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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Ausdehnung des Hochschulunterrichts

Trefflichkeit unsrer Schulen, so sehen wir Deutschland weit zurückbleiben hinter
England und Amerika in der Bethätigung des nicht amtlichen Willens fast
auf allen Wegen der Bildung. Wir stehen zurück in den Volksbibliotheken,
den Lesezirkeln (Oirou1u.t,iug' Indr-uiss), in den Riesenauflagen beliebter Bücher,
die auf ein regeres, opferwilligeres und weiter ausgebreitetes Bildungsleben
deuten, in der Billigkeit, Verbreitung und oft auch Güte der Zeitschriften
und in dem massenhaften Verbrauch von Tagcslitteratnr politischer, unter¬
haltender oder fachmännischer Art. Die Verteilung der Bildung ist bei uns
vielfach so, daß ein Maximum in den Schul- und Hochschuljahren rasch zu
einem Minimum sinkt in den Jahren des selbständigen Schaffens des Mannes.
Für den so schwer zu schätzenden Betrag der Bildung, die in einem Volke
lebt und wirkt, geben die Schulen keinen Maßstab, weil so viel dort Ge¬
lerntes tot bleibt oder ganz verloren geht. So wie die selbständige Bethäti-
gung des Deutschen im Ausland immer erst die feinen und groben Fesseln ab¬
streifen muß, die ihr die Neglementirung und Diszipliniruug in der Heimat
angelegt haben, und wie selbst in unsern eignen Kolonien das Selbstschaffen
erst herauskommt, wenn der Drill weg ist, so steckt auch in unsrer deutscheu
Bildung viel zu viel Gezwungnes und Befohlenes. Und daher auf dem Gebiet
der Schule bis hinauf zur Hochschule weniger Unverlierbares, das mit dem
ganzen Menschen weiterwächst, als man uach so viel und für alle Teile so
mühseliger Erziehung und Eintrichteruug erwarten sollte. Es bedarf gar nicht
des Vergleichs mit andern Völkern, um uns zu zeigen, daß wir als Volk noch
weite Wege vor uus haben bis zu Bildungsziclen, die wir uns notwendig
setzen müssen.

Betrachten wir einmal das geistige Leben in einer Mittel- oder süddeutschen
Stadt von zehn- bis zwanzigtausend Einwohnern. Soweit es nicht im Schul¬
unterricht und in der kirchlichen Unterweisung aufgeht und überhaupt uach außen
sichtbar wird, sammelt es sich in Vereinen, die gelegentlich einmal einen Vor¬
trag halten lassen, der fast immer von auswärts herberufnen Rednern über¬
tragen wird, da die einheimischen nicht ziehen. Dabei macht man die merk¬
würdige Erfahrung, daß die Besitzenden, die in den Villen rings um die Stadt
wohnen, besonders die Fabrikanten und Kaufleute, diese Bildungsgelegenheit
durchaus uicht nach dem Maß ihrer Muße benutzen. Es sind mehr die Leute
von Mittlerin Besitz, der mittlere Bürgerstand und die "Studirten," die sich
herandrängen, wenn ein interessanter Vortrag angekündigt wird. Das gleicht
ganz der Erfahrung, daß überall in den größern deutscheu Städten die Geburts¬
aristokratie, auch wo sie stark vertreten ist, bei öffentlichen Vortrügen fast ganz
durch ihre Abwesenheit glänzt. Daran ändert auch die regere Teilnahme von
Prinzen und Prinzessinnen nichts. Daß es in Deutschland Schlösser giebt, wo
weder Schillers uoch Goethes Werke noch überhaupt Bücher zu finden sind, ist
eine traurige Thatsache. Daß der hohe Adel Deutschlands der öffentlichen Dis-


Ausdehnung des Hochschulunterrichts

Trefflichkeit unsrer Schulen, so sehen wir Deutschland weit zurückbleiben hinter
England und Amerika in der Bethätigung des nicht amtlichen Willens fast
auf allen Wegen der Bildung. Wir stehen zurück in den Volksbibliotheken,
den Lesezirkeln (Oirou1u.t,iug' Indr-uiss), in den Riesenauflagen beliebter Bücher,
die auf ein regeres, opferwilligeres und weiter ausgebreitetes Bildungsleben
deuten, in der Billigkeit, Verbreitung und oft auch Güte der Zeitschriften
und in dem massenhaften Verbrauch von Tagcslitteratnr politischer, unter¬
haltender oder fachmännischer Art. Die Verteilung der Bildung ist bei uns
vielfach so, daß ein Maximum in den Schul- und Hochschuljahren rasch zu
einem Minimum sinkt in den Jahren des selbständigen Schaffens des Mannes.
Für den so schwer zu schätzenden Betrag der Bildung, die in einem Volke
lebt und wirkt, geben die Schulen keinen Maßstab, weil so viel dort Ge¬
lerntes tot bleibt oder ganz verloren geht. So wie die selbständige Bethäti-
gung des Deutschen im Ausland immer erst die feinen und groben Fesseln ab¬
streifen muß, die ihr die Neglementirung und Diszipliniruug in der Heimat
angelegt haben, und wie selbst in unsern eignen Kolonien das Selbstschaffen
erst herauskommt, wenn der Drill weg ist, so steckt auch in unsrer deutscheu
Bildung viel zu viel Gezwungnes und Befohlenes. Und daher auf dem Gebiet
der Schule bis hinauf zur Hochschule weniger Unverlierbares, das mit dem
ganzen Menschen weiterwächst, als man uach so viel und für alle Teile so
mühseliger Erziehung und Eintrichteruug erwarten sollte. Es bedarf gar nicht
des Vergleichs mit andern Völkern, um uns zu zeigen, daß wir als Volk noch
weite Wege vor uus haben bis zu Bildungsziclen, die wir uns notwendig
setzen müssen.

