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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Ein Mann, dem man demokratische Gesinnungen nicht vorwerfen kann (im offiziellen
Deutschland ist das heutzutage ein Vorwurf!), Karl Jcntsch, schreibt z. B.: "Wie
häufig Mißhandlungen von Unterthanen durch die Polizei vorkommen, davon er¬
fahren die Anhänger der "Ordnungsparteien" wenig oder nichts, weil sie sozial¬
demokratische und demokratische Blätter nicht lesen, ihre eignen Parteizeitungen aber
diese Dinge grundsätzlich totschweigen. Es muß anerkannt werden, daß brutale
Polizeibeamte hie und da bestraft werden. Aber das kommt doch äußerst selten
vor; im allgemeinen schenken die Gerichte grundsätzlich der Polizei mehr Glanben
als dem Gemißhandelten, und dieser kaun schon froh sein, wenn er nicht noch wegen
Widerstandes gegen die Staatsgewalt verurteilt wird." (Betrachtungen eines Laien
S. 100.) Solche Fälle kommen sicherlich viel öfter Vor, als sie gerichtlich ver¬
handelt werden. Wie viel mehr würde nun in den Gefängnissen die ärgste Roh-
heit Platz greifen, wenn der Aufseher prügeln dürfte! Welch verkehrter Grundsatz,
eine Strafe deshalb zu fordern, weil sie dem strafenden gerecht wird! Die Be¬
amten sind doch um der Gefangnen willen da, nicht umgekehrt. Und welche Päda¬
gogik, eine Strafe von dem Verletzten im Zorn vollziehen zu lassen! Wenn Fälle
berichtet werden, wo sich zur Vollziehung der Prügelstrafe statt eines Beamten
zehn melden, so spricht das nicht eben gegen die Roheit dieser Leute. Und wie
machtlos würden die Gefangnen den Unterbeamten ausgeliefert sein! Man weiß,
was heutzutage die Beschwerde beim Militär für den sich Beschwerenden bedeutet.
Steht es damit im Gefängnis besser? Die Feigheit der Sträflinge, von der der
Verfasser erzählt, spricht nicht dafür -- oder waren diese Leute in der Freiheit
schon ebenso feige? In einem neulich in München verhandelten Prozeß erklärte es
ein Offizier ausdrücklich für unmöglich, zu verhindern, daß ein Unteroffizier einen
Mann eine Beschwerde entgelten lasse. Die Nutzanwendung davon auf einen Straf¬
anstaltsdirektor und seine Beamten liegt auf der Hand. Und der Unteroffizier
darf doch nicht prügeln! Allerdings muß man zugeben, daß es ein Mißstnud ist,
wenn die Beamten thatsächlich die Prügelstrafe ohne gesetzliche Ermächtigung um¬
wenden; aber sie ihnen darum zu geben, hieße eine strafbare Handlung ganz frei¬
geben, weil sie öfter begangen wird.

Endlich ist aber auch der Optimismus bezüglich des Erfolgs der Prügelstrafe
nichts weniger als unanfechtbar. Wäre die Disziplin in unsern Gefängnissen so
arg, wie sie z. B. im vorigen Jahrhundert durchgängig war, und wäre die Prügel¬
strafe wirklich das Allheilmittel, das eine musterhafte Disziplin verbürgte, so
könnte ihre Einführung mit gewissem Recht verlangt werden. Das ist aber nicht
der Fall. Die Disziplin in unsern Gefängnissen mag zu wünschen übrig lassen,
sie ist aber jedenfalls niemals besser gewesen als heute. Und die Erfolge der
Prügelstrafe in früherer Zeit sind nicht geeignet, für sie Propaganda zu machen.
So hat mau in verschiednen Strafanstalten das Schweigegebot mit den härtesten
Strafen durchzusetzen gesucht, unzählige Prügel sind ausgeteilt worden -- vergeblich.
Wir würden mit der Prügelstrafe im Gefängnis vermutlich dieselbe Erfahrung
machen. Da sie aber schon früher gemacht worden ist, so sollten wir uns auch
den Versuch schenken.

