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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Ltwas von der Post

Vor den Augen, wenn man sich so ein statistisches Formular ansieht. Die Er¬
mittlungen über die Zahl der eingelieferten, bestellten und ausgegebnen Briefe,
Postkarten, Drucksachen und Warenproben finden jährlich zweimal für einen Zeit¬
raum von sieben Tagen statt. Das Ergebnis der in der größten Hast vor-
genvmmnen Zählung, wobei eine Trennung dieser Sendungen nach Aufgabe-
und Bestimmungsland, nach Gewicht, Frankatur und vielen andern in den
Formularen gestellten Fragen stattfindet, und 178 Spalten auszufüllen sind,
wird vervielfältigt, um die Zahlen für das Jahr zu gewinnen. An sich er¬
giebt diese Art der Ermittlung gar nichts zuverlässiges, weil der Briefverkehr
in den verschiednen Jahreszeiten ganz ungleich ist. In einer Woche werden bei
einer Postcmstalt auf einmal tausende von Drucksachen eingeliefert, und dann
tritt wieder eine Pause ein. Aber selbst die Ermittlungen für die sieben Tage
sind, wie jeder im praktischen Dienste beschäftigte Postbeamte bestätigen wird,
ungenau und beruhen größtenteils auf Schätzungen und Annahmen. Der Ver¬
kehr soll sich heben, und so wird an den statistischen Nachweisungen so lange
gekünstelt, bis sich im ganzen eine Steigerung des Verkehrs ergiebt. Die
Arbeitskräfte der Beamten bei den Postanstalten, den Oberpostdirektionen und
dem statistischen Bureau des Reichspostamts werden daher ganz unnützerweise
in Anspruch genommen, und das dicke Heft, das jedes Jahr erscheint, um ein
Bild von den Verkehrsverhältnissen zu liefern, ist, was die Briefe, Postkarten,
Drucksachen und Warenproben betrifft, vollständig wertlos, weil es nur auf
Annahmen, aber nicht auf Thatsachen beruht.

Von den königlich sächsischen Postbeamten wurde bis 1868 verlangt, daß
sie über die Postverbindungen im ganzen Königreich genau unterrichtet waren.
Es war wirklich zu bewundern, welche Kenntnis sie von den Verkehrsverhültnisscn
in ihrem Vaterlande hatten. Die Reichspostverwaltnng stellt derartige An-
forderungen nicht, und doch wäre es sehr gut, wenn von jedem Postbeamten
die genaue Kenntnis der Lage der Postorte im eignen und in den benach¬
barten Bezirken verlangt würde und bei den Prüfungen nachzuweisen wäre.
Aber welche Unkenntnis in der Lage der Orte tritt bei den Prüfungen der
jüngern Beamten, die schon seit einigen Jahren selbständig Dienst gethnu
haben, zu Tage! Bei der höhern (Staats-) Prüfung ist seit längerer Zeit
die Geographie als Prüfungsgegenstand ganz weggefallen. Und doch wäre es
sehr notwendig, gerade in der Kenntnis der Geographie, namentlich der Lage
der Orte und der bestehenden Verbindungen, höhere Anforderungen zu stellen,
dagegen manches andre dem Juristen zu überlassen.

In neuerer Zeit wird von oben herab zwar dahin gewirkt, daß das
Schreibwerk vermindert wird, aber es geht damit nur langsam vorwärts, und
die abgeschmackten Redensarten: "ganz gehorsamst" und "sehr gefälligst" stehen
noch in schönster Blüte. Das Heft "Über den Kanzleistil" von Rothe ist aller¬
dings zur Beachtung empfohlen worden, aber "zur Kenntnisnahme und zum


Grenzboten II 13S6 51
Ltwas von der Post

Vor den Augen, wenn man sich so ein statistisches Formular ansieht. Die Er¬
mittlungen über die Zahl der eingelieferten, bestellten und ausgegebnen Briefe,
Postkarten, Drucksachen und Warenproben finden jährlich zweimal für einen Zeit¬
raum von sieben Tagen statt. Das Ergebnis der in der größten Hast vor-
genvmmnen Zählung, wobei eine Trennung dieser Sendungen nach Aufgabe-
und Bestimmungsland, nach Gewicht, Frankatur und vielen andern in den
Formularen gestellten Fragen stattfindet, und 178 Spalten auszufüllen sind,
wird vervielfältigt, um die Zahlen für das Jahr zu gewinnen. An sich er¬
giebt diese Art der Ermittlung gar nichts zuverlässiges, weil der Briefverkehr
in den verschiednen Jahreszeiten ganz ungleich ist. In einer Woche werden bei
einer Postcmstalt auf einmal tausende von Drucksachen eingeliefert, und dann
tritt wieder eine Pause ein. Aber selbst die Ermittlungen für die sieben Tage
sind, wie jeder im praktischen Dienste beschäftigte Postbeamte bestätigen wird,
ungenau und beruhen größtenteils auf Schätzungen und Annahmen. Der Ver¬
kehr soll sich heben, und so wird an den statistischen Nachweisungen so lange
gekünstelt, bis sich im ganzen eine Steigerung des Verkehrs ergiebt. Die
Arbeitskräfte der Beamten bei den Postanstalten, den Oberpostdirektionen und
dem statistischen Bureau des Reichspostamts werden daher ganz unnützerweise
in Anspruch genommen, und das dicke Heft, das jedes Jahr erscheint, um ein
Bild von den Verkehrsverhältnissen zu liefern, ist, was die Briefe, Postkarten,
Drucksachen und Warenproben betrifft, vollständig wertlos, weil es nur auf
Annahmen, aber nicht auf Thatsachen beruht.