Betrachten wir einmal das geistige Leben in einer Mittel- oder süddeutschen
Stadt von zehn- bis zwanzigtausend Einwohnern. Soweit es nicht im Schul¬
unterricht und in der kirchlichen Unterweisung aufgeht und überhaupt uach außen
sichtbar wird, sammelt es sich in Vereinen, die gelegentlich einmal einen Vor¬
trag halten lassen, der fast immer von auswärts herberufnen Rednern über¬
tragen wird, da die einheimischen nicht ziehen. Dabei macht man die merk¬
würdige Erfahrung, daß die Besitzenden, die in den Villen rings um die Stadt
wohnen, besonders die Fabrikanten und Kaufleute, diese Bildungsgelegenheit
durchaus uicht nach dem Maß ihrer Muße benutzen. Es sind mehr die Leute
von Mittlerin Besitz, der mittlere Bürgerstand und die „Studirten," die sich
herandrängen, wenn ein interessanter Vortrag angekündigt wird. Das gleicht
ganz der Erfahrung, daß überall in den größern deutscheu Städten die Geburts¬
aristokratie, auch wo sie stark vertreten ist, bei öffentlichen Vortrügen fast ganz
durch ihre Abwesenheit glänzt. Daran ändert auch die regere Teilnahme von
Prinzen und Prinzessinnen nichts. Daß es in Deutschland Schlösser giebt, wo
weder Schillers uoch Goethes Werke noch überhaupt Bücher zu finden sind, ist
eine traurige Thatsache. Daß der hohe Adel Deutschlands der öffentlichen Dis-


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[0426] Ausdehnung des Hochschulunterrichts Trefflichkeit unsrer Schulen, so sehen wir Deutschland weit zurückbleiben hinter England und Amerika in der Bethätigung des nicht amtlichen Willens fast auf allen Wegen der Bildung. Wir stehen zurück in den Volksbibliotheken, den Lesezirkeln (Oirou1u.t,iug' Indr-uiss), in den Riesenauflagen beliebter Bücher, die auf ein regeres, opferwilligeres und weiter ausgebreitetes Bildungsleben deuten, in der Billigkeit, Verbreitung und oft auch Güte der Zeitschriften und in dem massenhaften Verbrauch von Tagcslitteratnr politischer, unter¬ haltender oder fachmännischer Art. Die Verteilung der Bildung ist bei uns vielfach so, daß ein Maximum in den Schul- und Hochschuljahren rasch zu einem Minimum sinkt in den Jahren des selbständigen Schaffens des Mannes. Für den so schwer zu schätzenden Betrag der Bildung, die in einem Volke lebt und wirkt, geben die Schulen keinen Maßstab, weil so viel dort Ge¬ lerntes tot bleibt oder ganz verloren geht. So wie die selbständige Bethäti- gung des Deutschen im Ausland immer erst die feinen und groben Fesseln ab¬ streifen muß, die ihr die Neglementirung und Diszipliniruug in der Heimat angelegt haben, und wie selbst in unsern eignen Kolonien das Selbstschaffen erst herauskommt, wenn der Drill weg ist, so steckt auch in unsrer deutscheu Bildung viel zu viel Gezwungnes und Befohlenes. Und daher auf dem Gebiet der Schule bis hinauf zur Hochschule weniger Unverlierbares, das mit dem ganzen Menschen weiterwächst, als man uach so viel und für alle Teile so mühseliger Erziehung und Eintrichteruug erwarten sollte. Es bedarf gar nicht des Vergleichs mit andern Völkern, um uns zu zeigen, daß wir als Volk noch weite Wege vor uus haben bis zu Bildungsziclen, die wir uns notwendig setzen müssen. Betrachten wir einmal das geistige Leben in einer Mittel- oder süddeutschen Stadt von zehn- bis zwanzigtausend Einwohnern. Soweit es nicht im Schul¬ unterricht und in der kirchlichen Unterweisung aufgeht und überhaupt uach außen sichtbar wird, sammelt es sich in Vereinen, die gelegentlich einmal einen Vor¬ trag halten lassen, der fast immer von auswärts herberufnen Rednern über¬ tragen wird, da die einheimischen nicht ziehen. Dabei macht man die merk¬ würdige Erfahrung, daß die Besitzenden, die in den Villen rings um die Stadt wohnen, besonders die Fabrikanten und Kaufleute, diese Bildungsgelegenheit durchaus uicht nach dem Maß ihrer Muße benutzen. Es sind mehr die Leute von Mittlerin Besitz, der mittlere Bürgerstand und die „Studirten," die sich herandrängen, wenn ein interessanter Vortrag angekündigt wird. Das gleicht ganz der Erfahrung, daß überall in den größern deutscheu Städten die Geburts¬ aristokratie, auch wo sie stark vertreten ist, bei öffentlichen Vortrügen fast ganz durch ihre Abwesenheit glänzt. Daran ändert auch die regere Teilnahme von Prinzen und Prinzessinnen nichts. Daß es in Deutschland Schlösser giebt, wo weder Schillers uoch Goethes Werke noch überhaupt Bücher zu finden sind, ist eine traurige Thatsache. Daß der hohe Adel Deutschlands der öffentlichen Dis-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/426>, abgerufen am 22.07.2024.