftsführuug hineinzusehen, wie man es bei einem die Zahlungsunfähigkeit
behauptenden und Rettung auf andrer Leute Kosten beanspruchenden Wirt¬
schafter doch durchaus thun müßte, so wagt mau erst recht nicht, ihnen mit
den Vorschlägen wirtschaftlicher Entmündigung zu kommen, auf die Herr
Gering hauptsächlich abzielt, mit dem Anerbenrecht, mit der Verschuldungs¬
grenze usw. Da scheint der Bauer das willkommne czoi-Ms vns zu sein, das
sich die Vivisektion gefallen lassen muß, wenn der Herr Professor oder einer
seiner ausgezeichneten "Zuhörer" kommt und ihm die eigentlich gar nicht vor-
yandnen Haushalts- und Wirtschaftsrechnungen prüft oder vielmehr zurechtstutzt,
um daraus dann die Entmündigung des Menschen um des lieben Grund und
Bodens willen als notwendig zu erweisen. Sering beweist dem deutschen Laud-
wirtschaftsrat, wie er meint, haarscharf, daß die Bauern auf Staatskosten ge¬
rettet werden müssen; die Rittergutsbesitzer gehen ihn wie gesagt nichts an.
schlagend ist ihm zunächst der Hinweis auf die "Ergebnisse der bairischen und
badischen Erhebungen" und auf die "Entvölkerung der kleinbäuerlichen Gebiete
Württembergs"; die sollen auch ergeben, daß die Masse der Bauern vor dem
Bankerott stehe. Thatsächlich ergeben die Berichte über die bairischen und
basischen amtlichen Erhebungen genau das Gegenteil. Die bairischen und
badischen Bauern denken nicht daran, sich sür bankerott zu halten, wie
1894 die Professoren Brentano und Bücher auf der Generalversammlung des
Vereins für Sozialpolitik in Wien Herrn Sering und der ganzen Berliner
Rettungskolonne beinahe grob vor Augen gehalten haben, und Buchenberger in
Karlsruhe erst neuerdings noch deutlicher nachgewiesen hat. Und wie steht
es mit der württembergischen "Entvölkerung"? Das hätte Herr Professor
Sering in den amtlichen württembergischen Jahrbüchern für Statistik und
Landeskunde vor seinem Bericht nachlesen können, er würde dann im Jahr¬
gang 1894, I, S. 288 für die Zeit von 1834 bis 1890 den Nachweis ge¬
funden haben, daß der eigentliche Bevölkerungsverlust unzweifelhaft das flache
Land nnr in seinen "gewerbtreibenden" Bewohnern treffe, daß "die landwirt¬
schaftliche Bevölkerung der Zeit der sinkenden Getreide- und Viehpreise auch
ihr Opfer habe bringen müssen," daß sich aber dieses Opfer "nicht höher als
auf 0,7 Prozent" belaufe und nur dort gebracht worden ist, "wo vermöge der
Industrie die Situation der ländlichen Bevölkerung weniger gefestigt war."
Aber die süd- und westdeutschen Verhältnissen streift Sering nur kurz, er ist
von der Durchschlagskraft seiner Beweismittel anch ohnedies überzeugt. Die
armen schlesischen Bauern müssen herhalten, über deren Lage er seine eigne
Statistik "ausgemacht" hat. Nun haben die Grenzboten kürzlich in einem Aufsatz
über "landwirtschaftliche Reinertrage" an der Hand der Erhebungen eines Herrn
Stumpfe, eines "Zuhörers" von Sering, die in den Landwirtschaftlichen Jahr¬
büchern veröffentlicht worden sind, gerade die schlesischen bäuerlichen Verhält¬
nisse besonders eingehend geschildert, aber kein Mensch mit unbefangnen Blick


