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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Reform des Strafprozesses

Freiheitsstrafe überhaupt niemals einbringen kann, die widerwilligen Zeugen
mit hohen Geldstrafen und mit Zwangshaft bis zu sechs Monaten zu belegen.
Endlich ist die Kommission über die in ihrem Schoße gegebne Anregung, die
Disziplinargewalt über die deutschen Richter durch Neichsgesetz einheitlich zu
ordnen, leider ohne Debatte hinweggegangen.

Alle diese Dinge, zu denen man auch die Einführung der Popularklage
als des einzigen, aber auch sicher wirkenden Mittels rechnen mag, eine gleich¬
mäßige Handhabung der Anklagebefugnisse gegenüber den verschiednen Be-
völkernngsklassen und Parteiangehörigen zu sichern, sind alte und neue Wünsche,
die, wie uns scheint, durchaus von der Nechtsempsindung der Nation getragen
werden und auch von der Rechtswissenschaft zur unmittelbaren gesetzgeberischen
Verwertung vorbereitet sind. Entschließt man sich einmal, an dem bestehenden
Gesetz zu ändern, so sollte man auch diese Punkte nicht übergehen. Mißlingt
die Arbeit, nun so kaun der Nock, der sechzehn Jahre gehalten hat, auch noch
Jahrzehnte getragen werden, ohne daß die Gesundheit des Staates und des
Volkes darunter Schaden leidet.

Im Reichstag scheint ja eine starke Strömung zu Gunsten der Berufung
vorzuherrschen. Daß sie auch im Volke populär sei, läßt sich kaum behaupten.
Unter den Juristen sind die Ansichten mindestens sehr geteilt, unter den
Laien aber, einschließlich der vielen zur Ausübung des Schössen- und Ge¬
schwornendienstes berufnen Tausende, herrscht eine höchst bedauerliche Gleich¬
artigkeit gegen die Formen des gerichtlichen Verfahrens. Möge sich der
Reichstag wenigstens darüber klar werden, daß die jetzt versuchte Neuordnung
des Strafprozesses nichts Endgiltiges schaffen kaun. Wie man sich auch sonst
zur Frage der Berufung stellen mag, in der vorgeschlagnen Gestalt ist sie eine
Halbheit, ein Notbehelf. Sicher ist nur das eine, daß sie nicht wertvoll genug
ist, wichtige Bürgschaften des Strafprozesses um ihretwillen daranzugeben.
Strafrecht und Strafprozeß gehören dem öffentlichen Recht an und haben zu
allen Zeiten mit dem Maße der den Völkern gewährleisteten bürgerlichen Freiheit
in engem Zusammenhange gestanden. Auch an diesen Nachbargebieten der
Verfassung zu rütteln ist gefährlich, doppelt gefährlich dann, wenn sich die
Neuerung als ein Fehlschlag erweisen sollte. Es ist heute nicht zeitgemäß,
in gesetzgeberischen Fragen auf die Stimme der Wissenschaft zu hören. Wir
wollen aber wenigstens daran erinnert haben, daß die Strafprozeßwissenschaft
nach wie vor die Berufung ziemlich einmütig verwirft und eine wirkliche Reform
des Strafverfahrens nur in dem dreifach gegliederten Schöffengericht für alle
Strafsachen, sowie in der Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Voruntersuchung
mit dem Recht unbeschränkter Verteidigung sieht.




Die Reform des Strafprozesses

Freiheitsstrafe überhaupt niemals einbringen kann, die widerwilligen Zeugen
mit hohen Geldstrafen und mit Zwangshaft bis zu sechs Monaten zu belegen.
Endlich ist die Kommission über die in ihrem Schoße gegebne Anregung, die
Disziplinargewalt über die deutschen Richter durch Neichsgesetz einheitlich zu
ordnen, leider ohne Debatte hinweggegangen.

Alle diese Dinge, zu denen man auch die Einführung der Popularklage
als des einzigen, aber auch sicher wirkenden Mittels rechnen mag, eine gleich¬
mäßige Handhabung der Anklagebefugnisse gegenüber den verschiednen Be-
völkernngsklassen und Parteiangehörigen zu sichern, sind alte und neue Wünsche,
die, wie uns scheint, durchaus von der Nechtsempsindung der Nation getragen
werden und auch von der Rechtswissenschaft zur unmittelbaren gesetzgeberischen
Verwertung vorbereitet sind. Entschließt man sich einmal, an dem bestehenden
Gesetz zu ändern, so sollte man auch diese Punkte nicht übergehen. Mißlingt
die Arbeit, nun so kaun der Nock, der sechzehn Jahre gehalten hat, auch noch
Jahrzehnte getragen werden, ohne daß die Gesundheit des Staates und des
Volkes darunter Schaden leidet.

Im Reichstag scheint ja eine starke Strömung zu Gunsten der Berufung
vorzuherrschen. Daß sie auch im Volke populär sei, läßt sich kaum behaupten.
Unter den Juristen sind die Ansichten mindestens sehr geteilt, unter den
Laien aber, einschließlich der vielen zur Ausübung des Schössen- und Ge¬
schwornendienstes berufnen Tausende, herrscht eine höchst bedauerliche Gleich¬
artigkeit gegen die Formen des gerichtlichen Verfahrens. Möge sich der
Reichstag wenigstens darüber klar werden, daß die jetzt versuchte Neuordnung
des Strafprozesses nichts Endgiltiges schaffen kaun. Wie man sich auch sonst
zur Frage der Berufung stellen mag, in der vorgeschlagnen Gestalt ist sie eine
Halbheit, ein Notbehelf. Sicher ist nur das eine, daß sie nicht wertvoll genug
ist, wichtige Bürgschaften des Strafprozesses um ihretwillen daranzugeben.
Strafrecht und Strafprozeß gehören dem öffentlichen Recht an und haben zu
allen Zeiten mit dem Maße der den Völkern gewährleisteten bürgerlichen Freiheit
in engem Zusammenhange gestanden. Auch an diesen Nachbargebieten der
Verfassung zu rütteln ist gefährlich, doppelt gefährlich dann, wenn sich die
Neuerung als ein Fehlschlag erweisen sollte. Es ist heute nicht zeitgemäß,
in gesetzgeberischen Fragen auf die Stimme der Wissenschaft zu hören. Wir
wollen aber wenigstens daran erinnert haben, daß die Strafprozeßwissenschaft
nach wie vor die Berufung ziemlich einmütig verwirft und eine wirkliche Reform
des Strafverfahrens nur in dem dreifach gegliederten Schöffengericht für alle
Strafsachen, sowie in der Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Voruntersuchung
mit dem Recht unbeschränkter Verteidigung sieht.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/448>, abgerufen am 02.10.2024.