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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Neue Romane

binetstück von heimlicher, behaglicher Schilderung der Häuslichkeit, worin der
einzige Erbe eines reichen Handelshauses mit seiner alten Mutter lebt. Er ist
Arzt geworden und beinahe hinweg über das Heiratsalter, als ihm der Zufall,
der Tod eines Freundes, dessen unbemittelte, sehr junge Tochter ins Haus
sührt. Diese wird bald seine Gattin, aber bei aller gegenseitigen guten Absicht
und bei aller Vortrefflichkeit, das richtige innere Verhältnis will sich nicht ein¬
stellen. Und der sorgenden, klugen Mutter scheint nicht einmal alles äußer¬
liche richtig. Da wird zum Unglück noch der Sohn eines andern Freundes,
ein adlicher Assessor, in die Stadt versetzt und von seinem Vater warm in
das Haus empfohlen, worin er nun, eine Donjuannatur, ein Mann, der alles
kann und nie um Rat oder That verlegen ist, allmählich ein wahres Unheil
anstiftet. Wie das die Mutter zuerst ahnt, die junge Frau langsam einsieht,
der Herr Doktor erst ganz zu allerletzt bemerkt, und alle dann sich doch wieder¬
finden und schließlich alles noch gut ausgeht, nachdem sich Donjuan als echter
Kavalier rechtzeitig zurückgezogen hat, das ist sehr hübsch und sehr fein ge¬
schildert. Dennoch bleibt eine Frage zurück: Wie kann ein Mann, wie der
Arzt -- und Ärzte sollen doch bekanntlich schärfer beobachten als andre Men¬
schen --, so stumpf von Wahrnehmung sein und doch im übrigen als kluger
Mann und guter Arzt hingestellt werden? Dem Verfasser war das als Ver¬
zögerung für seine psychologische Malerei nötig, aber richtig war es trotzdem
nicht, denn es überzeugt nicht. Und weil er ein Schriftsteller ist, der höhere
Ansprüche an sich macht, so haben wir uns erlaubt, das herauszuheben. Wollte
er nur Augenblicksbilder, Eisenbahnbücher oder dergleichen schreiben, so wäre
es überflüssig gewesen.

Bei Konrad Telmanns Vos6nicus (Berlin, Grote, 1896) sagt uns
schon der Titel und des Verfassers Name, daß wir einen völlig andern Boden
zu betreten haben. Zwei befreundete Berliner Schriftsteller, die beide nicht
genug Talent oder Erfolg haben, von ihrer Arbeit nach ihren Ansprüchen leben
zu können, heiraten sehr reiche Frauen: Fritz eine hausbackne, gutmütige Person,
die ihn Pflegt und verwöhnt, damit er nur nicht ins Wirtshaus läuft, der
aber seine Schriftstellerei völlig gleichgiltig ist, Wolfgang eine scharfe, gemttt-
lose Kommerzienratstochter, die ihn zum Schreiben zwingt, alles, was er
schreibt, kritisirt und verwirft und dazu ihn seine materielle Abhängigkeit täg¬
lich mehr fühlen läßt. Bald sind beide Freunde gleich unzufrieden. Wolf-
gang hatte vor seiner Ehe ein Verhältnis zu der Nichte eines Droschkenkutschers,
Lene. Dieses nimmt jetzt Fritz, der darum gewußt hat, auf und redet sich
ein, er müsse Lene heiraten und sich von seiner Frau, die ihn nicht versteht,
scheiden lassen. Das Verfahren wird eingeleitet, er bezieht ein bescheidnes
Chambregarnie, erkrankt aber, weil er durch die Küche seiner Frau verwöhnt
ist, und wird ihr zur Pflege durch den Hausarzt ins Haus zurückgeführt.
Während der Genesung sprechen sich die Eheleute aus. Er begnügt sich mit


Neue Romane

binetstück von heimlicher, behaglicher Schilderung der Häuslichkeit, worin der
einzige Erbe eines reichen Handelshauses mit seiner alten Mutter lebt. Er ist
Arzt geworden und beinahe hinweg über das Heiratsalter, als ihm der Zufall,
der Tod eines Freundes, dessen unbemittelte, sehr junge Tochter ins Haus
sührt. Diese wird bald seine Gattin, aber bei aller gegenseitigen guten Absicht
und bei aller Vortrefflichkeit, das richtige innere Verhältnis will sich nicht ein¬
stellen. Und der sorgenden, klugen Mutter scheint nicht einmal alles äußer¬
liche richtig. Da wird zum Unglück noch der Sohn eines andern Freundes,
ein adlicher Assessor, in die Stadt versetzt und von seinem Vater warm in
das Haus empfohlen, worin er nun, eine Donjuannatur, ein Mann, der alles
kann und nie um Rat oder That verlegen ist, allmählich ein wahres Unheil
anstiftet. Wie das die Mutter zuerst ahnt, die junge Frau langsam einsieht,
der Herr Doktor erst ganz zu allerletzt bemerkt, und alle dann sich doch wieder¬
finden und schließlich alles noch gut ausgeht, nachdem sich Donjuan als echter
Kavalier rechtzeitig zurückgezogen hat, das ist sehr hübsch und sehr fein ge¬
schildert. Dennoch bleibt eine Frage zurück: Wie kann ein Mann, wie der
Arzt — und Ärzte sollen doch bekanntlich schärfer beobachten als andre Men¬
schen —, so stumpf von Wahrnehmung sein und doch im übrigen als kluger
Mann und guter Arzt hingestellt werden? Dem Verfasser war das als Ver¬
zögerung für seine psychologische Malerei nötig, aber richtig war es trotzdem
nicht, denn es überzeugt nicht. Und weil er ein Schriftsteller ist, der höhere
Ansprüche an sich macht, so haben wir uns erlaubt, das herauszuheben. Wollte
er nur Augenblicksbilder, Eisenbahnbücher oder dergleichen schreiben, so wäre
es überflüssig gewesen.