Zur Lage des Grundbesitzes

schaftsführuug hineinzusehen, wie man es bei einem die Zahlungsunfähigkeit
behauptenden und Rettung auf andrer Leute Kosten beanspruchenden Wirt¬
schafter doch durchaus thun müßte, so wagt mau erst recht nicht, ihnen mit
den Vorschlägen wirtschaftlicher Entmündigung zu kommen, auf die Herr
Gering hauptsächlich abzielt, mit dem Anerbenrecht, mit der Verschuldungs¬
grenze usw. Da scheint der Bauer das willkommne czoi-Ms vns zu sein, das
sich die Vivisektion gefallen lassen muß, wenn der Herr Professor oder einer
seiner ausgezeichneten „Zuhörer" kommt und ihm die eigentlich gar nicht vor-
yandnen Haushalts- und Wirtschaftsrechnungen prüft oder vielmehr zurechtstutzt,
um daraus dann die Entmündigung des Menschen um des lieben Grund und
Bodens willen als notwendig zu erweisen. Sering beweist dem deutschen Laud-
wirtschaftsrat, wie er meint, haarscharf, daß die Bauern auf Staatskosten ge¬
rettet werden müssen; die Rittergutsbesitzer gehen ihn wie gesagt nichts an.
schlagend ist ihm zunächst der Hinweis auf die „Ergebnisse der bairischen und
badischen Erhebungen" und auf die „Entvölkerung der kleinbäuerlichen Gebiete
Württembergs"; die sollen auch ergeben, daß die Masse der Bauern vor dem
Bankerott stehe. Thatsächlich ergeben die Berichte über die bairischen und
basischen amtlichen Erhebungen genau das Gegenteil. Die bairischen und
badischen Bauern denken nicht daran, sich sür bankerott zu halten, wie
1894 die Professoren Brentano und Bücher auf der Generalversammlung des
Vereins für Sozialpolitik in Wien Herrn Sering und der ganzen Berliner
Rettungskolonne beinahe grob vor Augen gehalten haben, und Buchenberger in
Karlsruhe erst neuerdings noch deutlicher nachgewiesen hat. Und wie steht
es mit der württembergischen „Entvölkerung"? Das hätte Herr Professor
Sering in den amtlichen württembergischen Jahrbüchern für Statistik und
Landeskunde vor seinem Bericht nachlesen können, er würde dann im Jahr¬
gang 1894, I, S. 288 für die Zeit von 1834 bis 1890 den Nachweis ge¬
funden haben, daß der eigentliche Bevölkerungsverlust unzweifelhaft das flache
Land nnr in seinen „gewerbtreibenden" Bewohnern treffe, daß „die landwirt¬
schaftliche Bevölkerung der Zeit der sinkenden Getreide- und Viehpreise auch
ihr Opfer habe bringen müssen," daß sich aber dieses Opfer „nicht höher als
auf 0,7 Prozent" belaufe und nur dort gebracht worden ist, „wo vermöge der
Industrie die Situation der ländlichen Bevölkerung weniger gefestigt war."
Aber die süd- und westdeutschen Verhältnissen streift Sering nur kurz, er ist
von der Durchschlagskraft seiner Beweismittel anch ohnedies überzeugt. Die
armen schlesischen Bauern müssen herhalten, über deren Lage er seine eigne
Statistik „ausgemacht" hat. Nun haben die Grenzboten kürzlich in einem Aufsatz
über „landwirtschaftliche Reinertrage" an der Hand der Erhebungen eines Herrn
Stumpfe, eines „Zuhörers" von Sering, die in den Landwirtschaftlichen Jahr¬
büchern veröffentlicht worden sind, gerade die schlesischen bäuerlichen Verhält¬
nisse besonders eingehend geschildert, aber kein Mensch mit unbefangnen Blick


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[0546] Zur Lage des Grundbesitzes schaftsführuug hineinzusehen, wie man es bei einem die Zahlungsunfähigkeit behauptenden und Rettung auf andrer Leute Kosten beanspruchenden Wirt¬ schafter doch durchaus thun müßte, so wagt mau erst recht nicht, ihnen mit den Vorschlägen wirtschaftlicher Entmündigung zu kommen, auf die Herr Gering hauptsächlich abzielt, mit dem Anerbenrecht, mit der Verschuldungs¬ grenze usw. Da scheint der Bauer das willkommne czoi-Ms vns zu sein, das sich die Vivisektion gefallen lassen muß, wenn der Herr Professor oder einer seiner ausgezeichneten „Zuhörer" kommt und ihm die eigentlich gar nicht vor- yandnen Haushalts- und Wirtschaftsrechnungen prüft oder vielmehr zurechtstutzt, um daraus dann die Entmündigung des Menschen um des lieben Grund und Bodens willen als notwendig zu erweisen. Sering beweist dem deutschen Laud- wirtschaftsrat, wie er meint, haarscharf, daß die Bauern auf Staatskosten ge¬ rettet werden müssen; die Rittergutsbesitzer gehen ihn wie gesagt nichts an. schlagend ist ihm zunächst der Hinweis auf die „Ergebnisse der bairischen und badischen Erhebungen" und auf die „Entvölkerung der kleinbäuerlichen Gebiete Württembergs"; die sollen auch ergeben, daß die Masse der Bauern vor dem Bankerott stehe. Thatsächlich ergeben die Berichte über die bairischen und basischen amtlichen Erhebungen genau das Gegenteil. Die bairischen und badischen Bauern denken nicht daran, sich sür bankerott zu halten, wie 1894 die Professoren Brentano und Bücher auf der Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik in Wien Herrn Sering und der ganzen Berliner Rettungskolonne beinahe grob vor Augen gehalten haben, und Buchenberger in Karlsruhe erst neuerdings noch deutlicher nachgewiesen hat. Und wie steht es mit der württembergischen „Entvölkerung"? Das hätte Herr Professor Sering in den amtlichen württembergischen Jahrbüchern für Statistik und Landeskunde vor seinem Bericht nachlesen können, er würde dann im Jahr¬ gang 1894, I, S. 288 für die Zeit von 1834 bis 1890 den Nachweis ge¬ funden haben, daß der eigentliche Bevölkerungsverlust unzweifelhaft das flache Land nnr in seinen „gewerbtreibenden" Bewohnern treffe, daß „die landwirt¬ schaftliche Bevölkerung der Zeit der sinkenden Getreide- und Viehpreise auch ihr Opfer habe bringen müssen," daß sich aber dieses Opfer „nicht höher als auf 0,7 Prozent" belaufe und nur dort gebracht worden ist, „wo vermöge der Industrie die Situation der ländlichen Bevölkerung weniger gefestigt war." Aber die süd- und westdeutschen Verhältnissen streift Sering nur kurz, er ist von der Durchschlagskraft seiner Beweismittel anch ohnedies überzeugt. Die armen schlesischen Bauern müssen herhalten, über deren Lage er seine eigne Statistik „ausgemacht" hat. Nun haben die Grenzboten kürzlich in einem Aufsatz über „landwirtschaftliche Reinertrage" an der Hand der Erhebungen eines Herrn Stumpfe, eines „Zuhörers" von Sering, die in den Landwirtschaftlichen Jahr¬ büchern veröffentlicht worden sind, gerade die schlesischen bäuerlichen Verhält¬ nisse besonders eingehend geschildert, aber kein Mensch mit unbefangnen Blick

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/546>, abgerufen am 01.07.2024.