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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Erfolge der genossenschaftlichen Selbstverwaltung

mitgeteilte Liste der "handwerksmüßigen" Gewerbe als unwesentliche, der Praxis
um Ende des neunzehnten Jahrhunderts fremde Zuthat betrachtet hat, der
kaun sich hier eines bessern belehren. Unzählige Streitigkeiten, Anzeigen, Be¬
schwerden. Berufungen und Klagen haben in dieser ganzen Zeit das öster¬
reichische Genossenschaftsleben ausgefüllt darüber, ob der Schieferdecker auch eine
Zinkrinne am Dache anbringen dürfe, oder ob das nur dem Spengler erlaubt
sei, und ob der Spengler diese Rinne auch anstreichen dürfe, oder ob dazu
der Anstreicher gerufen werden müsse, ob der Schreiner auch eine Glasscheibe
einzusetzen und einen Metallbeschlag am Fensterrahmen anzuschlagen befugt sei,
oder ob dazu der Glaser und der Schlosser allein das Recht habe, wie weit
der Anstreicher, der Lackirer, der Vergolder, der Schriften- und Schildermaler,
der Gipser, der Tapezirer in ihren Arbeiten gehen dürfen, ohne einander ins
Handwerk zu pfuschen, wie sich der Schwarz- zum Weißbrotbäcker, zum Zucker-
bücker, zum Kuchenbücker, zum Nudel- und Makkaronierzeuger zu verhalten
habe, ob der Buchbinder auch Trauerschleifen mit Inschriften versehen, Bilder
aufspannen und einrahmen, Reisekoffer ans Pappe auch mit ledernen Hand¬
griffen versehen dürfe, was der Fleischhauer, der Fleischselcher, der Kleinvieh-
ftechcr für Rechte habe, ob der Weißgerber oder der Handschuhmacher Leder¬
hosen putzen, der Handschuhmacher oder der Schneider sie verfertigen, ob der
Goldarbeiter auch Stahlbrillen ausbessern, ob der Hufschmied auch zum Be¬
schlagen von "Klauen" beim Rindvieh allein berechtigt sei, oder ob anch der
Zeugschmied das ausführen dürfe. So geht es fort in jedem Gewerbszweige
bis in die feinsten Unterschiede hinein, von denen zu sprechen dem modernen
Menschen fast als veralteter Scherz erscheinen möchte. Und doch waren die
österreichischen Handwerksgenossenschaften alles Ernstes nach Lage der Gesetz¬
gebung seit 1883 damit in ihrem Recht, und die Behörden hatten die Pflicht,
auf solche Fragen nach allen Regeln büreaukratischer Gewissenhaftigkeit einzu¬
gehen und über die Grenzen eines jeden "Gewerberechts" die Entscheidung zu
treffen. Freilich haben sie sich dabei augenscheinlich redlich bemüht, dem ge¬
sunden Menschenverstande zu seinem Recht zu verhelfen und fünf oft gerade
sein zu lassen, aber den Dank der Meister hat mit solchen liberalen Ent¬
scheidungen der grüne Tisch wohl niemals geerntet, wenigstens immer nur
von der einen Seite, die gerade Vorteil davon hatte. Die Genosseuschafts-
vvrstünde haben mit diesen Aufgaben der Selbstverwaltung, dem Kampf für
das Handwerksrecht, wie es scheint, reichlich zu thun gehabt, Zeit blieb ihnen
daneben nicht übrig für die Lehrlinge, für den Arbeitsnachweis, für die
Hebung der technischen Leistungsfähigkeit des Handwerks. Hoffentlich werden
die in nächster Zeit zur Veröffentlichung kommenden Studien, die der Verein
sür Sozialpolitik über die Lage des Handwerks auch in Österreich angeregt
hat, das Bild, das die amtlichen Ausknuftsquellen bieten, noch weiter ergänzen
und beleben.


