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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Hof und Bürgertum in der Geistesgeschichte Berlins

nächtigte sich -- allerdings nicht in allen Gemeinden -- des Berliner Gesang¬
buchs, und in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts bürgerte sie sich schlie߬
lich auch im Volksunterricht ein, überall predigte sie eine nüchterne Nützlichkeits¬
lehre und ersetzte die Religion mehr oder weniger durch einseitig subjektive
Moral.

So waren zu Ende des Zeitalters Hof und Bürgerschaft Berlins in der
religiösen Entwicklung immer weiter auseinandergegangen. Die Union, die
1817 erreicht wurde, konnte das nicht mehr bedeuten, was vor hundert Jahren
in dem praktischen Interesse der preußischen Fürsten gelegen hatte. Der terri¬
toriale Gedanke hatte sich überlebt, die Geschichte spielt immer mehr in den
bürgerlichen Schichten. Auch in Wissenschaft und Kunst wurden Fürst und Hof
aus ihrer thatsächlich führenden Stellung im Verlaufe des Zeitalters schlie߬
lich in die von bloßen Rahmengebern sür das geistige Leben gedrängt, und
kaum diese Rolle blieb ihnen.

Welch glänzendes Bild des geistvollen, wissenschaftlich interessirten Berliner
Hofes am Ausgange des siebzehnten Jahrhunderts! Leibniz, seit 1694 mit
ihm in Verbindung, ist die Licht und Leben spendende Kraft, die Hand reichen
ihm die gescheite und liebenswürdige Sophie Charlotte -- die Theodicee zieht
die Summe einer Reihe von Gesprächen zwischen ihr und Leibniz -- und ein
deutscher Fürst, der den Plan zur Begründung einer Berliner Akademie mit
Verständnis und Begeisterung durchführte und dem eingehenden Ärbeits-
entwurf eigenhändig hinzufügte, daß die Akademie auch wirken solle zur "Er¬
haltung der Reinigkeit der deutschen Hauptsprache." Wie bald sollte sie den
umfassenden Charakter verlieren, den ihr Leibniz zugedacht hatte, wie bald den
einer deutsch gesinnten Genossenschaft, wozu sie Friedrich hatte machen wollen!
Friedrich Wilhelm I. vernachlässigte sie völlig, er interessirte sich mehr für
gelehrte Wunderkinder, und in dieser altmodischen Richtung aufs Kuriose folgte
ihm die Akademie; Friedrich II. französirte sie. An Stelle des alten Namens
einer "Sozietät der Wissenschaften" trat der neue ^eackömik roMs als Loisnoss
se as" LeUös I^ttrss ?ruWs, an Stelle der lateinischen Sprache der Ab¬
handlungen nicht wie anderwärts die deutsche, sondern ausschließlich die fran¬
zösische. Der religiöse, der nationale und der praktische Zug wurden getilgt
zu Gunsten eines "rein" wissenschaftlichen, internationalen Charakters, d'Argens,
d'Alembert, Condorcet waren die Hauptberater des Königs in Sachen der
Akademie. Dieser französische Charakter wurde ihr zwar unter Friedrich Wil¬
helm II. wieder genommen, aber nicht aus einer positiven, sondern aus einer
negativen Überzeugung: zugleich mit dem Franzosentum dachte man die Aufklärung
zu treffen, Obskuranten drängten sich ein, Biester und Nicolai bewarben sich
damals vergeblich um Aufnahme. Die bürgerliche Wissenschaft, die sich ihr an¬
fangs selbstverständlich unter- und eingeordnet hatte -- das schönste Beispiel
dafür ist der vielseitige, überall gründliche Johann Leonhard Frisch, seit 1698


Hof und Bürgertum in der Geistesgeschichte Berlins

nächtigte sich — allerdings nicht in allen Gemeinden — des Berliner Gesang¬
buchs, und in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts bürgerte sie sich schlie߬
lich auch im Volksunterricht ein, überall predigte sie eine nüchterne Nützlichkeits¬
lehre und ersetzte die Religion mehr oder weniger durch einseitig subjektive
Moral.

So waren zu Ende des Zeitalters Hof und Bürgerschaft Berlins in der
religiösen Entwicklung immer weiter auseinandergegangen. Die Union, die
1817 erreicht wurde, konnte das nicht mehr bedeuten, was vor hundert Jahren
in dem praktischen Interesse der preußischen Fürsten gelegen hatte. Der terri¬
toriale Gedanke hatte sich überlebt, die Geschichte spielt immer mehr in den
bürgerlichen Schichten. Auch in Wissenschaft und Kunst wurden Fürst und Hof
aus ihrer thatsächlich führenden Stellung im Verlaufe des Zeitalters schlie߬
lich in die von bloßen Rahmengebern sür das geistige Leben gedrängt, und
kaum diese Rolle blieb ihnen.