Bei Konrad Telmanns Vos6nicus (Berlin, Grote, 1896) sagt uns
schon der Titel und des Verfassers Name, daß wir einen völlig andern Boden
zu betreten haben. Zwei befreundete Berliner Schriftsteller, die beide nicht
genug Talent oder Erfolg haben, von ihrer Arbeit nach ihren Ansprüchen leben
zu können, heiraten sehr reiche Frauen: Fritz eine hausbackne, gutmütige Person,
die ihn Pflegt und verwöhnt, damit er nur nicht ins Wirtshaus läuft, der
aber seine Schriftstellerei völlig gleichgiltig ist, Wolfgang eine scharfe, gemttt-
lose Kommerzienratstochter, die ihn zum Schreiben zwingt, alles, was er
schreibt, kritisirt und verwirft und dazu ihn seine materielle Abhängigkeit täg¬
lich mehr fühlen läßt. Bald sind beide Freunde gleich unzufrieden. Wolf-
gang hatte vor seiner Ehe ein Verhältnis zu der Nichte eines Droschkenkutschers,
Lene. Dieses nimmt jetzt Fritz, der darum gewußt hat, auf und redet sich
ein, er müsse Lene heiraten und sich von seiner Frau, die ihn nicht versteht,
scheiden lassen. Das Verfahren wird eingeleitet, er bezieht ein bescheidnes
Chambregarnie, erkrankt aber, weil er durch die Küche seiner Frau verwöhnt
ist, und wird ihr zur Pflege durch den Hausarzt ins Haus zurückgeführt.
Während der Genesung sprechen sich die Eheleute aus. Er begnügt sich mit


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[0178] Neue Romane binetstück von heimlicher, behaglicher Schilderung der Häuslichkeit, worin der einzige Erbe eines reichen Handelshauses mit seiner alten Mutter lebt. Er ist Arzt geworden und beinahe hinweg über das Heiratsalter, als ihm der Zufall, der Tod eines Freundes, dessen unbemittelte, sehr junge Tochter ins Haus sührt. Diese wird bald seine Gattin, aber bei aller gegenseitigen guten Absicht und bei aller Vortrefflichkeit, das richtige innere Verhältnis will sich nicht ein¬ stellen. Und der sorgenden, klugen Mutter scheint nicht einmal alles äußer¬ liche richtig. Da wird zum Unglück noch der Sohn eines andern Freundes, ein adlicher Assessor, in die Stadt versetzt und von seinem Vater warm in das Haus empfohlen, worin er nun, eine Donjuannatur, ein Mann, der alles kann und nie um Rat oder That verlegen ist, allmählich ein wahres Unheil anstiftet. Wie das die Mutter zuerst ahnt, die junge Frau langsam einsieht, der Herr Doktor erst ganz zu allerletzt bemerkt, und alle dann sich doch wieder¬ finden und schließlich alles noch gut ausgeht, nachdem sich Donjuan als echter Kavalier rechtzeitig zurückgezogen hat, das ist sehr hübsch und sehr fein ge¬ schildert. Dennoch bleibt eine Frage zurück: Wie kann ein Mann, wie der Arzt — und Ärzte sollen doch bekanntlich schärfer beobachten als andre Men¬ schen —, so stumpf von Wahrnehmung sein und doch im übrigen als kluger Mann und guter Arzt hingestellt werden? Dem Verfasser war das als Ver¬ zögerung für seine psychologische Malerei nötig, aber richtig war es trotzdem nicht, denn es überzeugt nicht. Und weil er ein Schriftsteller ist, der höhere Ansprüche an sich macht, so haben wir uns erlaubt, das herauszuheben. Wollte er nur Augenblicksbilder, Eisenbahnbücher oder dergleichen schreiben, so wäre es überflüssig gewesen. Bei Konrad Telmanns Vos6nicus (Berlin, Grote, 1896) sagt uns schon der Titel und des Verfassers Name, daß wir einen völlig andern Boden zu betreten haben. Zwei befreundete Berliner Schriftsteller, die beide nicht genug Talent oder Erfolg haben, von ihrer Arbeit nach ihren Ansprüchen leben zu können, heiraten sehr reiche Frauen: Fritz eine hausbackne, gutmütige Person, die ihn Pflegt und verwöhnt, damit er nur nicht ins Wirtshaus läuft, der aber seine Schriftstellerei völlig gleichgiltig ist, Wolfgang eine scharfe, gemttt- lose Kommerzienratstochter, die ihn zum Schreiben zwingt, alles, was er schreibt, kritisirt und verwirft und dazu ihn seine materielle Abhängigkeit täg¬ lich mehr fühlen läßt. Bald sind beide Freunde gleich unzufrieden. Wolf- gang hatte vor seiner Ehe ein Verhältnis zu der Nichte eines Droschkenkutschers, Lene. Dieses nimmt jetzt Fritz, der darum gewußt hat, auf und redet sich ein, er müsse Lene heiraten und sich von seiner Frau, die ihn nicht versteht, scheiden lassen. Das Verfahren wird eingeleitet, er bezieht ein bescheidnes Chambregarnie, erkrankt aber, weil er durch die Küche seiner Frau verwöhnt ist, und wird ihr zur Pflege durch den Hausarzt ins Haus zurückgeführt. Während der Genesung sprechen sich die Eheleute aus. Er begnügt sich mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/178>, abgerufen am 03.07.2024.