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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Lage des türkischen Staates

Armenier haben seit dem Untergang der glanzvollen Arsacidenherrschaft nur
wenig staatenbildende Kraft bewiesen -- woran die vielfachen grausamen Unter¬
drückungen und die dadurch veranlaßte Zersprengung und Zerstreuung der
Bewohner die Hauptschuld tragen mag --, aber ihr bis jetzt erfolgreicher
Widerstand in Zeitün mag ihnen die Hoffnung geben, daß auch für sie einmal
die Stunde der Befreiung schlagen wird; mußte doch nach und uach fast die
ganze türkische Armee mobil gemacht werden, um dem armenischen Aufstand
entgegenzutreten.

So gerät denn nun auch Kleinasien ins Wanken, das größte und stärkste
noch übrige Bollwerk des Türkeutums, wohin, wie in das rettende Boot eines
sinkenden Schiffes, nun schon seit dreißig Jahren unausgesetzt Scharen von
mohammedanischen Flüchtlingen (Muhadschyrs) von den unsichern Grenz¬
landen des Reichs zusammenströmen. Es gewinnt fast den Anschein, als
sollte der türkische Name in dem Lande einmal zu Grabe gehen, wo einst vor
einem halben Jahrtausend die Wiege seines Ruhmes stand: in Kleinasien bei
Eskischehr gründete Ertograul, der "Mäunerzerstückler," den "Sultan sun"*)
als Grenzmark gegen die Byzantiner, und von seinem Sohne Osman erhielt
das neue Reich den Namen, der dann Jahrhunderte hindurch der Schrecken
Europas wurde.

Jetzt ist die Macht des Halbmonds für immer gebrochen. Längst schon
blickt Rußland begehrlich nach Konstantinopel. "Wer dort herrscht, der ist der
wahre Herr der Welt," sagt das Testament Peters des Großen. Nur führt
leider, wie es heißt, der Weg nach Konstantinopel durch das Berliner Thor/'*)
und am Goldner Horn würden den Zaren englische Panzerschiffe begrüßen.
Die Eifersucht der Mächte fristet allein noch das Dasein des "kranken Mannes."

Vergebens sucht man bei den heutigen Türken die Nachkommen der helden¬
haften Osmcmly, der schrecklichen Serbenbezwiuger, der furchtbaren Ungarn¬
sieger, der Türken vor Wien. Als "ein gar elend, weibisch Volk" erschienen
sie schon dem biedern Dernschwam"^) die Türken. ^.ÄauMr var, g.äiwr ^ok,
Menschen, aber keine Männer gebe es in der Türkei, sagte zu Professor Hirsch-
felds) ein alter Muhadschyr. Mau fragt sich, was ist die Ursache dieses über¬
raschenden Niederganges? Kann ein Volk entarten, altern, sich überleben?
Meist wird ja die Frage mit dieser herkömmlichen, unverstandnen und nuper-






*) d, h, "vor dein Sultan" oder "Grenzmark des Sultans," reinlich des Sultans der
Seldschuken, dessen Markgraf Ertograul war.
**) Graf Cnprivi im deutschen Reichstag um 1". Mttrz 1894. Der Dreibund verpflichtet
sich ausdrücklich in dem Vertrage vom 7. Oktober 187" (damals noch Zweibund) dazu, "den
durch die Berliner Stimulation geschaffnen europäischen Frieden zu konsolidiren,"
Hans Dernschwams Orientalische Reise. 15S3 bis 1W5, Aus Handschriften im Aus¬
zuge mitgeteilt von H. Kiepert. Globus, 1887.
's) Ein Ausflug in den Norden Kleinasiens. Deutsche Rundschau X, 4.
Die Lage des türkischen Staates

Armenier haben seit dem Untergang der glanzvollen Arsacidenherrschaft nur
wenig staatenbildende Kraft bewiesen — woran die vielfachen grausamen Unter¬
drückungen und die dadurch veranlaßte Zersprengung und Zerstreuung der
Bewohner die Hauptschuld tragen mag —, aber ihr bis jetzt erfolgreicher
Widerstand in Zeitün mag ihnen die Hoffnung geben, daß auch für sie einmal
die Stunde der Befreiung schlagen wird; mußte doch nach und uach fast die
ganze türkische Armee mobil gemacht werden, um dem armenischen Aufstand
entgegenzutreten.

So gerät denn nun auch Kleinasien ins Wanken, das größte und stärkste
noch übrige Bollwerk des Türkeutums, wohin, wie in das rettende Boot eines
sinkenden Schiffes, nun schon seit dreißig Jahren unausgesetzt Scharen von
mohammedanischen Flüchtlingen (Muhadschyrs) von den unsichern Grenz¬
landen des Reichs zusammenströmen. Es gewinnt fast den Anschein, als
sollte der türkische Name in dem Lande einmal zu Grabe gehen, wo einst vor
einem halben Jahrtausend die Wiege seines Ruhmes stand: in Kleinasien bei
Eskischehr gründete Ertograul, der „Mäunerzerstückler," den „Sultan sun"*)
als Grenzmark gegen die Byzantiner, und von seinem Sohne Osman erhielt
das neue Reich den Namen, der dann Jahrhunderte hindurch der Schrecken
Europas wurde.

