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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die homerische Frage

des Verses finden oder immer nur mit denselben Eigennamen verbunden werden.
Sie sind uns zu einem großen Teile völlig unverständlich, für einzelne sind
die verschiedensten Bedeutungen (z. B. für "r^/so/c^, das Voß mit "un¬
fruchtbar" übersetzt) aufgestellt worden, oder sie werden selbst dann angewandt,
wo sie für die augenblickliche Lage nicht passen. So hebt am hellen Tage Nestor
in der Ilias, Polyphem in der Odyssee die Hände zum "gestirnten" Himmel
empor, und die Gewänder, die Nausikaa zum Strande fährt, um sie zu waschen,
werden auch in diesem Zustande "glänzend" und "schimmernd" genannt. Es
sind das eben stehende Beiwörter des Himmels oder der Wüsche; die augen¬
blickliche Lage kommt dabei gar nicht in Betracht. Aber das Formelhafte in
der Sprache Homers geht noch viel weiter. Bestimmte Handlungen, wie
das Bereiten von Mahlzeiten, Essen, Trinken, Aufstehen, sich Ankleiden, Schlafen¬
gehen, Opfervorbereitnng und Ausführung, Ankunft und Abfahrt der Schiffe
und andres werden immer rin denselben Worten oder nur mit geringen Ab¬
weichungen geschildert und dabei große Härten nicht vermieden. Ja noch mehr:
selbst Ausbrüche der Leidenschaft, des Zornes und der Liebe, der Freude und
der Trauer, Anrufung der Götter zu Gelübden oder Verwünschungen, bestimmte
Befehle und Auftrüge, Kampfesschilderungen tragen ein außerordentlich gleich¬
müßiges, formelhaftes Gepräge, das auf lange Kunstübung zurückgehen muß.

Bringen wir damit in Verbindung, daß in den homerischen Gedichten ein
reicher Sagenschatz als bekannt vorausgesetzt wird, daß wir nicht selten An-
spielungen auf Sagen finden, die von der Handlung in den Gedichten selbst
weit abliegen und für uns zum Teil ganz unverständlich sind oder erst dnrch
Anmerkungen der Scholiasten oder durch spätere Überlieferung verständlich
werden, so ist ein Schluß wenigstens auf das relative Alter Homers und seine
Bedeutung als Erfinder und Gestalter des Stoffes möglich. Es muß eine
sehr lange Zeit epischen Gesanges und sagenfreudigen Schaffens voraus¬
gegangen sein, und die Erzeugnisse dieses Dichtens müssen Gemeingut, wenn
nicht des ganzen Volks, so doch sicher der Sänger und der Fürstengeschlechter
geworden sein. Jeder Sänger muß an diesem Stoff auch die eigentümliche
epische Sprache gelernt und die Fähigkeit gewonnen haben, Lieder längern
oder kürzern Inhalts mit mehr oder weniger wörtlicher Anlehnung an eine
bereits vorhandne Form zu dichten und vorzutragen. Diese Annahme wird
vollständig bestätigt durch Zeugnisse aus den homerischen Gedichten selbst. In
der Ilias singt Achill, der tapfre Held, als er sich grollend vom Kampfe
zurückgezogen hat, die "Nuhmesthaten der Männer" (IX, 189), also doch wohl
epische Lieder, und in der Odyssee fordert Odysseus den Sänger Dcmodokos
auf (VIII, 487 ff.), das Lied vom hölzernen Pferd und Trojas Einnahme zu
singen, und der Sänger geht ohne Zögern auf diesen Wunsch ein. Es wird
also die Kenntnis dieses (wie vieler andrer Lieder) nicht nur (zufällig) bei dem
Helden, sondern auch ohne allen Zweifel bei dem Sänger vorausgesetzt.


Die homerische Frage

des Verses finden oder immer nur mit denselben Eigennamen verbunden werden.
Sie sind uns zu einem großen Teile völlig unverständlich, für einzelne sind
die verschiedensten Bedeutungen (z. B. für «r^/so/c^, das Voß mit „un¬
fruchtbar" übersetzt) aufgestellt worden, oder sie werden selbst dann angewandt,
wo sie für die augenblickliche Lage nicht passen. So hebt am hellen Tage Nestor
in der Ilias, Polyphem in der Odyssee die Hände zum „gestirnten" Himmel
empor, und die Gewänder, die Nausikaa zum Strande fährt, um sie zu waschen,
werden auch in diesem Zustande „glänzend" und „schimmernd" genannt. Es
sind das eben stehende Beiwörter des Himmels oder der Wüsche; die augen¬
blickliche Lage kommt dabei gar nicht in Betracht. Aber das Formelhafte in
der Sprache Homers geht noch viel weiter. Bestimmte Handlungen, wie
das Bereiten von Mahlzeiten, Essen, Trinken, Aufstehen, sich Ankleiden, Schlafen¬
gehen, Opfervorbereitnng und Ausführung, Ankunft und Abfahrt der Schiffe
und andres werden immer rin denselben Worten oder nur mit geringen Ab¬
weichungen geschildert und dabei große Härten nicht vermieden. Ja noch mehr:
selbst Ausbrüche der Leidenschaft, des Zornes und der Liebe, der Freude und
der Trauer, Anrufung der Götter zu Gelübden oder Verwünschungen, bestimmte
Befehle und Auftrüge, Kampfesschilderungen tragen ein außerordentlich gleich¬
müßiges, formelhaftes Gepräge, das auf lange Kunstübung zurückgehen muß.

