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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Hammerstein." Ein Werk von sehr charakteristischem Gepräge, wichtig sür
Wilbrandts frühe innerliche Trennung von dein, was man (zum Teil mit Un¬
recht) als das unterscheidende Kennzeichen der poetischen Schule oder Gruppe
betrachtete, der mau ihn hinzurechnete. Tendenziöse Kunst galt als die Losung
der Münchner. An der Erfindung und Durchführung dieses Schauspiels hatte
aber die freiheitliche Gesinnung des Dichters entscheidenden Anteil. Das Recht
des Herzens, der Persönlichkeit gegenüber harten, unduldbaren, angeblich heiligen
Satzungen, der Konflikt, der aus dem Abschluß einer von der Kirche versagten
Ehe erwächst, die unbeugsame Entschlossenheit des Gatten, bei dem erwählten
Weibe auszuharren, sie zu schirmen, die im "Grafen von Hammerstein" zur
Empörung wider Kaiser und Reich wird, es waren lauter Lebenserscheinungen
und leidenschaftliche Empfindungen, die ohne leidenschaftliche Kraftentfaltung
des Dichters, ohne das "Einströmen innerer Mächtigkeit in den Stoff" nicht
verkörpert werden konnten. Freilich von der Weise der rhetorischen Tendenz¬
dichter der jungdeutschen Periode stand die poetische und künstlerische Art
Wilbrandts weit ab. Einem ganz äußerliche" Vorgang oder einer beliebigen
Thcaterfigur die freiheitliche Etikette aufzukleben, wäre dem Schüler Kleifts
"nmöglich gewesen. In die Gegensätze des Dramas selbst, in die ganze Er¬
findung und Charakteristik mußte der leidenschaftliche Trotz wider die Knechtung
des Lebens durch frevelhafte Willkür gelegt werden, der Gang der Handlung
selbst zwingt die in der Menschenseele schlummernde dämonische Leidenschaft
hervor. Und doch, so energisch der Dichter auch hier mich reiner Gestaltung
strebte, so rund und beseelt die Gestatte" des Grase" Otto von Hammerstein,
seiner geliebten Irmgard von A"der"ach und ihres schlimmen Gegners, des
Bischofs Meinwerk sind, dem alten Fluche, der an dieser Art von Stoffen
haftet: das rhetorische Element unvermerkt und unwillkürlich mehr zu ver¬
breitern, als es Charakteristik und Seelenenthüll"ng fordert, durch die fort¬
gesetzte Wiederholung die Kraft des Motivs zu schwächen, ist auch Wilbrcmdt
nicht ganz entgangen.

Mit den "Malern" und dem "Grafen von Hcimmerstein" faßte Wilbrcmdt
Fuß auf den Brettern, soweit ein Dramatiker Fuß fassen kau", der dem
Theater und dem Publikum etwas andres ansinnt, als das tolle Gelächter,
das den blöden Schwank begleitet, und die "Sensation," die dem Ehebruchs¬
drama folgt. Eine Reise, die der Dichter in den Jahren 1864 und 1865
unternahm, hatte ihm mehrere Stoffe aus der römischen Geschichte, oder genauer
ans der Geschichte des römischen Verfalls, der sterbende" Republik und der
ersten Kaiserzeit vertraut gemacht, Zeiten, von denen der Dichter selbst meint,
daß sie "die Gegensätze Edles und Schlechtes, Tugenden und Laster zu wunder¬
barer Höhe entwickelt und sie in unendlich anziehenden, rücksichtslos lebendigen
Gestalten verkörpert, die gleichsam zu fragen scheinen: dramatische Dichter,
wo seid ihr?" An die Ausführung dieser Tragödienstoffe ging Wilbrandt


Hammerstein." Ein Werk von sehr charakteristischem Gepräge, wichtig sür
Wilbrandts frühe innerliche Trennung von dein, was man (zum Teil mit Un¬
recht) als das unterscheidende Kennzeichen der poetischen Schule oder Gruppe
betrachtete, der mau ihn hinzurechnete. Tendenziöse Kunst galt als die Losung
der Münchner. An der Erfindung und Durchführung dieses Schauspiels hatte
aber die freiheitliche Gesinnung des Dichters entscheidenden Anteil. Das Recht
des Herzens, der Persönlichkeit gegenüber harten, unduldbaren, angeblich heiligen
Satzungen, der Konflikt, der aus dem Abschluß einer von der Kirche versagten
Ehe erwächst, die unbeugsame Entschlossenheit des Gatten, bei dem erwählten
Weibe auszuharren, sie zu schirmen, die im „Grafen von Hammerstein" zur
Empörung wider Kaiser und Reich wird, es waren lauter Lebenserscheinungen
und leidenschaftliche Empfindungen, die ohne leidenschaftliche Kraftentfaltung
des Dichters, ohne das „Einströmen innerer Mächtigkeit in den Stoff" nicht
verkörpert werden konnten. Freilich von der Weise der rhetorischen Tendenz¬
dichter der jungdeutschen Periode stand die poetische und künstlerische Art
Wilbrandts weit ab. Einem ganz äußerliche» Vorgang oder einer beliebigen
Thcaterfigur die freiheitliche Etikette aufzukleben, wäre dem Schüler Kleifts
»nmöglich gewesen. In die Gegensätze des Dramas selbst, in die ganze Er¬
findung und Charakteristik mußte der leidenschaftliche Trotz wider die Knechtung
des Lebens durch frevelhafte Willkür gelegt werden, der Gang der Handlung
selbst zwingt die in der Menschenseele schlummernde dämonische Leidenschaft
hervor. Und doch, so energisch der Dichter auch hier mich reiner Gestaltung
strebte, so rund und beseelt die Gestatte» des Grase» Otto von Hammerstein,
seiner geliebten Irmgard von A»der»ach und ihres schlimmen Gegners, des
Bischofs Meinwerk sind, dem alten Fluche, der an dieser Art von Stoffen
haftet: das rhetorische Element unvermerkt und unwillkürlich mehr zu ver¬
breitern, als es Charakteristik und Seelenenthüll»ng fordert, durch die fort¬
gesetzte Wiederholung die Kraft des Motivs zu schwächen, ist auch Wilbrcmdt
nicht ganz entgangen.