Die Prügelstrafe ist aber nicht nur im höchsten Grade brutal, sie ist auch eine
ehrenrührige Strafe, und diesen wichtigen Umstand muß man vor allem berück¬
sichtigen, wenn man vom Standpunkt des Sträflings aus, der maßgebend für die
Art der Strafvollziehung fein muß, unsre Frage betrachtet. Unser Strcisrecht kennt
ja Ehrenstrafen, die der Richter bei jeder Verurteilung zu Zuchthaus und uuter
bestimmten Voraussetzungen auch bei Verurteilung zu Gefängnis aussprechen kann. Es


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Ein Mann, dem man demokratische Gesinnungen nicht vorwerfen kann (im offiziellen
Deutschland ist das heutzutage ein Vorwurf!), Karl Jcntsch, schreibt z. B.: „Wie
häufig Mißhandlungen von Unterthanen durch die Polizei vorkommen, davon er¬
fahren die Anhänger der »Ordnungsparteien« wenig oder nichts, weil sie sozial¬
demokratische und demokratische Blätter nicht lesen, ihre eignen Parteizeitungen aber
diese Dinge grundsätzlich totschweigen. Es muß anerkannt werden, daß brutale
Polizeibeamte hie und da bestraft werden. Aber das kommt doch äußerst selten
vor; im allgemeinen schenken die Gerichte grundsätzlich der Polizei mehr Glanben
als dem Gemißhandelten, und dieser kaun schon froh sein, wenn er nicht noch wegen
Widerstandes gegen die Staatsgewalt verurteilt wird." (Betrachtungen eines Laien
S. 100.) Solche Fälle kommen sicherlich viel öfter Vor, als sie gerichtlich ver¬
handelt werden. Wie viel mehr würde nun in den Gefängnissen die ärgste Roh-
heit Platz greifen, wenn der Aufseher prügeln dürfte! Welch verkehrter Grundsatz,
eine Strafe deshalb zu fordern, weil sie dem strafenden gerecht wird! Die Be¬
amten sind doch um der Gefangnen willen da, nicht umgekehrt. Und welche Päda¬
gogik, eine Strafe von dem Verletzten im Zorn vollziehen zu lassen! Wenn Fälle
berichtet werden, wo sich zur Vollziehung der Prügelstrafe statt eines Beamten
zehn melden, so spricht das nicht eben gegen die Roheit dieser Leute. Und wie
machtlos würden die Gefangnen den Unterbeamten ausgeliefert sein! Man weiß,
was heutzutage die Beschwerde beim Militär für den sich Beschwerenden bedeutet.
Steht es damit im Gefängnis besser? Die Feigheit der Sträflinge, von der der
Verfasser erzählt, spricht nicht dafür — oder waren diese Leute in der Freiheit
schon ebenso feige? In einem neulich in München verhandelten Prozeß erklärte es
ein Offizier ausdrücklich für unmöglich, zu verhindern, daß ein Unteroffizier einen
Mann eine Beschwerde entgelten lasse. Die Nutzanwendung davon auf einen Straf¬
anstaltsdirektor und seine Beamten liegt auf der Hand. Und der Unteroffizier
darf doch nicht prügeln! Allerdings muß man zugeben, daß es ein Mißstnud ist,
wenn die Beamten thatsächlich die Prügelstrafe ohne gesetzliche Ermächtigung um¬
wenden; aber sie ihnen darum zu geben, hieße eine strafbare Handlung ganz frei¬
geben, weil sie öfter begangen wird.

Endlich ist aber auch der Optimismus bezüglich des Erfolgs der Prügelstrafe
nichts weniger als unanfechtbar. Wäre die Disziplin in unsern Gefängnissen so
arg, wie sie z. B. im vorigen Jahrhundert durchgängig war, und wäre die Prügel¬
strafe wirklich das Allheilmittel, das eine musterhafte Disziplin verbürgte, so
könnte ihre Einführung mit gewissem Recht verlangt werden. Das ist aber nicht
der Fall. Die Disziplin in unsern Gefängnissen mag zu wünschen übrig lassen,
sie ist aber jedenfalls niemals besser gewesen als heute. Und die Erfolge der
Prügelstrafe in früherer Zeit sind nicht geeignet, für sie Propaganda zu machen.
So hat mau in verschiednen Strafanstalten das Schweigegebot mit den härtesten
Strafen durchzusetzen gesucht, unzählige Prügel sind ausgeteilt worden — vergeblich.
Wir würden mit der Prügelstrafe im Gefängnis vermutlich dieselbe Erfahrung
machen. Da sie aber schon früher gemacht worden ist, so sollten wir uns auch
den Versuch schenken.

