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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Litteratur

Formgewandt und fertig zeigt sich der hmmoversche Gutsbesitzerssohn, sein und
wohlgestellt -- man sieht das an den Stoffen: Pferde und Jagd, Gesell¬
schaft usw. Er versucht sich in verschiednen Formen und giebt alle erdenklichen
Stimmungen. Aber so vielerlei an Sehnsucht und Liebe und Enttäuschung und
Entsagung und trotz alledem nicht versagender Lebenslust kaun man doch nicht wohl
schon anfang der Zwanzig aus seinem eignen Innern gewonnen haben. Und
daran leiden seine Gedichte. Es sind nette Verse, aber meistens mich nicht mehr.
Hätten auch nicht gerade soviel zu sein brauchen -- über zwanzig Gedichte. Dann
waren vielleicht noch mehr andre zu Worte gekommen, und es ist doch gut, wenn
es möglichst viele sind, die außer ihrem Fach und ihrem Vergnügen noch etwas
treiben.

Über fünfzig Verehrer Scheffels haben sich zusnmmengethcm und als Zugabe
zu einem Denkstein, den sie dem Dichter in Mürzzuschlag gesetzt haben, ein kleines,
hübsch ausgestattetes Scheffelgedenkbuch mit Erinnerungsverseu und ähnlichen
kleinern poetischen Gaben erscheinen lassen (Dresden, R. von Grumbkow, 1395).
Was die eigentlichen "Dichter" beigesteuert haben, ragt nicht gerade hervor. Das
beste ist vielleicht ein Vers von M. Greif:

Näher, als wir oft es ahnen,
Liegt uns die Vergangenheit.
Schon ein Duft kann uns gemahnen
An die ferne Jugendzeit.
Was uns Gräber längst bedecken,
Weckt ein Laut im Herzen auf,
Und ein Traum kaun uns erwecken
Unsern ganzen Lebenslauf,

Solchen bescheidnen Leistungen gegenüber, wie sie übrigens das Bändchen vereinigt,
nimmt sich freilich ein Ton, wie dieser -- von einem andern -- sehr komisch aus:

Das ist nicht angebracht. Da sind unsre Göttinger Studenten doch bescheidner,
und ihr Musenalmanach darf sich getrost neben dem Scheffelgedeukbuch sehen lassen.

Eine Art Lyrik sind auch, wenngleich nicht in Versen geschrieben, Emil
Ertls Liebesmärchen (jetzt zweite Auslage. Leipzig, Liebeskind. 1896). Es
sind ja nicht alles Märchen, z. B. gleich das schönste von allen, "Der Stöckel¬
vater," ist eine ergreifende, tiefe und wahre Dorfgeschichte. Ein altes Schenk-
mädchen im Gebirgsdorf wartet auf die Wiederkehr ihres in die Fremde gegaugne"
Schatzes, weil der Stöctelvnter, das holzgeschnitzte Christusbild droben in der
Kapelle, ihrs durch Kopfneigen versprochen hat, daß er kommen sollte; sie wartet,
bis sie eisgrau und blind geworden ist, und endlich kommt er, halbtaub und mit
einem Stelzfuß statt des abgeschossenen Beins. Und sie werden glücklich mit ein¬
ander. Schon um dieser eiuen Geschichte willen haben wir das Buch lieb ge¬
wonnen. Also lesen!




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Litteratur

Formgewandt und fertig zeigt sich der hmmoversche Gutsbesitzerssohn, sein und
wohlgestellt — man sieht das an den Stoffen: Pferde und Jagd, Gesell¬
schaft usw. Er versucht sich in verschiednen Formen und giebt alle erdenklichen
Stimmungen. Aber so vielerlei an Sehnsucht und Liebe und Enttäuschung und
Entsagung und trotz alledem nicht versagender Lebenslust kaun man doch nicht wohl
schon anfang der Zwanzig aus seinem eignen Innern gewonnen haben. Und
daran leiden seine Gedichte. Es sind nette Verse, aber meistens mich nicht mehr.
Hätten auch nicht gerade soviel zu sein brauchen — über zwanzig Gedichte. Dann
waren vielleicht noch mehr andre zu Worte gekommen, und es ist doch gut, wenn
es möglichst viele sind, die außer ihrem Fach und ihrem Vergnügen noch etwas
treiben.

Über fünfzig Verehrer Scheffels haben sich zusnmmengethcm und als Zugabe
zu einem Denkstein, den sie dem Dichter in Mürzzuschlag gesetzt haben, ein kleines,
hübsch ausgestattetes Scheffelgedenkbuch mit Erinnerungsverseu und ähnlichen
kleinern poetischen Gaben erscheinen lassen (Dresden, R. von Grumbkow, 1395).
Was die eigentlichen „Dichter" beigesteuert haben, ragt nicht gerade hervor. Das
beste ist vielleicht ein Vers von M. Greif:

Näher, als wir oft es ahnen,
Liegt uns die Vergangenheit.
Schon ein Duft kann uns gemahnen
An die ferne Jugendzeit.
Was uns Gräber längst bedecken,
Weckt ein Laut im Herzen auf,
Und ein Traum kaun uns erwecken
Unsern ganzen Lebenslauf,

Solchen bescheidnen Leistungen gegenüber, wie sie übrigens das Bändchen vereinigt,
nimmt sich freilich ein Ton, wie dieser — von einem andern — sehr komisch aus:

Das ist nicht angebracht. Da sind unsre Göttinger Studenten doch bescheidner,
und ihr Musenalmanach darf sich getrost neben dem Scheffelgedeukbuch sehen lassen.