Die Erfolge der genossenschaftlichen Selbstverwaltung

mitgeteilte Liste der „handwerksmüßigen" Gewerbe als unwesentliche, der Praxis
um Ende des neunzehnten Jahrhunderts fremde Zuthat betrachtet hat, der
kaun sich hier eines bessern belehren. Unzählige Streitigkeiten, Anzeigen, Be¬
schwerden. Berufungen und Klagen haben in dieser ganzen Zeit das öster¬
reichische Genossenschaftsleben ausgefüllt darüber, ob der Schieferdecker auch eine
Zinkrinne am Dache anbringen dürfe, oder ob das nur dem Spengler erlaubt
sei, und ob der Spengler diese Rinne auch anstreichen dürfe, oder ob dazu
der Anstreicher gerufen werden müsse, ob der Schreiner auch eine Glasscheibe
einzusetzen und einen Metallbeschlag am Fensterrahmen anzuschlagen befugt sei,
oder ob dazu der Glaser und der Schlosser allein das Recht habe, wie weit
der Anstreicher, der Lackirer, der Vergolder, der Schriften- und Schildermaler,
der Gipser, der Tapezirer in ihren Arbeiten gehen dürfen, ohne einander ins
Handwerk zu pfuschen, wie sich der Schwarz- zum Weißbrotbäcker, zum Zucker-
bücker, zum Kuchenbücker, zum Nudel- und Makkaronierzeuger zu verhalten
habe, ob der Buchbinder auch Trauerschleifen mit Inschriften versehen, Bilder
aufspannen und einrahmen, Reisekoffer ans Pappe auch mit ledernen Hand¬
griffen versehen dürfe, was der Fleischhauer, der Fleischselcher, der Kleinvieh-
ftechcr für Rechte habe, ob der Weißgerber oder der Handschuhmacher Leder¬
hosen putzen, der Handschuhmacher oder der Schneider sie verfertigen, ob der
Goldarbeiter auch Stahlbrillen ausbessern, ob der Hufschmied auch zum Be¬
schlagen von „Klauen" beim Rindvieh allein berechtigt sei, oder ob anch der
Zeugschmied das ausführen dürfe. So geht es fort in jedem Gewerbszweige
bis in die feinsten Unterschiede hinein, von denen zu sprechen dem modernen
Menschen fast als veralteter Scherz erscheinen möchte. Und doch waren die
österreichischen Handwerksgenossenschaften alles Ernstes nach Lage der Gesetz¬
gebung seit 1883 damit in ihrem Recht, und die Behörden hatten die Pflicht,
auf solche Fragen nach allen Regeln büreaukratischer Gewissenhaftigkeit einzu¬
gehen und über die Grenzen eines jeden „Gewerberechts" die Entscheidung zu
treffen. Freilich haben sie sich dabei augenscheinlich redlich bemüht, dem ge¬
sunden Menschenverstande zu seinem Recht zu verhelfen und fünf oft gerade
sein zu lassen, aber den Dank der Meister hat mit solchen liberalen Ent¬
scheidungen der grüne Tisch wohl niemals geerntet, wenigstens immer nur
von der einen Seite, die gerade Vorteil davon hatte. Die Genosseuschafts-
vvrstünde haben mit diesen Aufgaben der Selbstverwaltung, dem Kampf für
das Handwerksrecht, wie es scheint, reichlich zu thun gehabt, Zeit blieb ihnen
daneben nicht übrig für die Lehrlinge, für den Arbeitsnachweis, für die
Hebung der technischen Leistungsfähigkeit des Handwerks. Hoffentlich werden
die in nächster Zeit zur Veröffentlichung kommenden Studien, die der Verein
sür Sozialpolitik über die Lage des Handwerks auch in Österreich angeregt
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und beleben.


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[0373] Die Erfolge der genossenschaftlichen Selbstverwaltung mitgeteilte Liste der „handwerksmüßigen" Gewerbe als unwesentliche, der Praxis um Ende des neunzehnten Jahrhunderts fremde Zuthat betrachtet hat, der kaun sich hier eines bessern belehren. Unzählige Streitigkeiten, Anzeigen, Be¬ schwerden. Berufungen und Klagen haben in dieser ganzen Zeit das öster¬ reichische Genossenschaftsleben ausgefüllt darüber, ob der Schieferdecker auch eine Zinkrinne am Dache anbringen dürfe, oder ob das nur dem Spengler erlaubt sei, und ob der Spengler diese Rinne auch anstreichen dürfe, oder ob dazu der Anstreicher gerufen werden müsse, ob der Schreiner auch eine Glasscheibe einzusetzen und einen Metallbeschlag am Fensterrahmen anzuschlagen befugt sei, oder ob dazu der Glaser und der Schlosser allein das Recht habe, wie weit der Anstreicher, der Lackirer, der Vergolder, der Schriften- und Schildermaler, der Gipser, der Tapezirer in ihren Arbeiten gehen dürfen, ohne einander ins Handwerk zu pfuschen, wie sich der Schwarz- zum Weißbrotbäcker, zum Zucker- bücker, zum Kuchenbücker, zum Nudel- und Makkaronierzeuger zu verhalten habe, ob der Buchbinder auch Trauerschleifen mit Inschriften versehen, Bilder aufspannen und einrahmen, Reisekoffer ans Pappe auch mit ledernen Hand¬ griffen versehen dürfe, was der Fleischhauer, der Fleischselcher, der Kleinvieh- ftechcr für Rechte habe, ob der Weißgerber oder der Handschuhmacher Leder¬ hosen putzen, der Handschuhmacher oder der Schneider sie verfertigen, ob der Goldarbeiter auch Stahlbrillen ausbessern, ob der Hufschmied auch zum Be¬ schlagen von „Klauen" beim Rindvieh allein berechtigt sei, oder ob anch der Zeugschmied das ausführen dürfe. So geht es fort in jedem Gewerbszweige bis in die feinsten Unterschiede hinein, von denen zu sprechen dem modernen Menschen fast als veralteter Scherz erscheinen möchte. Und doch waren die österreichischen Handwerksgenossenschaften alles Ernstes nach Lage der Gesetz¬ gebung seit 1883 damit in ihrem Recht, und die Behörden hatten die Pflicht, auf solche Fragen nach allen Regeln büreaukratischer Gewissenhaftigkeit einzu¬ gehen und über die Grenzen eines jeden „Gewerberechts" die Entscheidung zu treffen. Freilich haben sie sich dabei augenscheinlich redlich bemüht, dem ge¬ sunden Menschenverstande zu seinem Recht zu verhelfen und fünf oft gerade sein zu lassen, aber den Dank der Meister hat mit solchen liberalen Ent¬ scheidungen der grüne Tisch wohl niemals geerntet, wenigstens immer nur von der einen Seite, die gerade Vorteil davon hatte. Die Genosseuschafts- vvrstünde haben mit diesen Aufgaben der Selbstverwaltung, dem Kampf für das Handwerksrecht, wie es scheint, reichlich zu thun gehabt, Zeit blieb ihnen daneben nicht übrig für die Lehrlinge, für den Arbeitsnachweis, für die Hebung der technischen Leistungsfähigkeit des Handwerks. Hoffentlich werden die in nächster Zeit zur Veröffentlichung kommenden Studien, die der Verein sür Sozialpolitik über die Lage des Handwerks auch in Österreich angeregt hat, das Bild, das die amtlichen Ausknuftsquellen bieten, noch weiter ergänzen und beleben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/373>, abgerufen am 26.06.2024.