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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Line Lharakternovelle

finden könnte, daß er mir da einen besonders guten Rat gegeben hätte, dann
sagte er bloß: ,,Das geschieht Ihnen ganz recht, warum haben sich gelesen!"

Nun lebt mein guter alter Freund nicht mehr, ich habe auch längst keine
Zeit mehr, um alles zu lesen, was er nur etwa geraten haben könnte. Aber
eins habe ich doch dadurch gelernt, nämlich ein bischen die Gabe, zu kennen,
auch was ich gar nicht gelesen habe. Oder, damit ^das nicht zu eitel und
ruhmredig klingt, es geht mir wie manchem Litteratnrfreund des vorigen Jahr¬
hunderts, dem es an Mitteln fehlte, sich die damals noch nicht so schnell und
so billig auf den Markt kommenden Neuigkeiten (oder die noch nicht zu habenden
ersten Neuheiten, wie die verbesserte Grammatik sagt) zu verschaffen, und der sich
dann wenigstens eine stattliche Sammlung von,,Buchhändleradvertissementen"
anlegte, die zur Urkunde seiner Bildung und Belesenheit sogar später in einer
kurzen Nachricht von seinem Tode noch erwähnt werden konnte. Oder es ging
mir ähnlich wie dem armen Lehrer bei Jean Paul, der sich den Titel jedes
Buchs, das er gern gehabt hätte, in ein saubres Heft schrieb und den Inhalt,
wie er sich ihn dachte, darunter, und der dann meinte, er hätte alle die Bücher
nicht nur gelesen, sondern er besitze sie sogar. So wenig nnn jenen beiden
Besitzern je zum Bewußtsein gekommen sein wird, daß ihnen etwas zu ihrer
Bildung oder zu ihrer Unterhaltung notwendiges fehle, so wenig, denke ich,
wird auch mir etwas zu meinem Glücke wesentliches entgangen sein, wenn
ich diese italienische Charakternovelle der neuern deutschen Litteraturgeschichte,
die mich anfangs so heftig beunruhigte, schließlich gar nicht kennen lernte,
sondern sie mir nach meiner gelegentlich erworbnen Kenntnis der betreffenden
Vnchhändleradvertissemente einfach dachte.

Denn jedenfalls kommen darin vor ein deutscher Maler, der die italienische
Schönheit an einem Gartenzaun oder hinter einem antiken Mauerrest entdeckt,
und ein archäologischer Stipendiat, der über diesen Mauerrest spricht und auch
übrigens von Klugheit tropft, ein Italiener, der sich über den Naseweis ärgert
und ihn mit etwas Spruchweisheit zurechtsetzt, sodann eine Schilderung von
Albano und Frascati oder von Ariceia oder Capri, eine Fiammetta oder eine
Violetta, sowie einige tiefe Züge aus dem sogenannten Volksleben, und das
ganze kleine Kunstwerk zählt dann mit unter die Hilfsmittel zur Vorbereitung
auf die nächste italienische Reise, aus der auch ganz gewiß etwas wird, sobald
nur erst Papa die Elektrizitätsaktien plazirt oder auch nur den müssiger Roggen
oder die angestoßenen Apfelsinen glücklich über die Grenze geschafft haben wird,
von wo an sie dann auf Gefahr des ahnungslosen Bestellers gehen.

Doch das gehört ja wohl eigentlich nicht mehr in eine Charakternovelle,
wenigstens wäre der Charakter dann nicht gerade schön. Aber um auf die
italienische zurückzukommen -- ob die nun wirklich ihren Namen verdient und
ihn nicht vielmehr durch Mißbrauch der Bezeichnung bekommen hat, scheint
mir doch noch sehr zu überlegen. Das Bedenken beruht freilich zunächst mir


Line Lharakternovelle

finden könnte, daß er mir da einen besonders guten Rat gegeben hätte, dann
sagte er bloß: ,,Das geschieht Ihnen ganz recht, warum haben sich gelesen!"

Nun lebt mein guter alter Freund nicht mehr, ich habe auch längst keine
Zeit mehr, um alles zu lesen, was er nur etwa geraten haben könnte. Aber
eins habe ich doch dadurch gelernt, nämlich ein bischen die Gabe, zu kennen,
auch was ich gar nicht gelesen habe. Oder, damit ^das nicht zu eitel und
ruhmredig klingt, es geht mir wie manchem Litteratnrfreund des vorigen Jahr¬
hunderts, dem es an Mitteln fehlte, sich die damals noch nicht so schnell und
so billig auf den Markt kommenden Neuigkeiten (oder die noch nicht zu habenden
ersten Neuheiten, wie die verbesserte Grammatik sagt) zu verschaffen, und der sich
dann wenigstens eine stattliche Sammlung von,,Buchhändleradvertissementen"
anlegte, die zur Urkunde seiner Bildung und Belesenheit sogar später in einer
kurzen Nachricht von seinem Tode noch erwähnt werden konnte. Oder es ging
mir ähnlich wie dem armen Lehrer bei Jean Paul, der sich den Titel jedes
Buchs, das er gern gehabt hätte, in ein saubres Heft schrieb und den Inhalt,
wie er sich ihn dachte, darunter, und der dann meinte, er hätte alle die Bücher
nicht nur gelesen, sondern er besitze sie sogar. So wenig nnn jenen beiden
Besitzern je zum Bewußtsein gekommen sein wird, daß ihnen etwas zu ihrer
Bildung oder zu ihrer Unterhaltung notwendiges fehle, so wenig, denke ich,
wird auch mir etwas zu meinem Glücke wesentliches entgangen sein, wenn
ich diese italienische Charakternovelle der neuern deutschen Litteraturgeschichte,
die mich anfangs so heftig beunruhigte, schließlich gar nicht kennen lernte,
sondern sie mir nach meiner gelegentlich erworbnen Kenntnis der betreffenden
Vnchhändleradvertissemente einfach dachte.

