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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Lage des türkischen Staates

Nächst der festern Durchführung der Heeresreform und der allgemeinen
Wehrpflicht müßte eine Erneuerung des türkischen Staats vor allem bestehen
in der Einführung der längst versprochnen, aber bisher immer unterdrückten
konstitutionellen Regierungsform, wodurch der Günstlingswirtschaft und den
Palastintriguen ihre Schädlichkeit genommen werden würde; ferner in der un¬
bedingten politischen Gleichstellung der christlichen (Rajnh-) Bevölkerung mit der
moslimischen, da sich sonst dieser durch seine Handelstüchtigkeit für die Finanzen
des Staates unentbehrliche Bestandteil früher oder später doch losreißen wird;
sodann in dem Ausbau der anatolischen Bahnen, durch den der Wohlstand des
Volkes und die Finanzen des Staates einen ungeahnten Aufschwung nehmen
könnten, und durch den die Beschleunigung der Mobilmachung ganz bedeutend
gewinnen würde; endlich in einer sozialen Reform, die sich vor allem auf die
Stellung der Frau zu erstrecken hätte.

Aber wo ist in der Türkei der Mann, so umfassende und gewaltige Auf¬
gaben durchzuführen, und wo sind die Anzeichen, daß man dergleichen von der
Zukunft erwarten könnte? Und ist es nicht bereits zu spät? Ist nicht die
kostbare Zeit, die zu Gebote stand, bereits nutzlos verstrichen? Ist das türkische
Volk überhaupt fähig und reif für die gewaltigen Kulturaufgaben, die gerade
seinen Landen in unsrer Zeit bevorstehen? Es ist eine seltsame Laune der
Weltgeschichte gewesen, die das asiatische Steppenvolk der Türken nun schon
ein halbes Jahrtausend hindurch zu Herrn des Ländergebietes im Herzen und
in der Mitte der drei Erdteile der alten Welt gemacht hat, des Ländergebietes,
das die Wiege der ältesten Kultur und der Urgeschichte des Menschengeschlechts
gewesen ist, und das jetzt wieder durch den Gang der Handelswege einer neuen
und glänzenden Zeit entgegengeht. Wenn das türkische Volk nicht imstande
ist, die Kulturaufgabe selber zu lösen, die seinen Landen in nicht allzuferner
Zukunft zufallen muß, so wird es unfehlbar und bald durch den Ansturm
thatkräftigerer und befähigterer Völker hinweggefegt werden, die dann an seiner
Stelle die zwar mühevollen, aber auch einen glänzenden Preis verheißenden
Aufgaben übernehmen werden. Der Ansturm hat schon begonnen: von Norden
drängt Rußland herein, um den Besitz von Ägypten streiten sich England und
Frankreich, und selbst in das Zentrum, in Kleinasien, hält schon, wenn mich
vorläufig erst auf friedlichem Wege, durch den Bahnbau das europäische Wesen
mit Riesenschritten seinen Einzug, hier rühmlich voran die Deutschen. "Haben
denn die Frentis Kleinasien erobert?" soll eine alte Türkenfran in Eskischehr
halb erstaunt, halb erzürnt gefragt haben, als sie zum erstenmale die Eisen¬
bahn mit all dem fremdartigen Leben und Treiben sah. Kleinasien nimmt
einen eignen Platz in der Weltgeschichte ein: inmitten der drei Erdteile der
alten Welt gelegen, ist es seit Urzeiten die große Völkerbrücke, das Bindeglied
zwischen dem Morgen- und dem Abendland gewesen. Seine nach zwei Welt¬
teilen ansschauende Lage versinnbildlicht schon der auf uralten hethitischen


Die Lage des türkischen Staates

Nächst der festern Durchführung der Heeresreform und der allgemeinen
Wehrpflicht müßte eine Erneuerung des türkischen Staats vor allem bestehen
in der Einführung der längst versprochnen, aber bisher immer unterdrückten
konstitutionellen Regierungsform, wodurch der Günstlingswirtschaft und den
Palastintriguen ihre Schädlichkeit genommen werden würde; ferner in der un¬
bedingten politischen Gleichstellung der christlichen (Rajnh-) Bevölkerung mit der
moslimischen, da sich sonst dieser durch seine Handelstüchtigkeit für die Finanzen
des Staates unentbehrliche Bestandteil früher oder später doch losreißen wird;
sodann in dem Ausbau der anatolischen Bahnen, durch den der Wohlstand des
Volkes und die Finanzen des Staates einen ungeahnten Aufschwung nehmen
könnten, und durch den die Beschleunigung der Mobilmachung ganz bedeutend
gewinnen würde; endlich in einer sozialen Reform, die sich vor allem auf die
Stellung der Frau zu erstrecken hätte.

Aber wo ist in der Türkei der Mann, so umfassende und gewaltige Auf¬
gaben durchzuführen, und wo sind die Anzeichen, daß man dergleichen von der
Zukunft erwarten könnte? Und ist es nicht bereits zu spät? Ist nicht die
kostbare Zeit, die zu Gebote stand, bereits nutzlos verstrichen? Ist das türkische
Volk überhaupt fähig und reif für die gewaltigen Kulturaufgaben, die gerade
seinen Landen in unsrer Zeit bevorstehen? Es ist eine seltsame Laune der
Weltgeschichte gewesen, die das asiatische Steppenvolk der Türken nun schon
ein halbes Jahrtausend hindurch zu Herrn des Ländergebietes im Herzen und
in der Mitte der drei Erdteile der alten Welt gemacht hat, des Ländergebietes,
das die Wiege der ältesten Kultur und der Urgeschichte des Menschengeschlechts
gewesen ist, und das jetzt wieder durch den Gang der Handelswege einer neuen
und glänzenden Zeit entgegengeht. Wenn das türkische Volk nicht imstande
ist, die Kulturaufgabe selber zu lösen, die seinen Landen in nicht allzuferner
Zukunft zufallen muß, so wird es unfehlbar und bald durch den Ansturm
thatkräftigerer und befähigterer Völker hinweggefegt werden, die dann an seiner
Stelle die zwar mühevollen, aber auch einen glänzenden Preis verheißenden
Aufgaben übernehmen werden. Der Ansturm hat schon begonnen: von Norden
drängt Rußland herein, um den Besitz von Ägypten streiten sich England und
Frankreich, und selbst in das Zentrum, in Kleinasien, hält schon, wenn mich
vorläufig erst auf friedlichem Wege, durch den Bahnbau das europäische Wesen
mit Riesenschritten seinen Einzug, hier rühmlich voran die Deutschen. „Haben
denn die Frentis Kleinasien erobert?" soll eine alte Türkenfran in Eskischehr
halb erstaunt, halb erzürnt gefragt haben, als sie zum erstenmale die Eisen¬
bahn mit all dem fremdartigen Leben und Treiben sah. Kleinasien nimmt
einen eignen Platz in der Weltgeschichte ein: inmitten der drei Erdteile der
alten Welt gelegen, ist es seit Urzeiten die große Völkerbrücke, das Bindeglied
zwischen dem Morgen- und dem Abendland gewesen. Seine nach zwei Welt¬
teilen ansschauende Lage versinnbildlicht schon der auf uralten hethitischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/280>, abgerufen am 26.06.2024.