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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Pflicht der Gesellschaft

für sei" inneres Leben etwas wesentliches gewonnen sei. Auch weiß man recht
gut, daß die Gesellschaft im engern Sinne, die, in der man lebt, in gewisser
Hinsicht gar nicht verantwortlich zu machen ist, daß sie einen Menschen in den
Tod treiben kann, ohne daß ein Klüger und ein Richter dawäre. Und das
Wunderbare dabei ist, daß dieselbe Gesellschaft, die sich in der einen Beziehung
und einem bestimmten Menschen gegenüber so schlaff wie möglich verhält, in
andrer Beziehung, andern Persönlichkeiten gegenüber wieder von geradezu
unerbittlicher Strenge ist; die sogenannte Gesellschaftsmoral ist eben ein eigen
Ding, und scheint sie auch in der Regel auf den Schein zu gehen, so werden
doch ohne Zweifel diesem Schein Hunderte, vielleicht tausende von Menschen
geopfert. So erklärt sich die in neuerer Zeit sehr verbreitete Auffassung der
Gesellschaft als einer geradezu unheimliche", in das Einzelgeschick wahllos und
unerbittlich eingreifenden Lebensnacht. Sie beherrscht vielleicht die moderne
Litteratur, schon bei Balzac findet man sie und in ihren übertriebensten
Folgerungen bei unsern Jüngsten. Der Begriff Gesellschaft, kann man sagen,
ist geradezu an die Stelle des Begriffs Schicksal getreten, und selbst dem
antiken Schicksal wurde nicht mehr aufgebürdet als heute der Gesellschaft.
Wenn Tausende von Menschen, darunter oft die begabtesten, zu Grunde gehen,
andre Tausende geknickt werden und verkümmern, wenn das Verbrechen un¬
ausrottbar erscheint und mit ihm das Laster, so macht man heute dafür nur
noch die Gesellschaft verantwortlich; sie ist es, die Genie, Talent, Reinheit,
Sitte, alles Edle und Gute verschlingt. Nicht mehr wie zu Rousseaus Zeit,
wo in der Hauptsache doch nur das Hohle, Leere, Unwahre eines bestimmten
gesellschaftlichen Zustands tief empfunden und im Gegensatz dazu das Bild
eines idyllischen Naturlebens als Ideal aufgestellt wurde, erscheint jetzt die
Gesellschaft, sie gilt jetzt nicht mehr als Zustand, sondern als unheilvoll ein¬
greifende Macht, deren Gewalt man sich nicht entziehen kann, die immer tötet,
so oder so. Es ist ja sicher, daß diese Auffassung ungesund und unhaltbar
ist, daß man das Lebenerhaltende, ja Lebenschaffende der gesellschaftlichen
Ordnung dabei gänzlich übersieht, wie auch dem Persönlichen eine falsche
Stellung einräumt; denn nicht alles, was geboren wird, ist lebensfähig und
würde das auch in der idealsten Gesellschaft nicht sein, und die Entwicklung
wird sicher mehr von der ursprünglichen Anlage als von den gesellschaftlichen
Einflüssen, dem "Milieu" bestimmt; Thatsache ist aber, daß jene Anschauung
die der weiteste" Kreise ist, und daß sie vor allem unser Lebensbehageu in so
hohem Grade zerstört hat, wie es wirklich der Fall ist. Man versetze sich
einmal in das Leben von Menschen des vorigen, ja noch der ersten Hälfte dieses
Jahrhunderts, und man wird neben einer viel größern Bedürfnislosigkeit auch
eine viel größere Sorglosigkeit den Wechselfüllen des Lebens gegenüber finden,
die uns jetzt ganz sonderbar, aber doch frisch und fröhlich anmutet. Da sagt
man: die Zeiten sind schwerer geworden. Gewiß sind sie es, aber das Ans-


