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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Reform des Strafprozesses

der beiden beisitzenden Richter, also auch dem Berichterstatter zu übertragen,
so kann es leicht kommen, ja es kann bei starkbeschäftigten Gerichten zur Regel
werden, daß die Akten, solange sie dem Gericht vorliegen, überhaupt nur von
einem einzigen Richter genauer geprüft werden.

Es ist auffällig, daß der Regierungsentwurf und mit ihm die Kom¬
missionsvorschläge, obwohl sich die meisten der neuen Bestimmungen eine
Stärkung der staatlichen Strafgewalt zu Ungunsten des Angeklagten angelegen
sein lassen, der Bequemlichkeit des Angeklagten gerade dort entgegenkommen,
wo sie sich schwer an ihm rächen kann. Er soll, wenn es sich um Aburteilung
von Vergehen und Übertretungen handelt, von der Hauptverhandlung auch
ohne genügende Entschuldigung wegbleiben dürfen und kann auch bei Ver¬
brechen von der Verpflichtung zum Erscheinen entbunden werden, wenn sein
Erscheinen nach dem Ermessen des Richters besonders erschwert ist. Die
Hauptverhandlung kann also auch in seiner Abwesenheit von statten gehen.
Zwar hat ihm die Kommission das Recht zugestanden, sich in solchen Fällen
dnrch einen Verteidiger vertreten zu lassen, ihm auch eine ziemlich zweifelhaft
gefaßte Wiedereinsetzung gewährt. Aber die Gefahr, von Richtern abgeurteilt
zu werden, die die Hauptperson des ganzen Strafprozesses gar nicht zu sehen
bekommen haben, ist für den Angeklagten so groß, daß das bisherige Recht mit
gutem Grunde wenigstens die Bedingung stellte, daß ihm voraussichtlich keine
härtere als eine sechswöchige Freiheitsstrafe in Aussicht stehe. Der Zwang,
sich persönlich den erkennenden Richtern zu stellen, ist im Vergleich mit den
sonstigen Übeln des Strafprozesses ein so geringer Nachteil, daß er fast als
Wohlthat für den Angeklagten bezeichnet werden darf.

Gegen ein beschleunigtes Verfahren in den Füllen, wo Personen auf
frischer That verfolgt und vorläufig festgenommen worden sind, wäre an sich
nicht viel einzuwenden, wenn die hierin liegende Verkürzung der Verteidigung
bei allen Vergehen, nicht bloß, wie die Kommission vorschlägt, nnr bei Ver¬
brechensanklagen durch die Beiordnung eines Offizialverteidigers einigermaßen
ausgeglichen wäre. Nur lohnt es kaum der Mühe, eine Anzahl Paragraphen
für Fülle zu schmieden, die bei der allbekannten Überlastung der Strafkammern
voraussichtlich nur sehr selten praktisch werden würden. Wenigstens in den
Großstädten müßte man hierfür eigne, täglich aufs Geratewohl sich versam¬
melnde Richterkollegien mit einem stehenden Apparat von öffentlichen Anklägern
und Verteidigern bereit halten.

Eine der gefährlichsten der von der Negierung vorgeschlagnen Neuerungen,
daß künftig auch die Strafkammer erster Instanz, wie jetzt schon das Schöffen¬
gericht und die Berufungskammer, den Umfang der Beweisaufnahme solle be¬
stimmen dürfen, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse
gebunden zu sein, ist von der Kommission durch die Bestimmung ersetzt worden,
daß die Strafkammer der ersten Instanz (also nicht auch der Berufungssenat


Die Reform des Strafprozesses

der beiden beisitzenden Richter, also auch dem Berichterstatter zu übertragen,
so kann es leicht kommen, ja es kann bei starkbeschäftigten Gerichten zur Regel
werden, daß die Akten, solange sie dem Gericht vorliegen, überhaupt nur von
einem einzigen Richter genauer geprüft werden.

Es ist auffällig, daß der Regierungsentwurf und mit ihm die Kom¬
missionsvorschläge, obwohl sich die meisten der neuen Bestimmungen eine
Stärkung der staatlichen Strafgewalt zu Ungunsten des Angeklagten angelegen
sein lassen, der Bequemlichkeit des Angeklagten gerade dort entgegenkommen,
wo sie sich schwer an ihm rächen kann. Er soll, wenn es sich um Aburteilung
von Vergehen und Übertretungen handelt, von der Hauptverhandlung auch
ohne genügende Entschuldigung wegbleiben dürfen und kann auch bei Ver¬
brechen von der Verpflichtung zum Erscheinen entbunden werden, wenn sein
Erscheinen nach dem Ermessen des Richters besonders erschwert ist. Die
Hauptverhandlung kann also auch in seiner Abwesenheit von statten gehen.
Zwar hat ihm die Kommission das Recht zugestanden, sich in solchen Fällen
dnrch einen Verteidiger vertreten zu lassen, ihm auch eine ziemlich zweifelhaft
gefaßte Wiedereinsetzung gewährt. Aber die Gefahr, von Richtern abgeurteilt
zu werden, die die Hauptperson des ganzen Strafprozesses gar nicht zu sehen
bekommen haben, ist für den Angeklagten so groß, daß das bisherige Recht mit
gutem Grunde wenigstens die Bedingung stellte, daß ihm voraussichtlich keine
härtere als eine sechswöchige Freiheitsstrafe in Aussicht stehe. Der Zwang,
sich persönlich den erkennenden Richtern zu stellen, ist im Vergleich mit den
sonstigen Übeln des Strafprozesses ein so geringer Nachteil, daß er fast als
Wohlthat für den Angeklagten bezeichnet werden darf.