Jetzt ist die Macht des Halbmonds für immer gebrochen. Längst schon
blickt Rußland begehrlich nach Konstantinopel. „Wer dort herrscht, der ist der
wahre Herr der Welt," sagt das Testament Peters des Großen. Nur führt
leider, wie es heißt, der Weg nach Konstantinopel durch das Berliner Thor/'*)
und am Goldner Horn würden den Zaren englische Panzerschiffe begrüßen.
Die Eifersucht der Mächte fristet allein noch das Dasein des „kranken Mannes."

Vergebens sucht man bei den heutigen Türken die Nachkommen der helden¬
haften Osmcmly, der schrecklichen Serbenbezwiuger, der furchtbaren Ungarn¬
sieger, der Türken vor Wien. Als „ein gar elend, weibisch Volk" erschienen
sie schon dem biedern Dernschwam"^) die Türken. ^.ÄauMr var, g.äiwr ^ok,
Menschen, aber keine Männer gebe es in der Türkei, sagte zu Professor Hirsch-
felds) ein alter Muhadschyr. Mau fragt sich, was ist die Ursache dieses über¬
raschenden Niederganges? Kann ein Volk entarten, altern, sich überleben?
Meist wird ja die Frage mit dieser herkömmlichen, unverstandnen und nuper-






*) d, h, „vor dein Sultan" oder „Grenzmark des Sultans," reinlich des Sultans der
Seldschuken, dessen Markgraf Ertograul war.
**) Graf Cnprivi im deutschen Reichstag um 1». Mttrz 1894. Der Dreibund verpflichtet
sich ausdrücklich in dem Vertrage vom 7. Oktober 187» (damals noch Zweibund) dazu, „den
durch die Berliner Stimulation geschaffnen europäischen Frieden zu konsolidiren,"
Hans Dernschwams Orientalische Reise. 15S3 bis 1W5, Aus Handschriften im Aus¬
zuge mitgeteilt von H. Kiepert. Globus, 1887.
's) Ein Ausflug in den Norden Kleinasiens. Deutsche Rundschau X, 4.
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[0270] Die Lage des türkischen Staates Armenier haben seit dem Untergang der glanzvollen Arsacidenherrschaft nur wenig staatenbildende Kraft bewiesen — woran die vielfachen grausamen Unter¬ drückungen und die dadurch veranlaßte Zersprengung und Zerstreuung der Bewohner die Hauptschuld tragen mag —, aber ihr bis jetzt erfolgreicher Widerstand in Zeitün mag ihnen die Hoffnung geben, daß auch für sie einmal die Stunde der Befreiung schlagen wird; mußte doch nach und uach fast die ganze türkische Armee mobil gemacht werden, um dem armenischen Aufstand entgegenzutreten. So gerät denn nun auch Kleinasien ins Wanken, das größte und stärkste noch übrige Bollwerk des Türkeutums, wohin, wie in das rettende Boot eines sinkenden Schiffes, nun schon seit dreißig Jahren unausgesetzt Scharen von mohammedanischen Flüchtlingen (Muhadschyrs) von den unsichern Grenz¬ landen des Reichs zusammenströmen. Es gewinnt fast den Anschein, als sollte der türkische Name in dem Lande einmal zu Grabe gehen, wo einst vor einem halben Jahrtausend die Wiege seines Ruhmes stand: in Kleinasien bei Eskischehr gründete Ertograul, der „Mäunerzerstückler," den „Sultan sun"*) als Grenzmark gegen die Byzantiner, und von seinem Sohne Osman erhielt das neue Reich den Namen, der dann Jahrhunderte hindurch der Schrecken Europas wurde. Jetzt ist die Macht des Halbmonds für immer gebrochen. Längst schon blickt Rußland begehrlich nach Konstantinopel. „Wer dort herrscht, der ist der wahre Herr der Welt," sagt das Testament Peters des Großen. Nur führt leider, wie es heißt, der Weg nach Konstantinopel durch das Berliner Thor/'*) und am Goldner Horn würden den Zaren englische Panzerschiffe begrüßen. Die Eifersucht der Mächte fristet allein noch das Dasein des „kranken Mannes." Vergebens sucht man bei den heutigen Türken die Nachkommen der helden¬ haften Osmcmly, der schrecklichen Serbenbezwiuger, der furchtbaren Ungarn¬ sieger, der Türken vor Wien. Als „ein gar elend, weibisch Volk" erschienen sie schon dem biedern Dernschwam"^) die Türken. ^.ÄauMr var, g.äiwr ^ok, Menschen, aber keine Männer gebe es in der Türkei, sagte zu Professor Hirsch- felds) ein alter Muhadschyr. Mau fragt sich, was ist die Ursache dieses über¬ raschenden Niederganges? Kann ein Volk entarten, altern, sich überleben? Meist wird ja die Frage mit dieser herkömmlichen, unverstandnen und nuper- *) d, h, „vor dein Sultan" oder „Grenzmark des Sultans," reinlich des Sultans der Seldschuken, dessen Markgraf Ertograul war. **) Graf Cnprivi im deutschen Reichstag um 1». Mttrz 1894. Der Dreibund verpflichtet sich ausdrücklich in dem Vertrage vom 7. Oktober 187» (damals noch Zweibund) dazu, „den durch die Berliner Stimulation geschaffnen europäischen Frieden zu konsolidiren," Hans Dernschwams Orientalische Reise. 15S3 bis 1W5, Aus Handschriften im Aus¬ zuge mitgeteilt von H. Kiepert. Globus, 1887. 's) Ein Ausflug in den Norden Kleinasiens. Deutsche Rundschau X, 4.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/270>, abgerufen am 03.07.2024.