Mit den „Malern" und dem „Grafen von Hcimmerstein" faßte Wilbrcmdt
Fuß auf den Brettern, soweit ein Dramatiker Fuß fassen kau», der dem
Theater und dem Publikum etwas andres ansinnt, als das tolle Gelächter,
das den blöden Schwank begleitet, und die „Sensation," die dem Ehebruchs¬
drama folgt. Eine Reise, die der Dichter in den Jahren 1864 und 1865
unternahm, hatte ihm mehrere Stoffe aus der römischen Geschichte, oder genauer
ans der Geschichte des römischen Verfalls, der sterbende» Republik und der
ersten Kaiserzeit vertraut gemacht, Zeiten, von denen der Dichter selbst meint,
daß sie „die Gegensätze Edles und Schlechtes, Tugenden und Laster zu wunder¬
barer Höhe entwickelt und sie in unendlich anziehenden, rücksichtslos lebendigen
Gestalten verkörpert, die gleichsam zu fragen scheinen: dramatische Dichter,
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[0031] Hammerstein." Ein Werk von sehr charakteristischem Gepräge, wichtig sür Wilbrandts frühe innerliche Trennung von dein, was man (zum Teil mit Un¬ recht) als das unterscheidende Kennzeichen der poetischen Schule oder Gruppe betrachtete, der mau ihn hinzurechnete. Tendenziöse Kunst galt als die Losung der Münchner. An der Erfindung und Durchführung dieses Schauspiels hatte aber die freiheitliche Gesinnung des Dichters entscheidenden Anteil. Das Recht des Herzens, der Persönlichkeit gegenüber harten, unduldbaren, angeblich heiligen Satzungen, der Konflikt, der aus dem Abschluß einer von der Kirche versagten Ehe erwächst, die unbeugsame Entschlossenheit des Gatten, bei dem erwählten Weibe auszuharren, sie zu schirmen, die im „Grafen von Hammerstein" zur Empörung wider Kaiser und Reich wird, es waren lauter Lebenserscheinungen und leidenschaftliche Empfindungen, die ohne leidenschaftliche Kraftentfaltung des Dichters, ohne das „Einströmen innerer Mächtigkeit in den Stoff" nicht verkörpert werden konnten. Freilich von der Weise der rhetorischen Tendenz¬ dichter der jungdeutschen Periode stand die poetische und künstlerische Art Wilbrandts weit ab. Einem ganz äußerliche» Vorgang oder einer beliebigen Thcaterfigur die freiheitliche Etikette aufzukleben, wäre dem Schüler Kleifts »nmöglich gewesen. In die Gegensätze des Dramas selbst, in die ganze Er¬ findung und Charakteristik mußte der leidenschaftliche Trotz wider die Knechtung des Lebens durch frevelhafte Willkür gelegt werden, der Gang der Handlung selbst zwingt die in der Menschenseele schlummernde dämonische Leidenschaft hervor. Und doch, so energisch der Dichter auch hier mich reiner Gestaltung strebte, so rund und beseelt die Gestatte» des Grase» Otto von Hammerstein, seiner geliebten Irmgard von A»der»ach und ihres schlimmen Gegners, des Bischofs Meinwerk sind, dem alten Fluche, der an dieser Art von Stoffen haftet: das rhetorische Element unvermerkt und unwillkürlich mehr zu ver¬ breitern, als es Charakteristik und Seelenenthüll»ng fordert, durch die fort¬ gesetzte Wiederholung die Kraft des Motivs zu schwächen, ist auch Wilbrcmdt nicht ganz entgangen. Mit den „Malern" und dem „Grafen von Hcimmerstein" faßte Wilbrcmdt Fuß auf den Brettern, soweit ein Dramatiker Fuß fassen kau», der dem Theater und dem Publikum etwas andres ansinnt, als das tolle Gelächter, das den blöden Schwank begleitet, und die „Sensation," die dem Ehebruchs¬ drama folgt. Eine Reise, die der Dichter in den Jahren 1864 und 1865 unternahm, hatte ihm mehrere Stoffe aus der römischen Geschichte, oder genauer ans der Geschichte des römischen Verfalls, der sterbende» Republik und der ersten Kaiserzeit vertraut gemacht, Zeiten, von denen der Dichter selbst meint, daß sie „die Gegensätze Edles und Schlechtes, Tugenden und Laster zu wunder¬ barer Höhe entwickelt und sie in unendlich anziehenden, rücksichtslos lebendigen Gestalten verkörpert, die gleichsam zu fragen scheinen: dramatische Dichter, wo seid ihr?" An die Ausführung dieser Tragödienstoffe ging Wilbrandt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/31>, abgerufen am 02.10.2024.