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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der russische Sozialismus

das hohe Anlagekapital, das bei uns zum Betrieb der Landwirtschaft not¬
wendig ist. Wie dem abzuhelfen sei, haben die Grenzboten schon öfter dar¬
gelegt. Plechanow meint, der wissenschaftliche Sozialismus werde in Nußland
nicht verstanden, weil die dortigen Produktionsverhältnisse um ein halbes
Jahrhundert (nicht vielmehr um viele Jahrhunderte?) hinter den westeuro¬
päischen zurückgeblieben seien. Nun, soweit auch die unsern fortgeschritten sein
mögen, bei der Katastrophe sind sie noch lange nicht angelangt, und niemand
weiß, ob sie je dabei anlangen werden. Unsre Verhältnisse sind so, daß sie
die marxistische Lehre hervortreiben mußten, und daß jedermann verstehen kann,
was Marx und Engels gemeint haben; aber, wie gesagt, die Schlüsse auf die
Zukunft, die sie aus der ziemlich richtig erkannten Gegenwart gezogen haben,
sind teils übereilt, teils falsch.

Der andre Fehler ist der Materialismus ihrer Geschichtserklärung. Daß
die gesellschaftlichen Verhältnisse, darunter auch die Staatsverfassungen, größten¬
teils und die Ideen der Menschen zu einem großen Teil durch die jeweilig
erreichte Produktivität der Arbeit bestimmt werden, ist richtig, aber daß es
keine mitbestimmenden ideellen Ursachen gebe, ist falsch. Die ideellen Ursachen
sind zwar zum Teil, aber uicht durchweg ideologisch, wie es die Sozialisten
nennen. Den mohammedanischen Fanatismus zum Beispiel, der in unseru
Tagen in Zentralafrika ein wenn auch nur kurzlebiges Nicias aufgerichtet hat,
als ein Erzeugnis der afrikanischen Produktionsweise zu bezeichnen, würde
ebenso lächerlich sein, wie das Unterfangen der Sozialisten lächerlich ist, die
Entstehung des Christentums aus den Produktionsverhältnissen des römischen
Reiches zu erklären. Was sind gesellschaftliche Einrichtungen? Darauf ant¬
wortet Plechanow Seite 163: "Sie sind der juristische Überbau, der sich auf
einer gegebnen ökonomischen Basis erhebt." Daher, heißt es weiter, müßten
fehlerhafte gesellschaftliche Einrichtungen nicht deswegen getadelt werden, weil
sie mit einem Ideal, sondern weil sie mit der erreichten Stufe der Produktivität
der Arbeit in Widerspruch stehen. Nun, unsre Justiz wird sehr häufig von
den Sozialdemokraten getadelt. Aber nicht bloß deshalb, weil sie mitunter
die Arbeiter hindert, ein höheres Einkommen zu erstreben und hierdurch die
Ausnutzung der erreichten Produktivität der Arbeit zu fördern, sondern auch,
und sogar meistens deshalb, weil die gerichtlichen Urteile häufig ungerecht
sind, wie in jenem Lager -- ob mit Recht oder mit Unrecht, mag dahingestellt
bleiben -- behauptet wird. Die Sozialdemokraten erkennen also die sittliche
Idee der Gerechtigkeit als eine vom ökonomischen Prozeß unabhängige Macht
an, und wer eine Idee anerkennt, der erkennt alle andern an. Die Ideen
sind also auch nach dem Bekenntnis der Sozialdemokraten nicht bloß Trug¬
bilder, Spiegelungen ökonomischer Thatsachen, sondern wesenhafte Mächte.




Der russische Sozialismus

das hohe Anlagekapital, das bei uns zum Betrieb der Landwirtschaft not¬
wendig ist. Wie dem abzuhelfen sei, haben die Grenzboten schon öfter dar¬
gelegt. Plechanow meint, der wissenschaftliche Sozialismus werde in Nußland
nicht verstanden, weil die dortigen Produktionsverhältnisse um ein halbes
Jahrhundert (nicht vielmehr um viele Jahrhunderte?) hinter den westeuro¬
päischen zurückgeblieben seien. Nun, soweit auch die unsern fortgeschritten sein
mögen, bei der Katastrophe sind sie noch lange nicht angelangt, und niemand
weiß, ob sie je dabei anlangen werden. Unsre Verhältnisse sind so, daß sie
die marxistische Lehre hervortreiben mußten, und daß jedermann verstehen kann,
was Marx und Engels gemeint haben; aber, wie gesagt, die Schlüsse auf die
Zukunft, die sie aus der ziemlich richtig erkannten Gegenwart gezogen haben,
sind teils übereilt, teils falsch.

