Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

wurde. Alles erschien so glaublich und so wahr. Man meinte, in die Seele
unsers Volks zu sehen, und es war so beruhigend, wahrzunehmen, wie schön
und stetig es mit unserm deutschen bürgerlichen Leben aufwärts ging, wenn
man sich auch als Nation damals noch nicht fühlen durfte. Ach und wie war
das alles geschildert! So friedlich und sonntäglich, daß das Schulmeisterleben
zum Idyll wird, wie bei Jean Paul, wobei es sich denn von selbst versteht,
daß des vortrefflichen Küsters Sohn der noch angesehenere Herr Pfarrer werden
muß, wie in Vossens Louise. Ich weiß nicht, ob die schönen Bücher von
nicht (Land und Leute, Die bürgerliche Gesellschaft, Die Familie) noch viel
gelesen werden; mir ist schon mancher begegnet, der nicht als Musikschrift-
stcller und Novellisten schätzte, ohne von jenen Büchern etwas zu wissen.
Jedenfalls werden sie auf heutige Leser nicht mehr den Eindruck machen wie
damals. Denn das Leben hat sich geändert, und die Zeit der Sonntagsblatt¬
stimmung ist vorüber.

Ob nun aber das dort so anmutig und für das Gemüt so wohlthuend
geschilderte in Wirklichkeit mehr als Dichtung war? Ob, wenn man mit dem
Handwerkszeug der Modewissenschaft von heute, der Statistik, darangehen wollte
und könnte, von jener Darstellung mehr übrig bleiben würde als die Wahr¬
heit, die anch die Dichtung hat: daß es nämlich so sein kann und manchmal
anch so gewesen ist, wer will das sagen? Jedenfalls geht die wirkliche soziale
Bewegung, wenn man schärfer aus Beobachten geht und dann seine Erinne¬
rungen sammelt, mehr im Zickzack, a.is es der Mensch sehen möchte, auf und
nieder. Der Menschen Art hält sich nur gern an das Erfreuliche, und darum
meint man auch, es sei natürlich, daß sich alles aufwärts entwickle. Das
"Hinunter" sieht keiner gern. Es ergreift und betrübt uns bei Menschen, die
uns nahe stehen oder uns irgendwie angehen. Es im großen, als Erschei¬
nung zu beobachten, interessirt keinen. So verfolgen wir denn auch den wirk¬
lichen Niedergang so vieler Familien nicht leicht auf eine längere Strecke,
während uns das Glück der in die Höhe gekommnen dauernd vor Augen steht
oder doch oft in die Erinnerung kommt. Und doch spricht schon Rousseau in
der Neuen Heloise dus wahre Wort aus: "Man hört immer nur von Ta¬
lenten, durch die jemand emporsteigt. Keiner will hinunter. Meinst du, daß
das natürliche Ordnung sei?"

Zum mindesten möchte doch jeder sich und die Seinen auf der Höhe, die
er einmal erstiegen hat, erhalten. Der Wunsch ist menschlich gerechtfertigt.
Man meint damit auch wohl schon ein Übriges an Genügsamkeit zu thun,
wenn mau von einer gewissen Mitte aus nicht höher strebt und nichts weiteres
mehr verlangt, und man meint dann, in dieser Zufriedenheit schon eine Tugend
zu zeigen. Aus dieser Stimmung heraus sind seit den ältesten Zeiten die vielen
schönen Betrachtungen gewachsen über das Glück der mittlern Lebensstellung,
über die wahre Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig. Und wer in


wurde. Alles erschien so glaublich und so wahr. Man meinte, in die Seele
unsers Volks zu sehen, und es war so beruhigend, wahrzunehmen, wie schön
und stetig es mit unserm deutschen bürgerlichen Leben aufwärts ging, wenn
man sich auch als Nation damals noch nicht fühlen durfte. Ach und wie war
das alles geschildert! So friedlich und sonntäglich, daß das Schulmeisterleben
zum Idyll wird, wie bei Jean Paul, wobei es sich denn von selbst versteht,
daß des vortrefflichen Küsters Sohn der noch angesehenere Herr Pfarrer werden
muß, wie in Vossens Louise. Ich weiß nicht, ob die schönen Bücher von
nicht (Land und Leute, Die bürgerliche Gesellschaft, Die Familie) noch viel
gelesen werden; mir ist schon mancher begegnet, der nicht als Musikschrift-
stcller und Novellisten schätzte, ohne von jenen Büchern etwas zu wissen.
Jedenfalls werden sie auf heutige Leser nicht mehr den Eindruck machen wie
damals. Denn das Leben hat sich geändert, und die Zeit der Sonntagsblatt¬
stimmung ist vorüber.