Bringen wir damit in Verbindung, daß in den homerischen Gedichten ein
reicher Sagenschatz als bekannt vorausgesetzt wird, daß wir nicht selten An-
spielungen auf Sagen finden, die von der Handlung in den Gedichten selbst
weit abliegen und für uns zum Teil ganz unverständlich sind oder erst dnrch
Anmerkungen der Scholiasten oder durch spätere Überlieferung verständlich
werden, so ist ein Schluß wenigstens auf das relative Alter Homers und seine
Bedeutung als Erfinder und Gestalter des Stoffes möglich. Es muß eine
sehr lange Zeit epischen Gesanges und sagenfreudigen Schaffens voraus¬
gegangen sein, und die Erzeugnisse dieses Dichtens müssen Gemeingut, wenn
nicht des ganzen Volks, so doch sicher der Sänger und der Fürstengeschlechter
geworden sein. Jeder Sänger muß an diesem Stoff auch die eigentümliche
epische Sprache gelernt und die Fähigkeit gewonnen haben, Lieder längern
oder kürzern Inhalts mit mehr oder weniger wörtlicher Anlehnung an eine
bereits vorhandne Form zu dichten und vorzutragen. Diese Annahme wird
vollständig bestätigt durch Zeugnisse aus den homerischen Gedichten selbst. In
der Ilias singt Achill, der tapfre Held, als er sich grollend vom Kampfe
zurückgezogen hat, die „Nuhmesthaten der Männer" (IX, 189), also doch wohl
epische Lieder, und in der Odyssee fordert Odysseus den Sänger Dcmodokos
auf (VIII, 487 ff.), das Lied vom hölzernen Pferd und Trojas Einnahme zu
singen, und der Sänger geht ohne Zögern auf diesen Wunsch ein. Es wird
also die Kenntnis dieses (wie vieler andrer Lieder) nicht nur (zufällig) bei dem
Helden, sondern auch ohne allen Zweifel bei dem Sänger vorausgesetzt.


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[0466] Die homerische Frage des Verses finden oder immer nur mit denselben Eigennamen verbunden werden. Sie sind uns zu einem großen Teile völlig unverständlich, für einzelne sind die verschiedensten Bedeutungen (z. B. für «r^/so/c^, das Voß mit „un¬ fruchtbar" übersetzt) aufgestellt worden, oder sie werden selbst dann angewandt, wo sie für die augenblickliche Lage nicht passen. So hebt am hellen Tage Nestor in der Ilias, Polyphem in der Odyssee die Hände zum „gestirnten" Himmel empor, und die Gewänder, die Nausikaa zum Strande fährt, um sie zu waschen, werden auch in diesem Zustande „glänzend" und „schimmernd" genannt. Es sind das eben stehende Beiwörter des Himmels oder der Wüsche; die augen¬ blickliche Lage kommt dabei gar nicht in Betracht. Aber das Formelhafte in der Sprache Homers geht noch viel weiter. Bestimmte Handlungen, wie das Bereiten von Mahlzeiten, Essen, Trinken, Aufstehen, sich Ankleiden, Schlafen¬ gehen, Opfervorbereitnng und Ausführung, Ankunft und Abfahrt der Schiffe und andres werden immer rin denselben Worten oder nur mit geringen Ab¬ weichungen geschildert und dabei große Härten nicht vermieden. Ja noch mehr: selbst Ausbrüche der Leidenschaft, des Zornes und der Liebe, der Freude und der Trauer, Anrufung der Götter zu Gelübden oder Verwünschungen, bestimmte Befehle und Auftrüge, Kampfesschilderungen tragen ein außerordentlich gleich¬ müßiges, formelhaftes Gepräge, das auf lange Kunstübung zurückgehen muß. Bringen wir damit in Verbindung, daß in den homerischen Gedichten ein reicher Sagenschatz als bekannt vorausgesetzt wird, daß wir nicht selten An- spielungen auf Sagen finden, die von der Handlung in den Gedichten selbst weit abliegen und für uns zum Teil ganz unverständlich sind oder erst dnrch Anmerkungen der Scholiasten oder durch spätere Überlieferung verständlich werden, so ist ein Schluß wenigstens auf das relative Alter Homers und seine Bedeutung als Erfinder und Gestalter des Stoffes möglich. Es muß eine sehr lange Zeit epischen Gesanges und sagenfreudigen Schaffens voraus¬ gegangen sein, und die Erzeugnisse dieses Dichtens müssen Gemeingut, wenn nicht des ganzen Volks, so doch sicher der Sänger und der Fürstengeschlechter geworden sein. Jeder Sänger muß an diesem Stoff auch die eigentümliche epische Sprache gelernt und die Fähigkeit gewonnen haben, Lieder längern oder kürzern Inhalts mit mehr oder weniger wörtlicher Anlehnung an eine bereits vorhandne Form zu dichten und vorzutragen. Diese Annahme wird vollständig bestätigt durch Zeugnisse aus den homerischen Gedichten selbst. In der Ilias singt Achill, der tapfre Held, als er sich grollend vom Kampfe zurückgezogen hat, die „Nuhmesthaten der Männer" (IX, 189), also doch wohl epische Lieder, und in der Odyssee fordert Odysseus den Sänger Dcmodokos auf (VIII, 487 ff.), das Lied vom hölzernen Pferd und Trojas Einnahme zu singen, und der Sänger geht ohne Zögern auf diesen Wunsch ein. Es wird also die Kenntnis dieses (wie vieler andrer Lieder) nicht nur (zufällig) bei dem Helden, sondern auch ohne allen Zweifel bei dem Sänger vorausgesetzt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/466>, abgerufen am 01.09.2024.