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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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und der hochstrebende Schriftsteller, braucht nicht gesagt zu werden. Dichter
und Künstler, die, ans jede Entwicklung verzichtend, unablässig das wieder¬
holen, was ihnen zuerst einen gewissen Beifall verschafft hat, sich genau in
dem gleichen engen Kreise von Phantasie und Weltauffassung, von Charakte¬
ristik und persönlicher Empfindung bewegen, geschickte Spezialisten, die eine
kleine Form virtuos und mehr oder weniger manieristisch beherrschen, mögen
ihre Rechnung dabei finden. Der Dichter, der Größeres will, der seiner Natur
wie seiner Lebensaufgabe nach nicht gleichmäßig das Gleiche hervorbringen
kann, dessen Fülle und inneres Wachstum sich in der Verschiedenheit seiner
Schöpfungen offenbart, hat gegenüber der Zeitstimmung auf nichts zu zählen.
Der Zufall hebt eins oder das andre seiner Gebilde aus der Reihe der andern
heraus, selbst äußere Erfolge verbürgen ihm keine innere Teilnahme an seiner
Gesamterscheinung, seinem innersten Wollen. Sogar die kleine Gemeinde, die
sich noch ein tieferes Interesse an der Litteratur bewahrt hat, steht -- wie so
oft -- unter dem Druck des Augenblicks und der Herrschaft des Schlagworts.
Die Unsicherheit, mit der man, da sich kein Schlagwort als zutreffend erweist,
einen Dichter wie Adolf Wilbrandt beurteilt, die Überraschung, die man
angesichts seiner immer mannichfaltigeru, größern und bedeutender!, Leistungen
verrät, zeigt, wie selten die Neigung, um nicht zu sagen die Fähigkeit ge¬
worden ist, einem wirklichen Talent auf allen seinen Wegen zu folgen. Sicher
wäre es verfrüht, von Wilbrandt als einem Dichter zu reden, der seinen Höhe¬
punkt überschritten und alle Seiten seiner Phantasie und Gestaltungskraft ent¬
faltet habe. Aber so viel läßt sich doch übersehen, daß es eine eigentümliche
und bedeutsame Entwicklung ist, um die es sich bei ihm handelt. Wilbrandt
ist der hervorragendste unter den neuern deutschen Dichtern, die sich den Schatz
künstlerischer Überlieferung und umfassender Bildung, den so viele der jünger"
als Ballast hinter sich werfen, zu eigen gemacht haben und dabei doch zur
reifsten Selbständigkeit gediehen sind. In dem kritischen Tagesjargon, der
Individualitäten und tiefere Unterschiede nicht kennt, einer der "Münchner"
und also mit dem Stempels (Akademismus) gebrandmarkt, lebt Wilbrandt
in dem unsicher" Gedächtnis des Publikums bald als der Verfasser eines an¬
mutigen Künstlerlustspiels "Die Maler," bald als der unmoralische Dichter
des Decadeneedramas "Arria und Messalina," bald als Urheber wenig span¬
nender, gar nicht aufregender, aber "schwerer" Romane. Es sind schon litte¬
rarische Feinschmecker, die sich daneben noch erinnern, daß sie in Heyses "No-
vellenschatz" eine vorzügliche und besonders eigentümliche Novelle wie "Johann
Osterins" und hie und da ein schwungvolles, tiefsinniges Gedicht mit dem
Namen Wilbrandt gelesen oder von seiner wichtigen Biographie Heinrichs von
Kleist gehört haben. In Wahrheit ist er ein Dichter, dessen vielseitige Ent¬
wicklung schwer aus eine Formel gebracht werden kann, dessen immer glücklicher
entfaltete Kraft und innere Lebensfülle sicher wie manches andre Hemmnis,


und der hochstrebende Schriftsteller, braucht nicht gesagt zu werden. Dichter
und Künstler, die, ans jede Entwicklung verzichtend, unablässig das wieder¬
holen, was ihnen zuerst einen gewissen Beifall verschafft hat, sich genau in
dem gleichen engen Kreise von Phantasie und Weltauffassung, von Charakte¬
ristik und persönlicher Empfindung bewegen, geschickte Spezialisten, die eine
kleine Form virtuos und mehr oder weniger manieristisch beherrschen, mögen
ihre Rechnung dabei finden. Der Dichter, der Größeres will, der seiner Natur
wie seiner Lebensaufgabe nach nicht gleichmäßig das Gleiche hervorbringen
kann, dessen Fülle und inneres Wachstum sich in der Verschiedenheit seiner
Schöpfungen offenbart, hat gegenüber der Zeitstimmung auf nichts zu zählen.
Der Zufall hebt eins oder das andre seiner Gebilde aus der Reihe der andern
heraus, selbst äußere Erfolge verbürgen ihm keine innere Teilnahme an seiner
Gesamterscheinung, seinem innersten Wollen. Sogar die kleine Gemeinde, die
sich noch ein tieferes Interesse an der Litteratur bewahrt hat, steht — wie so
oft — unter dem Druck des Augenblicks und der Herrschaft des Schlagworts.