Welch glänzendes Bild des geistvollen, wissenschaftlich interessirten Berliner
Hofes am Ausgange des siebzehnten Jahrhunderts! Leibniz, seit 1694 mit
ihm in Verbindung, ist die Licht und Leben spendende Kraft, die Hand reichen
ihm die gescheite und liebenswürdige Sophie Charlotte — die Theodicee zieht
die Summe einer Reihe von Gesprächen zwischen ihr und Leibniz — und ein
deutscher Fürst, der den Plan zur Begründung einer Berliner Akademie mit
Verständnis und Begeisterung durchführte und dem eingehenden Ärbeits-
entwurf eigenhändig hinzufügte, daß die Akademie auch wirken solle zur „Er¬
haltung der Reinigkeit der deutschen Hauptsprache." Wie bald sollte sie den
umfassenden Charakter verlieren, den ihr Leibniz zugedacht hatte, wie bald den
einer deutsch gesinnten Genossenschaft, wozu sie Friedrich hatte machen wollen!
Friedrich Wilhelm I. vernachlässigte sie völlig, er interessirte sich mehr für
gelehrte Wunderkinder, und in dieser altmodischen Richtung aufs Kuriose folgte
ihm die Akademie; Friedrich II. französirte sie. An Stelle des alten Namens
einer „Sozietät der Wissenschaften" trat der neue ^eackömik roMs als Loisnoss
se as« LeUös I^ttrss ?ruWs, an Stelle der lateinischen Sprache der Ab¬
handlungen nicht wie anderwärts die deutsche, sondern ausschließlich die fran¬
zösische. Der religiöse, der nationale und der praktische Zug wurden getilgt
zu Gunsten eines „rein" wissenschaftlichen, internationalen Charakters, d'Argens,
d'Alembert, Condorcet waren die Hauptberater des Königs in Sachen der
Akademie. Dieser französische Charakter wurde ihr zwar unter Friedrich Wil¬
helm II. wieder genommen, aber nicht aus einer positiven, sondern aus einer
negativen Überzeugung: zugleich mit dem Franzosentum dachte man die Aufklärung
zu treffen, Obskuranten drängten sich ein, Biester und Nicolai bewarben sich
damals vergeblich um Aufnahme. Die bürgerliche Wissenschaft, die sich ihr an¬
fangs selbstverständlich unter- und eingeordnet hatte — das schönste Beispiel
dafür ist der vielseitige, überall gründliche Johann Leonhard Frisch, seit 1698


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[0086] Hof und Bürgertum in der Geistesgeschichte Berlins nächtigte sich — allerdings nicht in allen Gemeinden — des Berliner Gesang¬ buchs, und in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts bürgerte sie sich schlie߬ lich auch im Volksunterricht ein, überall predigte sie eine nüchterne Nützlichkeits¬ lehre und ersetzte die Religion mehr oder weniger durch einseitig subjektive Moral. So waren zu Ende des Zeitalters Hof und Bürgerschaft Berlins in der religiösen Entwicklung immer weiter auseinandergegangen. Die Union, die 1817 erreicht wurde, konnte das nicht mehr bedeuten, was vor hundert Jahren in dem praktischen Interesse der preußischen Fürsten gelegen hatte. Der terri¬ toriale Gedanke hatte sich überlebt, die Geschichte spielt immer mehr in den bürgerlichen Schichten. Auch in Wissenschaft und Kunst wurden Fürst und Hof aus ihrer thatsächlich führenden Stellung im Verlaufe des Zeitalters schlie߬ lich in die von bloßen Rahmengebern sür das geistige Leben gedrängt, und kaum diese Rolle blieb ihnen. Welch glänzendes Bild des geistvollen, wissenschaftlich interessirten Berliner Hofes am Ausgange des siebzehnten Jahrhunderts! Leibniz, seit 1694 mit ihm in Verbindung, ist die Licht und Leben spendende Kraft, die Hand reichen ihm die gescheite und liebenswürdige Sophie Charlotte — die Theodicee zieht die Summe einer Reihe von Gesprächen zwischen ihr und Leibniz — und ein deutscher Fürst, der den Plan zur Begründung einer Berliner Akademie mit Verständnis und Begeisterung durchführte und dem eingehenden Ärbeits- entwurf eigenhändig hinzufügte, daß die Akademie auch wirken solle zur „Er¬ haltung der Reinigkeit der deutschen Hauptsprache." Wie bald sollte sie den umfassenden Charakter verlieren, den ihr Leibniz zugedacht hatte, wie bald den einer deutsch gesinnten Genossenschaft, wozu sie Friedrich hatte machen wollen! Friedrich Wilhelm I. vernachlässigte sie völlig, er interessirte sich mehr für gelehrte Wunderkinder, und in dieser altmodischen Richtung aufs Kuriose folgte ihm die Akademie; Friedrich II. französirte sie. An Stelle des alten Namens einer „Sozietät der Wissenschaften" trat der neue ^eackömik roMs als Loisnoss se as« LeUös I^ttrss ?ruWs, an Stelle der lateinischen Sprache der Ab¬ handlungen nicht wie anderwärts die deutsche, sondern ausschließlich die fran¬ zösische. Der religiöse, der nationale und der praktische Zug wurden getilgt zu Gunsten eines „rein" wissenschaftlichen, internationalen Charakters, d'Argens, d'Alembert, Condorcet waren die Hauptberater des Königs in Sachen der Akademie. Dieser französische Charakter wurde ihr zwar unter Friedrich Wil¬ helm II. wieder genommen, aber nicht aus einer positiven, sondern aus einer negativen Überzeugung: zugleich mit dem Franzosentum dachte man die Aufklärung zu treffen, Obskuranten drängten sich ein, Biester und Nicolai bewarben sich damals vergeblich um Aufnahme. Die bürgerliche Wissenschaft, die sich ihr an¬ fangs selbstverständlich unter- und eingeordnet hatte — das schönste Beispiel dafür ist der vielseitige, überall gründliche Johann Leonhard Frisch, seit 1698

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/86>, abgerufen am 26.11.2024.