Eine Art Lyrik sind auch, wenngleich nicht in Versen geschrieben, Emil
Ertls Liebesmärchen (jetzt zweite Auslage. Leipzig, Liebeskind. 1896). Es
sind ja nicht alles Märchen, z. B. gleich das schönste von allen, „Der Stöckel¬
vater," ist eine ergreifende, tiefe und wahre Dorfgeschichte. Ein altes Schenk-
mädchen im Gebirgsdorf wartet auf die Wiederkehr ihres in die Fremde gegaugne»
Schatzes, weil der Stöctelvnter, das holzgeschnitzte Christusbild droben in der
Kapelle, ihrs durch Kopfneigen versprochen hat, daß er kommen sollte; sie wartet,
bis sie eisgrau und blind geworden ist, und endlich kommt er, halbtaub und mit
einem Stelzfuß statt des abgeschossenen Beins. Und sie werden glücklich mit ein¬
ander. Schon um dieser eiuen Geschichte willen haben wir das Buch lieb ge¬
wonnen. Also lesen!




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0456] Litteratur Formgewandt und fertig zeigt sich der hmmoversche Gutsbesitzerssohn, sein und wohlgestellt — man sieht das an den Stoffen: Pferde und Jagd, Gesell¬ schaft usw. Er versucht sich in verschiednen Formen und giebt alle erdenklichen Stimmungen. Aber so vielerlei an Sehnsucht und Liebe und Enttäuschung und Entsagung und trotz alledem nicht versagender Lebenslust kaun man doch nicht wohl schon anfang der Zwanzig aus seinem eignen Innern gewonnen haben. Und daran leiden seine Gedichte. Es sind nette Verse, aber meistens mich nicht mehr. Hätten auch nicht gerade soviel zu sein brauchen — über zwanzig Gedichte. Dann waren vielleicht noch mehr andre zu Worte gekommen, und es ist doch gut, wenn es möglichst viele sind, die außer ihrem Fach und ihrem Vergnügen noch etwas treiben. Über fünfzig Verehrer Scheffels haben sich zusnmmengethcm und als Zugabe zu einem Denkstein, den sie dem Dichter in Mürzzuschlag gesetzt haben, ein kleines, hübsch ausgestattetes Scheffelgedenkbuch mit Erinnerungsverseu und ähnlichen kleinern poetischen Gaben erscheinen lassen (Dresden, R. von Grumbkow, 1395). Was die eigentlichen „Dichter" beigesteuert haben, ragt nicht gerade hervor. Das beste ist vielleicht ein Vers von M. Greif: Näher, als wir oft es ahnen, Liegt uns die Vergangenheit. Schon ein Duft kann uns gemahnen An die ferne Jugendzeit. Was uns Gräber längst bedecken, Weckt ein Laut im Herzen auf, Und ein Traum kaun uns erwecken Unsern ganzen Lebenslauf, Solchen bescheidnen Leistungen gegenüber, wie sie übrigens das Bändchen vereinigt, nimmt sich freilich ein Ton, wie dieser — von einem andern — sehr komisch aus: Das ist nicht angebracht. Da sind unsre Göttinger Studenten doch bescheidner, und ihr Musenalmanach darf sich getrost neben dem Scheffelgedeukbuch sehen lassen. Eine Art Lyrik sind auch, wenngleich nicht in Versen geschrieben, Emil Ertls Liebesmärchen (jetzt zweite Auslage. Leipzig, Liebeskind. 1896). Es sind ja nicht alles Märchen, z. B. gleich das schönste von allen, „Der Stöckel¬ vater," ist eine ergreifende, tiefe und wahre Dorfgeschichte. Ein altes Schenk- mädchen im Gebirgsdorf wartet auf die Wiederkehr ihres in die Fremde gegaugne» Schatzes, weil der Stöctelvnter, das holzgeschnitzte Christusbild droben in der Kapelle, ihrs durch Kopfneigen versprochen hat, daß er kommen sollte; sie wartet, bis sie eisgrau und blind geworden ist, und endlich kommt er, halbtaub und mit einem Stelzfuß statt des abgeschossenen Beins. Und sie werden glücklich mit ein¬ ander. Schon um dieser eiuen Geschichte willen haben wir das Buch lieb ge¬ wonnen. Also lesen! Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/456>, abgerufen am 01.09.2024.