Die Unsicherheit, mit der man, da sich kein Schlagwort als zutreffend erweist,
einen Dichter wie Adolf Wilbrandt beurteilt, die Überraschung, die man
angesichts seiner immer mannichfaltigeru, größern und bedeutender!, Leistungen
verrät, zeigt, wie selten die Neigung, um nicht zu sagen die Fähigkeit ge¬
worden ist, einem wirklichen Talent auf allen seinen Wegen zu folgen. Sicher
wäre es verfrüht, von Wilbrandt als einem Dichter zu reden, der seinen Höhe¬
punkt überschritten und alle Seiten seiner Phantasie und Gestaltungskraft ent¬
faltet habe. Aber so viel läßt sich doch übersehen, daß es eine eigentümliche
und bedeutsame Entwicklung ist, um die es sich bei ihm handelt. Wilbrandt
ist der hervorragendste unter den neuern deutschen Dichtern, die sich den Schatz
künstlerischer Überlieferung und umfassender Bildung, den so viele der jünger»
als Ballast hinter sich werfen, zu eigen gemacht haben und dabei doch zur
reifsten Selbständigkeit gediehen sind. In dem kritischen Tagesjargon, der
Individualitäten und tiefere Unterschiede nicht kennt, einer der „Münchner"
und also mit dem Stempels (Akademismus) gebrandmarkt, lebt Wilbrandt
in dem unsicher« Gedächtnis des Publikums bald als der Verfasser eines an¬
mutigen Künstlerlustspiels „Die Maler," bald als der unmoralische Dichter
des Decadeneedramas „Arria und Messalina," bald als Urheber wenig span¬
nender, gar nicht aufregender, aber „schwerer" Romane. Es sind schon litte¬
rarische Feinschmecker, die sich daneben noch erinnern, daß sie in Heyses „No-
vellenschatz" eine vorzügliche und besonders eigentümliche Novelle wie „Johann
Osterins" und hie und da ein schwungvolles, tiefsinniges Gedicht mit dem
Namen Wilbrandt gelesen oder von seiner wichtigen Biographie Heinrichs von
Kleist gehört haben. In Wahrheit ist er ein Dichter, dessen vielseitige Ent¬
wicklung schwer aus eine Formel gebracht werden kann, dessen immer glücklicher
entfaltete Kraft und innere Lebensfülle sicher wie manches andre Hemmnis,


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[0026] und der hochstrebende Schriftsteller, braucht nicht gesagt zu werden. Dichter und Künstler, die, ans jede Entwicklung verzichtend, unablässig das wieder¬ holen, was ihnen zuerst einen gewissen Beifall verschafft hat, sich genau in dem gleichen engen Kreise von Phantasie und Weltauffassung, von Charakte¬ ristik und persönlicher Empfindung bewegen, geschickte Spezialisten, die eine kleine Form virtuos und mehr oder weniger manieristisch beherrschen, mögen ihre Rechnung dabei finden. Der Dichter, der Größeres will, der seiner Natur wie seiner Lebensaufgabe nach nicht gleichmäßig das Gleiche hervorbringen kann, dessen Fülle und inneres Wachstum sich in der Verschiedenheit seiner Schöpfungen offenbart, hat gegenüber der Zeitstimmung auf nichts zu zählen. Der Zufall hebt eins oder das andre seiner Gebilde aus der Reihe der andern heraus, selbst äußere Erfolge verbürgen ihm keine innere Teilnahme an seiner Gesamterscheinung, seinem innersten Wollen. Sogar die kleine Gemeinde, die sich noch ein tieferes Interesse an der Litteratur bewahrt hat, steht — wie so oft — unter dem Druck des Augenblicks und der Herrschaft des Schlagworts. Die Unsicherheit, mit der man, da sich kein Schlagwort als zutreffend erweist, einen Dichter wie Adolf Wilbrandt beurteilt, die Überraschung, die man angesichts seiner immer mannichfaltigeru, größern und bedeutender!, Leistungen verrät, zeigt, wie selten die Neigung, um nicht zu sagen die Fähigkeit ge¬ worden ist, einem wirklichen Talent auf allen seinen Wegen zu folgen. Sicher wäre es verfrüht, von Wilbrandt als einem Dichter zu reden, der seinen Höhe¬ punkt überschritten und alle Seiten seiner Phantasie und Gestaltungskraft ent¬ faltet habe. Aber so viel läßt sich doch übersehen, daß es eine eigentümliche und bedeutsame Entwicklung ist, um die es sich bei ihm handelt. Wilbrandt ist der hervorragendste unter den neuern deutschen Dichtern, die sich den Schatz künstlerischer Überlieferung und umfassender Bildung, den so viele der jünger» als Ballast hinter sich werfen, zu eigen gemacht haben und dabei doch zur reifsten Selbständigkeit gediehen sind. In dem kritischen Tagesjargon, der Individualitäten und tiefere Unterschiede nicht kennt, einer der „Münchner" und also mit dem Stempels (Akademismus) gebrandmarkt, lebt Wilbrandt in dem unsicher« Gedächtnis des Publikums bald als der Verfasser eines an¬ mutigen Künstlerlustspiels „Die Maler," bald als der unmoralische Dichter des Decadeneedramas „Arria und Messalina," bald als Urheber wenig span¬ nender, gar nicht aufregender, aber „schwerer" Romane. Es sind schon litte¬ rarische Feinschmecker, die sich daneben noch erinnern, daß sie in Heyses „No- vellenschatz" eine vorzügliche und besonders eigentümliche Novelle wie „Johann Osterins" und hie und da ein schwungvolles, tiefsinniges Gedicht mit dem Namen Wilbrandt gelesen oder von seiner wichtigen Biographie Heinrichs von Kleist gehört haben. In Wahrheit ist er ein Dichter, dessen vielseitige Ent¬ wicklung schwer aus eine Formel gebracht werden kann, dessen immer glücklicher entfaltete Kraft und innere Lebensfülle sicher wie manches andre Hemmnis,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/26>, abgerufen am 15.01.2025.