Gegen ein beschleunigtes Verfahren in den Füllen, wo Personen auf
frischer That verfolgt und vorläufig festgenommen worden sind, wäre an sich
nicht viel einzuwenden, wenn die hierin liegende Verkürzung der Verteidigung
bei allen Vergehen, nicht bloß, wie die Kommission vorschlägt, nnr bei Ver¬
brechensanklagen durch die Beiordnung eines Offizialverteidigers einigermaßen
ausgeglichen wäre. Nur lohnt es kaum der Mühe, eine Anzahl Paragraphen
für Fülle zu schmieden, die bei der allbekannten Überlastung der Strafkammern
voraussichtlich nur sehr selten praktisch werden würden. Wenigstens in den
Großstädten müßte man hierfür eigne, täglich aufs Geratewohl sich versam¬
melnde Richterkollegien mit einem stehenden Apparat von öffentlichen Anklägern
und Verteidigern bereit halten.

Eine der gefährlichsten der von der Negierung vorgeschlagnen Neuerungen,
daß künftig auch die Strafkammer erster Instanz, wie jetzt schon das Schöffen¬
gericht und die Berufungskammer, den Umfang der Beweisaufnahme solle be¬
stimmen dürfen, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse
gebunden zu sein, ist von der Kommission durch die Bestimmung ersetzt worden,
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[0443] Die Reform des Strafprozesses der beiden beisitzenden Richter, also auch dem Berichterstatter zu übertragen, so kann es leicht kommen, ja es kann bei starkbeschäftigten Gerichten zur Regel werden, daß die Akten, solange sie dem Gericht vorliegen, überhaupt nur von einem einzigen Richter genauer geprüft werden. Es ist auffällig, daß der Regierungsentwurf und mit ihm die Kom¬ missionsvorschläge, obwohl sich die meisten der neuen Bestimmungen eine Stärkung der staatlichen Strafgewalt zu Ungunsten des Angeklagten angelegen sein lassen, der Bequemlichkeit des Angeklagten gerade dort entgegenkommen, wo sie sich schwer an ihm rächen kann. Er soll, wenn es sich um Aburteilung von Vergehen und Übertretungen handelt, von der Hauptverhandlung auch ohne genügende Entschuldigung wegbleiben dürfen und kann auch bei Ver¬ brechen von der Verpflichtung zum Erscheinen entbunden werden, wenn sein Erscheinen nach dem Ermessen des Richters besonders erschwert ist. Die Hauptverhandlung kann also auch in seiner Abwesenheit von statten gehen. Zwar hat ihm die Kommission das Recht zugestanden, sich in solchen Fällen dnrch einen Verteidiger vertreten zu lassen, ihm auch eine ziemlich zweifelhaft gefaßte Wiedereinsetzung gewährt. Aber die Gefahr, von Richtern abgeurteilt zu werden, die die Hauptperson des ganzen Strafprozesses gar nicht zu sehen bekommen haben, ist für den Angeklagten so groß, daß das bisherige Recht mit gutem Grunde wenigstens die Bedingung stellte, daß ihm voraussichtlich keine härtere als eine sechswöchige Freiheitsstrafe in Aussicht stehe. Der Zwang, sich persönlich den erkennenden Richtern zu stellen, ist im Vergleich mit den sonstigen Übeln des Strafprozesses ein so geringer Nachteil, daß er fast als Wohlthat für den Angeklagten bezeichnet werden darf. Gegen ein beschleunigtes Verfahren in den Füllen, wo Personen auf frischer That verfolgt und vorläufig festgenommen worden sind, wäre an sich nicht viel einzuwenden, wenn die hierin liegende Verkürzung der Verteidigung bei allen Vergehen, nicht bloß, wie die Kommission vorschlägt, nnr bei Ver¬ brechensanklagen durch die Beiordnung eines Offizialverteidigers einigermaßen ausgeglichen wäre. Nur lohnt es kaum der Mühe, eine Anzahl Paragraphen für Fülle zu schmieden, die bei der allbekannten Überlastung der Strafkammern voraussichtlich nur sehr selten praktisch werden würden. Wenigstens in den Großstädten müßte man hierfür eigne, täglich aufs Geratewohl sich versam¬ melnde Richterkollegien mit einem stehenden Apparat von öffentlichen Anklägern und Verteidigern bereit halten. Eine der gefährlichsten der von der Negierung vorgeschlagnen Neuerungen, daß künftig auch die Strafkammer erster Instanz, wie jetzt schon das Schöffen¬ gericht und die Berufungskammer, den Umfang der Beweisaufnahme solle be¬ stimmen dürfen, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein, ist von der Kommission durch die Bestimmung ersetzt worden, daß die Strafkammer der ersten Instanz (also nicht auch der Berufungssenat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/443>, abgerufen am 22.07.2024.