Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Nationalökonomik und Rechtswissenschaft

gation alles Bestehenden und der Grundgesetze geschichtlichen Werdens bildet
und dennoch mit jenem Fanatismus der Sekten, der der Widerlegung aus¬
weicht, als Volksaberglaube sich ausbreitet und das Proletariat für den radi¬
kalen Umsturz gewinnt, sammelt und organisirt." Prüft man von diesem
Standpunkte aus das Verhalten der berufsmäßigen "Forscher" neuester Schule
gegenüber der Sozialdemokratie, so wird man vielfach Grund zu ernstem Be¬
denken, ja zu schwerem Tadel haben. Statt der Ausbreitung jenes "Volks¬
aberglaubens," wie es die heilige Pflicht der wissenschaftlichen Forschung
ist, mit alleu Kräften, wo immer es sei, entgegenzutreten, räumt man seit
Jahren immer mehr der Sozialdemokratie die Rolle eines schützenswerten, ver¬
dienstvollen, unentbehrlichen Bundesgenossen im Kampfe gegen das Manchester-
tum im Staats- und Wirtschaftsleben ein, preist seine "guten" Seiten, be¬
schönigt seine Fehler, wie das solchen Bundesgenossen gegenüber üblich ist,
und macht sich so an der tiefen Korruption unsrer Arbeitermassen in unver¬
antwortlicher Weise mitschuldig. Und was diese berufsmäßigen Forscher nicht
unmittelbar verderben, daß verderben' sie mittelbar durch die Züchtung eines
Heeres unberufner "Forscher," jener sozialpolitischen Modeschriftsteller männ¬
lichen und weiblichen Geschlechts, die in der Schilderung alles möglichen
"Elends" die einseitige Mache bis zum Virtuosentum treiben, ganz unbeküm¬
mert um die unausbleiblichen volkspädagogischen Wirkungen nach beiden
Seiten, auf die "Elenden" wie auf die "Reichen." Wahrhaftig, es ist hohe
Zeit, daß eine gründliche rechtswissenschaftliche Schulung das Bewußtsein der
Verantwortlichkeit in der volkswirtschaftlichen Forschung wieder scharfe und
der heillosen Einseitigkeit einen Damm ziehe, die den gesunden Fortgang der
Sozialreform schon mehr zu gefährden anfängt als ihn der Hochmut des
Protzentums und die starre Orthodoxie der Manchesterleute noch zu gefährden
vermag. Es ist kein allzu erfreuliches Zeugnis für unsre Zeit, daß von den
mehr als fünfzig berufsmäßigen Volkswirten in Deutschland heute, wo die
wirtschaftliche und sozialpolitische Gesetzgebung nenn Zehntel der Aufgabe
unsrer Parlamente ausmacht, im deutschen Reichstag und im preußischen
Landtage nur die Herren Friedberg, Paasche und, wenn man will, neuerdings
Herr Hitze zu finden sind. Das ist nachteilig für die gesetzgeberischen Arbeiten
und nachteilig für die volkswirtschaftliche Forschung. Die Herren "Forscher"
sollten sämtlich in den Reichstag und in die Landtage geschickt werden und
dort in allen Kommissionen tüchtig mitarbeiten müssen, das würde sie den
Zusammenhang von Nationalökonomik und Rechtswissenschaft am besten wieder
würdigen lehren.

Das Verständnis für diesen Zusammenhang wird aber vor allem befördert
werden durch die Nötigung sowohl der angehenden Verwaltungsbeamten wie
der angehenden Richter zu einem planvollen und ernsthaften Studium der
Staatswissenschaften und der Rechtswissenschaft auf der Universität. Ob


