Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.Die Pflicht der Gesellschaft einzelner ihrer Mitglieder wirklich gefährdet; zu einem Recht, sich auf Kosten Volks- und Staatsgemeinschaft sind nun aber noch keineswegs die engsten Die Pflicht der Gesellschaft einzelner ihrer Mitglieder wirklich gefährdet; zu einem Recht, sich auf Kosten Volks- und Staatsgemeinschaft sind nun aber noch keineswegs die engsten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0210" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222514"/> <fw type="header" place="top"> Die Pflicht der Gesellschaft</fw><lb/> <p xml:id="ID_574" prev="#ID_573"> einzelner ihrer Mitglieder wirklich gefährdet; zu einem Recht, sich auf Kosten<lb/> der Gesamtheit auszuleben, ist dieser Schutz keineswegs auszudehnen. Mit<lb/> einem Wort, es wird nur die Freiheit des Denkens und Empfindens, der<lb/> innern Entwicklung vor allem gefordert, das Handeln steht unter Aufsicht der<lb/> Gesellschaft, zunächst des Staates, der das Gesetz vertritt, dann der Gesell¬<lb/> schaft im allgemeinen, die den Maßstab der aus ihren Lebensbedingungen er¬<lb/> wachsenen Sitte anzulegen berechtigt ist. Höher als Staatsgesetz und Sitte<lb/> steht dann aber noch das sittliche Gesetz, das in dem Gewissen des Menschen<lb/> seinen Schwerpunkt hat, und auf dem nicht bloß die Gesellschaft, sondern die<lb/> ganze Welt ruht. Gerade das Gewissen — so habe ich in dem Aufsatz über<lb/> das Recht der Persönlichkeit nachgewiesen — verhindert die Annahme eines<lb/> besondern Rechts der Persönlichkeit; aber das Gewissen ist es auch, das der<lb/> Persönlichkeit, wenn sie die ihr hier auf Erden zugewiesene Aufgabe erfüllt<lb/> und darüber mit der Gesellschaft oder denen, die in ihr die Macht haben, mit<lb/> der geltenden Moral in Streit gerät, die innere Beruhigung giebt, daß sie<lb/> recht handle. Obwohl der Stärke nach verschieden entwickelt, sehlt doch das<lb/> Gewissen keinem Menschen ganz, es vertritt gewissermaßen das Allgemein-<lb/> menschliche im Einzelnen, und jedesmal, wenn eine große, segensreiche Um¬<lb/> wandlung auf Erden eintrat, dann kam sie mit einer Schärfung der Gewissen.<lb/> Man kann alle aus sozialen Verhältnissen eutsprungnen Sittengesetze umstoßen,<lb/> aber das im Gewissen ruhende Gesetz wird man nie aufheben; es ist mit dem<lb/> Menschen selbst gegeben. Das mag auch ein Dogma sein, aber Menschenleben<lb/> und Geschichte begründen es für mich; selbst die herrschende Anschauung über<lb/> römische Cäsaren und die großen, selbstherrlichen Verbrechernaturen der Re¬<lb/> naissance kann mich da nicht irre machen.</p><lb/> <p xml:id="ID_575" next="#ID_576"> Volks- und Staatsgemeinschaft sind nun aber noch keineswegs die engsten<lb/> Anwendungen des Begriffs Gesellschaft, es giebt sogar verhältnismäßig wenig<lb/> Menschen, sür die sie als die Gesellschaft in Betracht kommen. Will man sich<lb/> den Einzelnen in seinem Verhältnis zur Gesellschaft richtig vorstellen, so denke<lb/> man sich ihn in die Mitte unendlich vieler konzentrischer Kreise gestellt, von<lb/> denen die ersten, engern in der Regel, aber nicht immer aus seinen persön¬<lb/> lichen Bekannten gebildet werden, die weitern seine Standes- und Verufsgenossen<lb/> enthalten, und die weitesten zwar für ihn auch noch vorhanden sind, aber doch<lb/> für seinen Blick mehr oder minder verschwimmen. Sein Verhältnis zur ganzen<lb/> Gesellschaft ergiebt sich meistens aus dem Verhältnis zu den ihm zunächst<lb/> stehenden Kreisen, die man denn auch ganz richtig als seine Kreise bezeichnet.<lb/> Nicht bei allen Menschen sind, wie gesagt, die nächsten Kreise aus persönlichen<lb/> Bekannten gebildet, bei sehr vielen Bewohnern der modernen Großstadt z. B.<lb/> fallen diese weg; auch die Standes- und Berufsgenossen stehen dem modernen<lb/> Menschen oft fern — dafür tritt denn oft die großstädtische Mitbevölkerung<lb/> als Ganzes ein und wird darum auch als Gesellschaft bezeichnet. Solche Teile</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0210]