Ob nun aber das dort so anmutig und für das Gemüt so wohlthuend
geschilderte in Wirklichkeit mehr als Dichtung war? Ob, wenn man mit dem
Handwerkszeug der Modewissenschaft von heute, der Statistik, darangehen wollte
und könnte, von jener Darstellung mehr übrig bleiben würde als die Wahr¬
heit, die anch die Dichtung hat: daß es nämlich so sein kann und manchmal
anch so gewesen ist, wer will das sagen? Jedenfalls geht die wirkliche soziale
Bewegung, wenn man schärfer aus Beobachten geht und dann seine Erinne¬
rungen sammelt, mehr im Zickzack, a.is es der Mensch sehen möchte, auf und
nieder. Der Menschen Art hält sich nur gern an das Erfreuliche, und darum
meint man auch, es sei natürlich, daß sich alles aufwärts entwickle. Das
„Hinunter" sieht keiner gern. Es ergreift und betrübt uns bei Menschen, die
uns nahe stehen oder uns irgendwie angehen. Es im großen, als Erschei¬
nung zu beobachten, interessirt keinen. So verfolgen wir denn auch den wirk¬
lichen Niedergang so vieler Familien nicht leicht auf eine längere Strecke,
während uns das Glück der in die Höhe gekommnen dauernd vor Augen steht
oder doch oft in die Erinnerung kommt. Und doch spricht schon Rousseau in
der Neuen Heloise dus wahre Wort aus: „Man hört immer nur von Ta¬
lenten, durch die jemand emporsteigt. Keiner will hinunter. Meinst du, daß
das natürliche Ordnung sei?"

Zum mindesten möchte doch jeder sich und die Seinen auf der Höhe, die
er einmal erstiegen hat, erhalten. Der Wunsch ist menschlich gerechtfertigt.
Man meint damit auch wohl schon ein Übriges an Genügsamkeit zu thun,
wenn mau von einer gewissen Mitte aus nicht höher strebt und nichts weiteres
mehr verlangt, und man meint dann, in dieser Zufriedenheit schon eine Tugend
zu zeigen. Aus dieser Stimmung heraus sind seit den ältesten Zeiten die vielen
schönen Betrachtungen gewachsen über das Glück der mittlern Lebensstellung,
über die wahre Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig. Und wer in