Nationalökonomik und Rechtswissenschaft

gation alles Bestehenden und der Grundgesetze geschichtlichen Werdens bildet
und dennoch mit jenem Fanatismus der Sekten, der der Widerlegung aus¬
weicht, als Volksaberglaube sich ausbreitet und das Proletariat für den radi¬
kalen Umsturz gewinnt, sammelt und organisirt." Prüft man von diesem
Standpunkte aus das Verhalten der berufsmäßigen „Forscher" neuester Schule
gegenüber der Sozialdemokratie, so wird man vielfach Grund zu ernstem Be¬
denken, ja zu schwerem Tadel haben. Statt der Ausbreitung jenes „Volks¬
aberglaubens," wie es die heilige Pflicht der wissenschaftlichen Forschung
ist, mit alleu Kräften, wo immer es sei, entgegenzutreten, räumt man seit
Jahren immer mehr der Sozialdemokratie die Rolle eines schützenswerten, ver¬
dienstvollen, unentbehrlichen Bundesgenossen im Kampfe gegen das Manchester-
tum im Staats- und Wirtschaftsleben ein, preist seine „guten" Seiten, be¬
schönigt seine Fehler, wie das solchen Bundesgenossen gegenüber üblich ist,
und macht sich so an der tiefen Korruption unsrer Arbeitermassen in unver¬
antwortlicher Weise mitschuldig. Und was diese berufsmäßigen Forscher nicht
unmittelbar verderben, daß verderben' sie mittelbar durch die Züchtung eines
Heeres unberufner „Forscher," jener sozialpolitischen Modeschriftsteller männ¬
lichen und weiblichen Geschlechts, die in der Schilderung alles möglichen
„Elends" die einseitige Mache bis zum Virtuosentum treiben, ganz unbeküm¬
mert um die unausbleiblichen volkspädagogischen Wirkungen nach beiden
Seiten, auf die „Elenden" wie auf die „Reichen." Wahrhaftig, es ist hohe
Zeit, daß eine gründliche rechtswissenschaftliche Schulung das Bewußtsein der
Verantwortlichkeit in der volkswirtschaftlichen Forschung wieder scharfe und
der heillosen Einseitigkeit einen Damm ziehe, die den gesunden Fortgang der
Sozialreform schon mehr zu gefährden anfängt als ihn der Hochmut des
Protzentums und die starre Orthodoxie der Manchesterleute noch zu gefährden
vermag. Es ist kein allzu erfreuliches Zeugnis für unsre Zeit, daß von den
mehr als fünfzig berufsmäßigen Volkswirten in Deutschland heute, wo die
wirtschaftliche und sozialpolitische Gesetzgebung nenn Zehntel der Aufgabe
unsrer Parlamente ausmacht, im deutschen Reichstag und im preußischen
Landtage nur die Herren Friedberg, Paasche und, wenn man will, neuerdings
Herr Hitze zu finden sind. Das ist nachteilig für die gesetzgeberischen Arbeiten
und nachteilig für die volkswirtschaftliche Forschung. Die Herren „Forscher"
sollten sämtlich in den Reichstag und in die Landtage geschickt werden und
dort in allen Kommissionen tüchtig mitarbeiten müssen, das würde sie den
Zusammenhang von Nationalökonomik und Rechtswissenschaft am besten wieder
würdigen lehren.

Das Verständnis für diesen Zusammenhang wird aber vor allem befördert
werden durch die Nötigung sowohl der angehenden Verwaltungsbeamten wie
der angehenden Richter zu einem planvollen und ernsthaften Studium der
Staatswissenschaften und der Rechtswissenschaft auf der Universität. Ob