Der andre Fehler ist der Materialismus ihrer Geschichtserklärung. Daß
die gesellschaftlichen Verhältnisse, darunter auch die Staatsverfassungen, größten¬
teils und die Ideen der Menschen zu einem großen Teil durch die jeweilig
erreichte Produktivität der Arbeit bestimmt werden, ist richtig, aber daß es
keine mitbestimmenden ideellen Ursachen gebe, ist falsch. Die ideellen Ursachen
sind zwar zum Teil, aber uicht durchweg ideologisch, wie es die Sozialisten
nennen. Den mohammedanischen Fanatismus zum Beispiel, der in unseru
Tagen in Zentralafrika ein wenn auch nur kurzlebiges Nicias aufgerichtet hat,
als ein Erzeugnis der afrikanischen Produktionsweise zu bezeichnen, würde
ebenso lächerlich sein, wie das Unterfangen der Sozialisten lächerlich ist, die
Entstehung des Christentums aus den Produktionsverhältnissen des römischen
Reiches zu erklären. Was sind gesellschaftliche Einrichtungen? Darauf ant¬
wortet Plechanow Seite 163: „Sie sind der juristische Überbau, der sich auf
einer gegebnen ökonomischen Basis erhebt." Daher, heißt es weiter, müßten
fehlerhafte gesellschaftliche Einrichtungen nicht deswegen getadelt werden, weil
sie mit einem Ideal, sondern weil sie mit der erreichten Stufe der Produktivität
der Arbeit in Widerspruch stehen. Nun, unsre Justiz wird sehr häufig von
den Sozialdemokraten getadelt. Aber nicht bloß deshalb, weil sie mitunter
die Arbeiter hindert, ein höheres Einkommen zu erstreben und hierdurch die
Ausnutzung der erreichten Produktivität der Arbeit zu fördern, sondern auch,
und sogar meistens deshalb, weil die gerichtlichen Urteile häufig ungerecht
sind, wie in jenem Lager — ob mit Recht oder mit Unrecht, mag dahingestellt
bleiben — behauptet wird. Die Sozialdemokraten erkennen also die sittliche
Idee der Gerechtigkeit als eine vom ökonomischen Prozeß unabhängige Macht
an, und wer eine Idee anerkennt, der erkennt alle andern an. Die Ideen
sind also auch nach dem Bekenntnis der Sozialdemokraten nicht bloß Trug¬
bilder, Spiegelungen ökonomischer Thatsachen, sondern wesenhafte Mächte.




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[0165] Der russische Sozialismus das hohe Anlagekapital, das bei uns zum Betrieb der Landwirtschaft not¬ wendig ist. Wie dem abzuhelfen sei, haben die Grenzboten schon öfter dar¬ gelegt. Plechanow meint, der wissenschaftliche Sozialismus werde in Nußland nicht verstanden, weil die dortigen Produktionsverhältnisse um ein halbes Jahrhundert (nicht vielmehr um viele Jahrhunderte?) hinter den westeuro¬ päischen zurückgeblieben seien. Nun, soweit auch die unsern fortgeschritten sein mögen, bei der Katastrophe sind sie noch lange nicht angelangt, und niemand weiß, ob sie je dabei anlangen werden. Unsre Verhältnisse sind so, daß sie die marxistische Lehre hervortreiben mußten, und daß jedermann verstehen kann, was Marx und Engels gemeint haben; aber, wie gesagt, die Schlüsse auf die Zukunft, die sie aus der ziemlich richtig erkannten Gegenwart gezogen haben, sind teils übereilt, teils falsch. Der andre Fehler ist der Materialismus ihrer Geschichtserklärung. Daß die gesellschaftlichen Verhältnisse, darunter auch die Staatsverfassungen, größten¬ teils und die Ideen der Menschen zu einem großen Teil durch die jeweilig erreichte Produktivität der Arbeit bestimmt werden, ist richtig, aber daß es keine mitbestimmenden ideellen Ursachen gebe, ist falsch. Die ideellen Ursachen sind zwar zum Teil, aber uicht durchweg ideologisch, wie es die Sozialisten nennen. Den mohammedanischen Fanatismus zum Beispiel, der in unseru Tagen in Zentralafrika ein wenn auch nur kurzlebiges Nicias aufgerichtet hat, als ein Erzeugnis der afrikanischen Produktionsweise zu bezeichnen, würde ebenso lächerlich sein, wie das Unterfangen der Sozialisten lächerlich ist, die Entstehung des Christentums aus den Produktionsverhältnissen des römischen Reiches zu erklären. Was sind gesellschaftliche Einrichtungen? Darauf ant¬ wortet Plechanow Seite 163: „Sie sind der juristische Überbau, der sich auf einer gegebnen ökonomischen Basis erhebt." Daher, heißt es weiter, müßten fehlerhafte gesellschaftliche Einrichtungen nicht deswegen getadelt werden, weil sie mit einem Ideal, sondern weil sie mit der erreichten Stufe der Produktivität der Arbeit in Widerspruch stehen. Nun, unsre Justiz wird sehr häufig von den Sozialdemokraten getadelt. Aber nicht bloß deshalb, weil sie mitunter die Arbeiter hindert, ein höheres Einkommen zu erstreben und hierdurch die Ausnutzung der erreichten Produktivität der Arbeit zu fördern, sondern auch, und sogar meistens deshalb, weil die gerichtlichen Urteile häufig ungerecht sind, wie in jenem Lager — ob mit Recht oder mit Unrecht, mag dahingestellt bleiben — behauptet wird. Die Sozialdemokraten erkennen also die sittliche Idee der Gerechtigkeit als eine vom ökonomischen Prozeß unabhängige Macht an, und wer eine Idee anerkennt, der erkennt alle andern an. Die Ideen sind also auch nach dem Bekenntnis der Sozialdemokraten nicht bloß Trug¬ bilder, Spiegelungen ökonomischer Thatsachen, sondern wesenhafte Mächte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/165>, abgerufen am 22.07.2024.