Von den königlich sächsischen Postbeamten wurde bis 1868 verlangt, daß
sie über die Postverbindungen im ganzen Königreich genau unterrichtet waren.
Es war wirklich zu bewundern, welche Kenntnis sie von den Verkehrsverhültnisscn
in ihrem Vaterlande hatten. Die Reichspostverwaltnng stellt derartige An-
forderungen nicht, und doch wäre es sehr gut, wenn von jedem Postbeamten
die genaue Kenntnis der Lage der Postorte im eignen und in den benach¬
barten Bezirken verlangt würde und bei den Prüfungen nachzuweisen wäre.
Aber welche Unkenntnis in der Lage der Orte tritt bei den Prüfungen der
jüngern Beamten, die schon seit einigen Jahren selbständig Dienst gethnu
haben, zu Tage! Bei der höhern (Staats-) Prüfung ist seit längerer Zeit
die Geographie als Prüfungsgegenstand ganz weggefallen. Und doch wäre es
sehr notwendig, gerade in der Kenntnis der Geographie, namentlich der Lage
der Orte und der bestehenden Verbindungen, höhere Anforderungen zu stellen,
dagegen manches andre dem Juristen zu überlassen.

In neuerer Zeit wird von oben herab zwar dahin gewirkt, daß das
Schreibwerk vermindert wird, aber es geht damit nur langsam vorwärts, und
die abgeschmackten Redensarten: „ganz gehorsamst" und „sehr gefälligst" stehen
noch in schönster Blüte. Das Heft „Über den Kanzleistil" von Rothe ist aller¬
dings zur Beachtung empfohlen worden, aber „zur Kenntnisnahme und zum


Grenzboten II 13S6 51
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[0409] Ltwas von der Post Vor den Augen, wenn man sich so ein statistisches Formular ansieht. Die Er¬ mittlungen über die Zahl der eingelieferten, bestellten und ausgegebnen Briefe, Postkarten, Drucksachen und Warenproben finden jährlich zweimal für einen Zeit¬ raum von sieben Tagen statt. Das Ergebnis der in der größten Hast vor- genvmmnen Zählung, wobei eine Trennung dieser Sendungen nach Aufgabe- und Bestimmungsland, nach Gewicht, Frankatur und vielen andern in den Formularen gestellten Fragen stattfindet, und 178 Spalten auszufüllen sind, wird vervielfältigt, um die Zahlen für das Jahr zu gewinnen. An sich er¬ giebt diese Art der Ermittlung gar nichts zuverlässiges, weil der Briefverkehr in den verschiednen Jahreszeiten ganz ungleich ist. In einer Woche werden bei einer Postcmstalt auf einmal tausende von Drucksachen eingeliefert, und dann tritt wieder eine Pause ein. Aber selbst die Ermittlungen für die sieben Tage sind, wie jeder im praktischen Dienste beschäftigte Postbeamte bestätigen wird, ungenau und beruhen größtenteils auf Schätzungen und Annahmen. Der Ver¬ kehr soll sich heben, und so wird an den statistischen Nachweisungen so lange gekünstelt, bis sich im ganzen eine Steigerung des Verkehrs ergiebt. Die Arbeitskräfte der Beamten bei den Postanstalten, den Oberpostdirektionen und dem statistischen Bureau des Reichspostamts werden daher ganz unnützerweise in Anspruch genommen, und das dicke Heft, das jedes Jahr erscheint, um ein Bild von den Verkehrsverhältnissen zu liefern, ist, was die Briefe, Postkarten, Drucksachen und Warenproben betrifft, vollständig wertlos, weil es nur auf Annahmen, aber nicht auf Thatsachen beruht. Von den königlich sächsischen Postbeamten wurde bis 1868 verlangt, daß sie über die Postverbindungen im ganzen Königreich genau unterrichtet waren. Es war wirklich zu bewundern, welche Kenntnis sie von den Verkehrsverhültnisscn in ihrem Vaterlande hatten. Die Reichspostverwaltnng stellt derartige An- forderungen nicht, und doch wäre es sehr gut, wenn von jedem Postbeamten die genaue Kenntnis der Lage der Postorte im eignen und in den benach¬ barten Bezirken verlangt würde und bei den Prüfungen nachzuweisen wäre. Aber welche Unkenntnis in der Lage der Orte tritt bei den Prüfungen der jüngern Beamten, die schon seit einigen Jahren selbständig Dienst gethnu haben, zu Tage! Bei der höhern (Staats-) Prüfung ist seit längerer Zeit die Geographie als Prüfungsgegenstand ganz weggefallen. Und doch wäre es sehr notwendig, gerade in der Kenntnis der Geographie, namentlich der Lage der Orte und der bestehenden Verbindungen, höhere Anforderungen zu stellen, dagegen manches andre dem Juristen zu überlassen. In neuerer Zeit wird von oben herab zwar dahin gewirkt, daß das Schreibwerk vermindert wird, aber es geht damit nur langsam vorwärts, und die abgeschmackten Redensarten: „ganz gehorsamst" und „sehr gefälligst" stehen noch in schönster Blüte. Das Heft „Über den Kanzleistil" von Rothe ist aller¬ dings zur Beachtung empfohlen worden, aber „zur Kenntnisnahme und zum Grenzboten II 13S6 51

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/409>, abgerufen am 22.07.2024.