Die Pflicht der Gesellschaft

für sei» inneres Leben etwas wesentliches gewonnen sei. Auch weiß man recht
gut, daß die Gesellschaft im engern Sinne, die, in der man lebt, in gewisser
Hinsicht gar nicht verantwortlich zu machen ist, daß sie einen Menschen in den
Tod treiben kann, ohne daß ein Klüger und ein Richter dawäre. Und das
Wunderbare dabei ist, daß dieselbe Gesellschaft, die sich in der einen Beziehung
und einem bestimmten Menschen gegenüber so schlaff wie möglich verhält, in
andrer Beziehung, andern Persönlichkeiten gegenüber wieder von geradezu
unerbittlicher Strenge ist; die sogenannte Gesellschaftsmoral ist eben ein eigen
Ding, und scheint sie auch in der Regel auf den Schein zu gehen, so werden
doch ohne Zweifel diesem Schein Hunderte, vielleicht tausende von Menschen
geopfert. So erklärt sich die in neuerer Zeit sehr verbreitete Auffassung der
Gesellschaft als einer geradezu unheimliche», in das Einzelgeschick wahllos und
unerbittlich eingreifenden Lebensnacht. Sie beherrscht vielleicht die moderne
Litteratur, schon bei Balzac findet man sie und in ihren übertriebensten
Folgerungen bei unsern Jüngsten. Der Begriff Gesellschaft, kann man sagen,
ist geradezu an die Stelle des Begriffs Schicksal getreten, und selbst dem
antiken Schicksal wurde nicht mehr aufgebürdet als heute der Gesellschaft.
Wenn Tausende von Menschen, darunter oft die begabtesten, zu Grunde gehen,
andre Tausende geknickt werden und verkümmern, wenn das Verbrechen un¬
ausrottbar erscheint und mit ihm das Laster, so macht man heute dafür nur
noch die Gesellschaft verantwortlich; sie ist es, die Genie, Talent, Reinheit,
Sitte, alles Edle und Gute verschlingt. Nicht mehr wie zu Rousseaus Zeit,
wo in der Hauptsache doch nur das Hohle, Leere, Unwahre eines bestimmten
gesellschaftlichen Zustands tief empfunden und im Gegensatz dazu das Bild
eines idyllischen Naturlebens als Ideal aufgestellt wurde, erscheint jetzt die
Gesellschaft, sie gilt jetzt nicht mehr als Zustand, sondern als unheilvoll ein¬
greifende Macht, deren Gewalt man sich nicht entziehen kann, die immer tötet,
so oder so. Es ist ja sicher, daß diese Auffassung ungesund und unhaltbar
ist, daß man das Lebenerhaltende, ja Lebenschaffende der gesellschaftlichen
Ordnung dabei gänzlich übersieht, wie auch dem Persönlichen eine falsche
Stellung einräumt; denn nicht alles, was geboren wird, ist lebensfähig und
würde das auch in der idealsten Gesellschaft nicht sein, und die Entwicklung
wird sicher mehr von der ursprünglichen Anlage als von den gesellschaftlichen
Einflüssen, dem „Milieu" bestimmt; Thatsache ist aber, daß jene Anschauung
die der weiteste» Kreise ist, und daß sie vor allem unser Lebensbehageu in so
hohem Grade zerstört hat, wie es wirklich der Fall ist. Man versetze sich
einmal in das Leben von Menschen des vorigen, ja noch der ersten Hälfte dieses
Jahrhunderts, und man wird neben einer viel größern Bedürfnislosigkeit auch
eine viel größere Sorglosigkeit den Wechselfüllen des Lebens gegenüber finden,
die uns jetzt ganz sonderbar, aber doch frisch und fröhlich anmutet. Da sagt
man: die Zeiten sind schwerer geworden. Gewiß sind sie es, aber das Ans-


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[0221] Die Pflicht der Gesellschaft für sei» inneres Leben etwas wesentliches gewonnen sei. Auch weiß man recht gut, daß die Gesellschaft im engern Sinne, die, in der man lebt, in gewisser Hinsicht gar nicht verantwortlich zu machen ist, daß sie einen Menschen in den Tod treiben kann, ohne daß ein Klüger und ein Richter dawäre. Und das Wunderbare dabei ist, daß dieselbe Gesellschaft, die sich in der einen Beziehung und einem bestimmten Menschen gegenüber so schlaff wie möglich verhält, in andrer Beziehung, andern Persönlichkeiten gegenüber wieder von geradezu unerbittlicher Strenge ist; die sogenannte Gesellschaftsmoral ist eben ein eigen Ding, und scheint sie auch in der Regel auf den Schein zu gehen, so werden doch ohne Zweifel diesem Schein Hunderte, vielleicht tausende von Menschen geopfert. So erklärt sich die in neuerer Zeit sehr verbreitete Auffassung der Gesellschaft als einer geradezu unheimliche», in das Einzelgeschick wahllos und unerbittlich eingreifenden Lebensnacht. Sie beherrscht vielleicht die moderne Litteratur, schon bei Balzac findet man sie und in ihren übertriebensten Folgerungen bei unsern Jüngsten. Der Begriff Gesellschaft, kann man sagen, ist geradezu an die Stelle des Begriffs Schicksal getreten, und selbst dem antiken Schicksal wurde nicht mehr aufgebürdet als heute der Gesellschaft. Wenn Tausende von Menschen, darunter oft die begabtesten, zu Grunde gehen, andre Tausende geknickt werden und verkümmern, wenn das Verbrechen un¬ ausrottbar erscheint und mit ihm das Laster, so macht man heute dafür nur noch die Gesellschaft verantwortlich; sie ist es, die Genie, Talent, Reinheit, Sitte, alles Edle und Gute verschlingt. Nicht mehr wie zu Rousseaus Zeit, wo in der Hauptsache doch nur das Hohle, Leere, Unwahre eines bestimmten gesellschaftlichen Zustands tief empfunden und im Gegensatz dazu das Bild eines idyllischen Naturlebens als Ideal aufgestellt wurde, erscheint jetzt die Gesellschaft, sie gilt jetzt nicht mehr als Zustand, sondern als unheilvoll ein¬ greifende Macht, deren Gewalt man sich nicht entziehen kann, die immer tötet, so oder so. Es ist ja sicher, daß diese Auffassung ungesund und unhaltbar ist, daß man das Lebenerhaltende, ja Lebenschaffende der gesellschaftlichen Ordnung dabei gänzlich übersieht, wie auch dem Persönlichen eine falsche Stellung einräumt; denn nicht alles, was geboren wird, ist lebensfähig und würde das auch in der idealsten Gesellschaft nicht sein, und die Entwicklung wird sicher mehr von der ursprünglichen Anlage als von den gesellschaftlichen Einflüssen, dem „Milieu" bestimmt; Thatsache ist aber, daß jene Anschauung die der weiteste» Kreise ist, und daß sie vor allem unser Lebensbehageu in so hohem Grade zerstört hat, wie es wirklich der Fall ist. Man versetze sich einmal in das Leben von Menschen des vorigen, ja noch der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, und man wird neben einer viel größern Bedürfnislosigkeit auch eine viel größere Sorglosigkeit den Wechselfüllen des Lebens gegenüber finden, die uns jetzt ganz sonderbar, aber doch frisch und fröhlich anmutet. Da sagt man: die Zeiten sind schwerer geworden. Gewiß sind sie es, aber das Ans-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/221>, abgerufen am 26.06.2024.