Denn jedenfalls kommen darin vor ein deutscher Maler, der die italienische
Schönheit an einem Gartenzaun oder hinter einem antiken Mauerrest entdeckt,
und ein archäologischer Stipendiat, der über diesen Mauerrest spricht und auch
übrigens von Klugheit tropft, ein Italiener, der sich über den Naseweis ärgert
und ihn mit etwas Spruchweisheit zurechtsetzt, sodann eine Schilderung von
Albano und Frascati oder von Ariceia oder Capri, eine Fiammetta oder eine
Violetta, sowie einige tiefe Züge aus dem sogenannten Volksleben, und das
ganze kleine Kunstwerk zählt dann mit unter die Hilfsmittel zur Vorbereitung
auf die nächste italienische Reise, aus der auch ganz gewiß etwas wird, sobald
nur erst Papa die Elektrizitätsaktien plazirt oder auch nur den müssiger Roggen
oder die angestoßenen Apfelsinen glücklich über die Grenze geschafft haben wird,
von wo an sie dann auf Gefahr des ahnungslosen Bestellers gehen.

Doch das gehört ja wohl eigentlich nicht mehr in eine Charakternovelle,
wenigstens wäre der Charakter dann nicht gerade schön. Aber um auf die
italienische zurückzukommen — ob die nun wirklich ihren Namen verdient und
ihn nicht vielmehr durch Mißbrauch der Bezeichnung bekommen hat, scheint
mir doch noch sehr zu überlegen. Das Bedenken beruht freilich zunächst mir


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[0520] Line Lharakternovelle finden könnte, daß er mir da einen besonders guten Rat gegeben hätte, dann sagte er bloß: ,,Das geschieht Ihnen ganz recht, warum haben sich gelesen!" Nun lebt mein guter alter Freund nicht mehr, ich habe auch längst keine Zeit mehr, um alles zu lesen, was er nur etwa geraten haben könnte. Aber eins habe ich doch dadurch gelernt, nämlich ein bischen die Gabe, zu kennen, auch was ich gar nicht gelesen habe. Oder, damit ^das nicht zu eitel und ruhmredig klingt, es geht mir wie manchem Litteratnrfreund des vorigen Jahr¬ hunderts, dem es an Mitteln fehlte, sich die damals noch nicht so schnell und so billig auf den Markt kommenden Neuigkeiten (oder die noch nicht zu habenden ersten Neuheiten, wie die verbesserte Grammatik sagt) zu verschaffen, und der sich dann wenigstens eine stattliche Sammlung von,,Buchhändleradvertissementen" anlegte, die zur Urkunde seiner Bildung und Belesenheit sogar später in einer kurzen Nachricht von seinem Tode noch erwähnt werden konnte. Oder es ging mir ähnlich wie dem armen Lehrer bei Jean Paul, der sich den Titel jedes Buchs, das er gern gehabt hätte, in ein saubres Heft schrieb und den Inhalt, wie er sich ihn dachte, darunter, und der dann meinte, er hätte alle die Bücher nicht nur gelesen, sondern er besitze sie sogar. So wenig nnn jenen beiden Besitzern je zum Bewußtsein gekommen sein wird, daß ihnen etwas zu ihrer Bildung oder zu ihrer Unterhaltung notwendiges fehle, so wenig, denke ich, wird auch mir etwas zu meinem Glücke wesentliches entgangen sein, wenn ich diese italienische Charakternovelle der neuern deutschen Litteraturgeschichte, die mich anfangs so heftig beunruhigte, schließlich gar nicht kennen lernte, sondern sie mir nach meiner gelegentlich erworbnen Kenntnis der betreffenden Vnchhändleradvertissemente einfach dachte. Denn jedenfalls kommen darin vor ein deutscher Maler, der die italienische Schönheit an einem Gartenzaun oder hinter einem antiken Mauerrest entdeckt, und ein archäologischer Stipendiat, der über diesen Mauerrest spricht und auch übrigens von Klugheit tropft, ein Italiener, der sich über den Naseweis ärgert und ihn mit etwas Spruchweisheit zurechtsetzt, sodann eine Schilderung von Albano und Frascati oder von Ariceia oder Capri, eine Fiammetta oder eine Violetta, sowie einige tiefe Züge aus dem sogenannten Volksleben, und das ganze kleine Kunstwerk zählt dann mit unter die Hilfsmittel zur Vorbereitung auf die nächste italienische Reise, aus der auch ganz gewiß etwas wird, sobald nur erst Papa die Elektrizitätsaktien plazirt oder auch nur den müssiger Roggen oder die angestoßenen Apfelsinen glücklich über die Grenze geschafft haben wird, von wo an sie dann auf Gefahr des ahnungslosen Bestellers gehen. Doch das gehört ja wohl eigentlich nicht mehr in eine Charakternovelle, wenigstens wäre der Charakter dann nicht gerade schön. Aber um auf die italienische zurückzukommen — ob die nun wirklich ihren Namen verdient und ihn nicht vielmehr durch Mißbrauch der Bezeichnung bekommen hat, scheint mir doch noch sehr zu überlegen. Das Bedenken beruht freilich zunächst mir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/520>, abgerufen am 25.06.2024.