Die Pflicht der Gesellschaft
einzelner ihrer Mitglieder wirklich gefährdet; zu einem Recht, sich auf Kosten
der Gesamtheit auszuleben, ist dieser Schutz keineswegs auszudehnen. Mit
einem Wort, es wird nur die Freiheit des Denkens und Empfindens, der
innern Entwicklung vor allem gefordert, das Handeln steht unter Aufsicht der
Gesellschaft, zunächst des Staates, der das Gesetz vertritt, dann der Gesell¬
schaft im allgemeinen, die den Maßstab der aus ihren Lebensbedingungen er¬
wachsenen Sitte anzulegen berechtigt ist. Höher als Staatsgesetz und Sitte
steht dann aber noch das sittliche Gesetz, das in dem Gewissen des Menschen
seinen Schwerpunkt hat, und auf dem nicht bloß die Gesellschaft, sondern die
ganze Welt ruht. Gerade das Gewissen — so habe ich in dem Aufsatz über
das Recht der Persönlichkeit nachgewiesen — verhindert die Annahme eines
besondern Rechts der Persönlichkeit; aber das Gewissen ist es auch, das der
Persönlichkeit, wenn sie die ihr hier auf Erden zugewiesene Aufgabe erfüllt
und darüber mit der Gesellschaft oder denen, die in ihr die Macht haben, mit
der geltenden Moral in Streit gerät, die innere Beruhigung giebt, daß sie
recht handle. Obwohl der Stärke nach verschieden entwickelt, sehlt doch das
Gewissen keinem Menschen ganz, es vertritt gewissermaßen das Allgemein-
menschliche im Einzelnen, und jedesmal, wenn eine große, segensreiche Um¬
wandlung auf Erden eintrat, dann kam sie mit einer Schärfung der Gewissen.
Man kann alle aus sozialen Verhältnissen eutsprungnen Sittengesetze umstoßen,
aber das im Gewissen ruhende Gesetz wird man nie aufheben; es ist mit dem
Menschen selbst gegeben. Das mag auch ein Dogma sein, aber Menschenleben
und Geschichte begründen es für mich; selbst die herrschende Anschauung über
römische Cäsaren und die großen, selbstherrlichen Verbrechernaturen der Re¬
naissance kann mich da nicht irre machen.
Volks- und Staatsgemeinschaft sind nun aber noch keineswegs die engsten
Anwendungen des Begriffs Gesellschaft, es giebt sogar verhältnismäßig wenig
Menschen, sür die sie als die Gesellschaft in Betracht kommen. Will man sich
den Einzelnen in seinem Verhältnis zur Gesellschaft richtig vorstellen, so denke
man sich ihn in die Mitte unendlich vieler konzentrischer Kreise gestellt, von
denen die ersten, engern in der Regel, aber nicht immer aus seinen persön¬
lichen Bekannten gebildet werden, die weitern seine Standes- und Verufsgenossen
enthalten, und die weitesten zwar für ihn auch noch vorhanden sind, aber doch
für seinen Blick mehr oder minder verschwimmen. Sein Verhältnis zur ganzen
Gesellschaft ergiebt sich meistens aus dem Verhältnis zu den ihm zunächst
stehenden Kreisen, die man denn auch ganz richtig als seine Kreise bezeichnet.
Nicht bei allen Menschen sind, wie gesagt, die nächsten Kreise aus persönlichen
Bekannten gebildet, bei sehr vielen Bewohnern der modernen Großstadt z. B.
fallen diese weg; auch die Standes- und Berufsgenossen stehen dem modernen
Menschen oft fern — dafür tritt denn oft die großstädtische Mitbevölkerung
als Ganzes ein und wird darum auch als Gesellschaft bezeichnet. Solche Teile
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