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0500" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222804"/>
          <fw type="header" place="top"> Nationalökonomik und Rechtswissenschaft</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1434" prev="#ID_1433"> gation alles Bestehenden und der Grundgesetze geschichtlichen Werdens bildet<lb/>
und dennoch mit jenem Fanatismus der Sekten, der der Widerlegung aus¬<lb/>
weicht, als Volksaberglaube sich ausbreitet und das Proletariat für den radi¬<lb/>
kalen Umsturz gewinnt, sammelt und organisirt." Prüft man von diesem<lb/>
Standpunkte aus das Verhalten der berufsmäßigen &#x201E;Forscher" neuester Schule<lb/>
gegenüber der Sozialdemokratie, so wird man vielfach Grund zu ernstem Be¬<lb/>
denken, ja zu schwerem Tadel haben. Statt der Ausbreitung jenes &#x201E;Volks¬<lb/>
aberglaubens," wie es die heilige Pflicht der wissenschaftlichen Forschung<lb/>
ist, mit alleu Kräften, wo immer es sei, entgegenzutreten, räumt man seit<lb/>
Jahren immer mehr der Sozialdemokratie die Rolle eines schützenswerten, ver¬<lb/>
dienstvollen, unentbehrlichen Bundesgenossen im Kampfe gegen das Manchester-<lb/>
tum im Staats- und Wirtschaftsleben ein, preist seine &#x201E;guten" Seiten, be¬<lb/>
schönigt seine Fehler, wie das solchen Bundesgenossen gegenüber üblich ist,<lb/>
und macht sich so an der tiefen Korruption unsrer Arbeitermassen in unver¬<lb/>
antwortlicher Weise mitschuldig. Und was diese berufsmäßigen Forscher nicht<lb/>
unmittelbar verderben, daß verderben' sie mittelbar durch die Züchtung eines<lb/>
Heeres unberufner &#x201E;Forscher," jener sozialpolitischen Modeschriftsteller männ¬<lb/>
lichen und weiblichen Geschlechts, die in der Schilderung alles möglichen<lb/>
&#x201E;Elends" die einseitige Mache bis zum Virtuosentum treiben, ganz unbeküm¬<lb/>
mert um die unausbleiblichen volkspädagogischen Wirkungen nach beiden<lb/>
Seiten, auf die &#x201E;Elenden" wie auf die &#x201E;Reichen." Wahrhaftig, es ist hohe<lb/>
Zeit, daß eine gründliche rechtswissenschaftliche Schulung das Bewußtsein der<lb/>
Verantwortlichkeit in der volkswirtschaftlichen Forschung wieder scharfe und<lb/>
der heillosen Einseitigkeit einen Damm ziehe, die den gesunden Fortgang der<lb/>
Sozialreform schon mehr zu gefährden anfängt als ihn der Hochmut des<lb/>
Protzentums und die starre Orthodoxie der Manchesterleute noch zu gefährden<lb/>
vermag. Es ist kein allzu erfreuliches Zeugnis für unsre Zeit, daß von den<lb/>
mehr als fünfzig berufsmäßigen Volkswirten in Deutschland heute, wo die<lb/>
wirtschaftliche und sozialpolitische Gesetzgebung nenn Zehntel der Aufgabe<lb/>
unsrer Parlamente ausmacht, im deutschen Reichstag und im preußischen<lb/>
Landtage nur die Herren Friedberg, Paasche und, wenn man will, neuerdings<lb/>
Herr Hitze zu finden sind. Das ist nachteilig für die gesetzgeberischen Arbeiten<lb/>
und nachteilig für die volkswirtschaftliche Forschung. Die Herren &#x201E;Forscher"<lb/>
sollten sämtlich in den Reichstag und in die Landtage geschickt werden und<lb/>
dort in allen Kommissionen tüchtig mitarbeiten müssen, das würde sie den<lb/>
Zusammenhang von Nationalökonomik und Rechtswissenschaft am besten wieder<lb/>
würdigen lehren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1435" next="#ID_1436"> Das Verständnis für diesen Zusammenhang wird aber vor allem befördert<lb/>
werden durch die Nötigung sowohl der angehenden Verwaltungsbeamten wie<lb/>
der angehenden Richter zu einem planvollen und ernsthaften Studium der<lb/>
Staatswissenschaften und der Rechtswissenschaft auf der Universität. Ob</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0500] Nationalökonomik und Rechtswissenschaft gation alles Bestehenden und der Grundgesetze geschichtlichen Werdens bildet und dennoch mit jenem Fanatismus der Sekten, der der Widerlegung aus¬ weicht, als Volksaberglaube sich ausbreitet und das Proletariat für den radi¬ kalen Umsturz gewinnt, sammelt und organisirt." Prüft man von diesem Standpunkte aus das Verhalten der berufsmäßigen „Forscher" neuester Schule gegenüber der Sozialdemokratie, so wird man vielfach Grund zu ernstem Be¬ denken, ja zu schwerem Tadel haben. Statt der Ausbreitung jenes „Volks¬ aberglaubens," wie es die heilige Pflicht der wissenschaftlichen Forschung ist, mit alleu Kräften, wo immer es sei, entgegenzutreten, räumt man seit Jahren immer mehr der Sozialdemokratie die Rolle eines schützenswerten, ver¬ dienstvollen, unentbehrlichen Bundesgenossen im Kampfe gegen das Manchester- tum im Staats- und Wirtschaftsleben ein, preist seine „guten" Seiten, be¬ schönigt seine Fehler, wie das solchen Bundesgenossen gegenüber üblich ist, und macht sich so an der tiefen Korruption unsrer Arbeitermassen in unver¬ antwortlicher Weise mitschuldig. Und was diese berufsmäßigen Forscher nicht unmittelbar verderben, daß verderben' sie mittelbar durch die Züchtung eines Heeres unberufner „Forscher," jener sozialpolitischen Modeschriftsteller männ¬ lichen und weiblichen Geschlechts, die in der Schilderung alles möglichen „Elends" die einseitige Mache bis zum Virtuosentum treiben, ganz unbeküm¬ mert um die unausbleiblichen volkspädagogischen Wirkungen nach beiden Seiten, auf die „Elenden" wie auf die „Reichen." Wahrhaftig, es ist hohe Zeit, daß eine gründliche rechtswissenschaftliche Schulung das Bewußtsein der Verantwortlichkeit in der volkswirtschaftlichen Forschung wieder scharfe und der heillosen Einseitigkeit einen Damm ziehe, die den gesunden Fortgang der Sozialreform schon mehr zu gefährden anfängt als ihn der Hochmut des Protzentums und die starre Orthodoxie der Manchesterleute noch zu gefährden vermag. Es ist kein allzu erfreuliches Zeugnis für unsre Zeit, daß von den mehr als fünfzig berufsmäßigen Volkswirten in Deutschland heute, wo die wirtschaftliche und sozialpolitische Gesetzgebung nenn Zehntel der Aufgabe unsrer Parlamente ausmacht, im deutschen Reichstag und im preußischen Landtage nur die Herren Friedberg, Paasche und, wenn man will, neuerdings Herr Hitze zu finden sind. Das ist nachteilig für die gesetzgeberischen Arbeiten und nachteilig für die volkswirtschaftliche Forschung. Die Herren „Forscher" sollten sämtlich in den Reichstag und in die Landtage geschickt werden und dort in allen Kommissionen tüchtig mitarbeiten müssen, das würde sie den Zusammenhang von Nationalökonomik und Rechtswissenschaft am besten wieder würdigen lehren. Das Verständnis für diesen Zusammenhang wird aber vor allem befördert werden durch die Nötigung sowohl der angehenden Verwaltungsbeamten wie der angehenden Richter zu einem planvollen und ernsthaften Studium der Staatswissenschaften und der Rechtswissenschaft auf der Universität. Ob

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/500
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/500>, abgerufen am 25.06.2024.