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0506" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222810"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1448" prev="#ID_1447"> wurde. Alles erschien so glaublich und so wahr. Man meinte, in die Seele<lb/>
unsers Volks zu sehen, und es war so beruhigend, wahrzunehmen, wie schön<lb/>
und stetig es mit unserm deutschen bürgerlichen Leben aufwärts ging, wenn<lb/>
man sich auch als Nation damals noch nicht fühlen durfte. Ach und wie war<lb/>
das alles geschildert! So friedlich und sonntäglich, daß das Schulmeisterleben<lb/>
zum Idyll wird, wie bei Jean Paul, wobei es sich denn von selbst versteht,<lb/>
daß des vortrefflichen Küsters Sohn der noch angesehenere Herr Pfarrer werden<lb/>
muß, wie in Vossens Louise. Ich weiß nicht, ob die schönen Bücher von<lb/>
nicht (Land und Leute, Die bürgerliche Gesellschaft, Die Familie) noch viel<lb/>
gelesen werden; mir ist schon mancher begegnet, der nicht als Musikschrift-<lb/>
stcller und Novellisten schätzte, ohne von jenen Büchern etwas zu wissen.<lb/>
Jedenfalls werden sie auf heutige Leser nicht mehr den Eindruck machen wie<lb/>
damals. Denn das Leben hat sich geändert, und die Zeit der Sonntagsblatt¬<lb/>
stimmung ist vorüber.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1449"> Ob nun aber das dort so anmutig und für das Gemüt so wohlthuend<lb/>
geschilderte in Wirklichkeit mehr als Dichtung war? Ob, wenn man mit dem<lb/>
Handwerkszeug der Modewissenschaft von heute, der Statistik, darangehen wollte<lb/>
und könnte, von jener Darstellung mehr übrig bleiben würde als die Wahr¬<lb/>
heit, die anch die Dichtung hat: daß es nämlich so sein kann und manchmal<lb/>
anch so gewesen ist, wer will das sagen? Jedenfalls geht die wirkliche soziale<lb/>
Bewegung, wenn man schärfer aus Beobachten geht und dann seine Erinne¬<lb/>
rungen sammelt, mehr im Zickzack, a.is es der Mensch sehen möchte, auf und<lb/>
nieder. Der Menschen Art hält sich nur gern an das Erfreuliche, und darum<lb/>
meint man auch, es sei natürlich, daß sich alles aufwärts entwickle. Das<lb/>
&#x201E;Hinunter" sieht keiner gern. Es ergreift und betrübt uns bei Menschen, die<lb/>
uns nahe stehen oder uns irgendwie angehen. Es im großen, als Erschei¬<lb/>
nung zu beobachten, interessirt keinen. So verfolgen wir denn auch den wirk¬<lb/>
lichen Niedergang so vieler Familien nicht leicht auf eine längere Strecke,<lb/>
während uns das Glück der in die Höhe gekommnen dauernd vor Augen steht<lb/>
oder doch oft in die Erinnerung kommt. Und doch spricht schon Rousseau in<lb/>
der Neuen Heloise dus wahre Wort aus: &#x201E;Man hört immer nur von Ta¬<lb/>
lenten, durch die jemand emporsteigt. Keiner will hinunter. Meinst du, daß<lb/>
das natürliche Ordnung sei?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1450" next="#ID_1451"> Zum mindesten möchte doch jeder sich und die Seinen auf der Höhe, die<lb/>
er einmal erstiegen hat, erhalten. Der Wunsch ist menschlich gerechtfertigt.<lb/>
Man meint damit auch wohl schon ein Übriges an Genügsamkeit zu thun,<lb/>
wenn mau von einer gewissen Mitte aus nicht höher strebt und nichts weiteres<lb/>
mehr verlangt, und man meint dann, in dieser Zufriedenheit schon eine Tugend<lb/>
zu zeigen. Aus dieser Stimmung heraus sind seit den ältesten Zeiten die vielen<lb/>
schönen Betrachtungen gewachsen über das Glück der mittlern Lebensstellung,<lb/>
über die wahre Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig. Und wer in</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0506] wurde. Alles erschien so glaublich und so wahr. Man meinte, in die Seele unsers Volks zu sehen, und es war so beruhigend, wahrzunehmen, wie schön und stetig es mit unserm deutschen bürgerlichen Leben aufwärts ging, wenn man sich auch als Nation damals noch nicht fühlen durfte. Ach und wie war das alles geschildert! So friedlich und sonntäglich, daß das Schulmeisterleben zum Idyll wird, wie bei Jean Paul, wobei es sich denn von selbst versteht, daß des vortrefflichen Küsters Sohn der noch angesehenere Herr Pfarrer werden muß, wie in Vossens Louise. Ich weiß nicht, ob die schönen Bücher von nicht (Land und Leute, Die bürgerliche Gesellschaft, Die Familie) noch viel gelesen werden; mir ist schon mancher begegnet, der nicht als Musikschrift- stcller und Novellisten schätzte, ohne von jenen Büchern etwas zu wissen. Jedenfalls werden sie auf heutige Leser nicht mehr den Eindruck machen wie damals. Denn das Leben hat sich geändert, und die Zeit der Sonntagsblatt¬ stimmung ist vorüber. Ob nun aber das dort so anmutig und für das Gemüt so wohlthuend geschilderte in Wirklichkeit mehr als Dichtung war? Ob, wenn man mit dem Handwerkszeug der Modewissenschaft von heute, der Statistik, darangehen wollte und könnte, von jener Darstellung mehr übrig bleiben würde als die Wahr¬ heit, die anch die Dichtung hat: daß es nämlich so sein kann und manchmal anch so gewesen ist, wer will das sagen? Jedenfalls geht die wirkliche soziale Bewegung, wenn man schärfer aus Beobachten geht und dann seine Erinne¬ rungen sammelt, mehr im Zickzack, a.is es der Mensch sehen möchte, auf und nieder. Der Menschen Art hält sich nur gern an das Erfreuliche, und darum meint man auch, es sei natürlich, daß sich alles aufwärts entwickle. Das „Hinunter" sieht keiner gern. Es ergreift und betrübt uns bei Menschen, die uns nahe stehen oder uns irgendwie angehen. Es im großen, als Erschei¬ nung zu beobachten, interessirt keinen. So verfolgen wir denn auch den wirk¬ lichen Niedergang so vieler Familien nicht leicht auf eine längere Strecke, während uns das Glück der in die Höhe gekommnen dauernd vor Augen steht oder doch oft in die Erinnerung kommt. Und doch spricht schon Rousseau in der Neuen Heloise dus wahre Wort aus: „Man hört immer nur von Ta¬ lenten, durch die jemand emporsteigt. Keiner will hinunter. Meinst du, daß das natürliche Ordnung sei?" Zum mindesten möchte doch jeder sich und die Seinen auf der Höhe, die er einmal erstiegen hat, erhalten. Der Wunsch ist menschlich gerechtfertigt. Man meint damit auch wohl schon ein Übriges an Genügsamkeit zu thun, wenn mau von einer gewissen Mitte aus nicht höher strebt und nichts weiteres mehr verlangt, und man meint dann, in dieser Zufriedenheit schon eine Tugend zu zeigen. Aus dieser Stimmung heraus sind seit den ältesten Zeiten die vielen schönen Betrachtungen gewachsen über das Glück der mittlern Lebensstellung, über die wahre Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig. Und wer in

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/506
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/506>, abgerufen am 25.06.2024.