Die Prügelstrafe ist aber nicht nur im höchsten Grade brutal, sie ist auch eine
ehrenrührige Strafe, und diesen wichtigen Umstand muß man vor allem berück¬
sichtigen, wenn man vom Standpunkt des Sträflings aus, der maßgebend für die
Art der Strafvollziehung fein muß, unsre Frage betrachtet. Unser Strcisrecht kennt
ja Ehrenstrafen, die der Richter bei jeder Verurteilung zu Zuchthaus und uuter
bestimmten Voraussetzungen auch bei Verurteilung zu Gefängnis aussprechen kann. Es


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[0648] Maßgebliches und Unmaßgebliches Ein Mann, dem man demokratische Gesinnungen nicht vorwerfen kann (im offiziellen Deutschland ist das heutzutage ein Vorwurf!), Karl Jcntsch, schreibt z. B.: „Wie häufig Mißhandlungen von Unterthanen durch die Polizei vorkommen, davon er¬ fahren die Anhänger der »Ordnungsparteien« wenig oder nichts, weil sie sozial¬ demokratische und demokratische Blätter nicht lesen, ihre eignen Parteizeitungen aber diese Dinge grundsätzlich totschweigen. Es muß anerkannt werden, daß brutale Polizeibeamte hie und da bestraft werden. Aber das kommt doch äußerst selten vor; im allgemeinen schenken die Gerichte grundsätzlich der Polizei mehr Glanben als dem Gemißhandelten, und dieser kaun schon froh sein, wenn er nicht noch wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt verurteilt wird." (Betrachtungen eines Laien S. 100.) Solche Fälle kommen sicherlich viel öfter Vor, als sie gerichtlich ver¬ handelt werden. Wie viel mehr würde nun in den Gefängnissen die ärgste Roh- heit Platz greifen, wenn der Aufseher prügeln dürfte! Welch verkehrter Grundsatz, eine Strafe deshalb zu fordern, weil sie dem strafenden gerecht wird! Die Be¬ amten sind doch um der Gefangnen willen da, nicht umgekehrt. Und welche Päda¬ gogik, eine Strafe von dem Verletzten im Zorn vollziehen zu lassen! Wenn Fälle berichtet werden, wo sich zur Vollziehung der Prügelstrafe statt eines Beamten zehn melden, so spricht das nicht eben gegen die Roheit dieser Leute. Und wie machtlos würden die Gefangnen den Unterbeamten ausgeliefert sein! Man weiß, was heutzutage die Beschwerde beim Militär für den sich Beschwerenden bedeutet. Steht es damit im Gefängnis besser? Die Feigheit der Sträflinge, von der der Verfasser erzählt, spricht nicht dafür — oder waren diese Leute in der Freiheit schon ebenso feige? In einem neulich in München verhandelten Prozeß erklärte es ein Offizier ausdrücklich für unmöglich, zu verhindern, daß ein Unteroffizier einen Mann eine Beschwerde entgelten lasse. Die Nutzanwendung davon auf einen Straf¬ anstaltsdirektor und seine Beamten liegt auf der Hand. Und der Unteroffizier darf doch nicht prügeln! Allerdings muß man zugeben, daß es ein Mißstnud ist, wenn die Beamten thatsächlich die Prügelstrafe ohne gesetzliche Ermächtigung um¬ wenden; aber sie ihnen darum zu geben, hieße eine strafbare Handlung ganz frei¬ geben, weil sie öfter begangen wird. Endlich ist aber auch der Optimismus bezüglich des Erfolgs der Prügelstrafe nichts weniger als unanfechtbar. Wäre die Disziplin in unsern Gefängnissen so arg, wie sie z. B. im vorigen Jahrhundert durchgängig war, und wäre die Prügel¬ strafe wirklich das Allheilmittel, das eine musterhafte Disziplin verbürgte, so könnte ihre Einführung mit gewissem Recht verlangt werden. Das ist aber nicht der Fall. Die Disziplin in unsern Gefängnissen mag zu wünschen übrig lassen, sie ist aber jedenfalls niemals besser gewesen als heute. Und die Erfolge der Prügelstrafe in früherer Zeit sind nicht geeignet, für sie Propaganda zu machen. So hat mau in verschiednen Strafanstalten das Schweigegebot mit den härtesten Strafen durchzusetzen gesucht, unzählige Prügel sind ausgeteilt worden — vergeblich. Wir würden mit der Prügelstrafe im Gefängnis vermutlich dieselbe Erfahrung machen. Da sie aber schon früher gemacht worden ist, so sollten wir uns auch den Versuch schenken. Die Prügelstrafe ist aber nicht nur im höchsten Grade brutal, sie ist auch eine ehrenrührige Strafe, und diesen wichtigen Umstand muß man vor allem berück¬ sichtigen, wenn man vom Standpunkt des Sträflings aus, der maßgebend für die Art der Strafvollziehung fein muß, unsre Frage betrachtet. Unser Strcisrecht kennt ja Ehrenstrafen, die der Richter bei jeder Verurteilung zu Zuchthaus und uuter bestimmten Voraussetzungen auch bei Verurteilung zu Gefängnis aussprechen kann. Es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/648>, abgerufen am 24.11.2024.