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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Homerische Frage

lands über die Entstehung seines Oberon: "Psychologisch kann ich mirs nun
doch ganz gut denken, daß Homer progressiv und nach und nach selbst die zwei
Epopöen nach vorhandnen Plane zusammengesetzt habe. So ist mein Oberon
entstanden. Ich hatte die ihm zu Grunde liegende Fabel als faktische Über¬
lieferung im Kopf. Nun war es mir ein organischer Keim in meiner Seele,
der nach und nach immer mehr Sprossen und Blüten aus sich hervortrieb.
Ich habe nie einen eigentlichen Plan dazu entworfen, wie sich etwa manche
Maler zu einem historischen Gemälde eine Skizze vorzeichnen. Ein dunkles
Gefühl hat mich von einem zum andern geleitet, und die genetische Dichter¬
kunst hat so lange fortgewirkt, bis alles in einander griff und zu einem Ganzen
verschmolz. Warum sollte es mit dem Homerischen Erzeugnis nicht ebenso
stehen?" Die letzte Frage ist unzweifelhaft berechtigt, namentlich wenn man die
Zeit, wo Homer lebte, erwägt, eine Zeit, die von logisch strenger Disposition
eines Werkes noch nichts wußte, obwohl sie mit sicherm Gefühl häufig auch
die beste Einteilung gefunden hat. So ist es z. B. denkbar, daß der Dichter
erst nach und nach Patroklos zu dieser Bedeutung für die Handlung heraus¬
gearbeitet hat (wie Schiller im Don Carlos den Marquis Posa) oder sich erst
während des Dichtens entschlossen hat, die Telemachie in die Odyssee einzu¬
legen. Ist doch selbst Goethes Hermann und Dorothea, obwohl in ganz
kurzer Zeit entstanden, während der Arbeit dem Dichter von sechs auf neun
Gesänge gewachsen, und nicht weniger bekannt ist, wie Schiller im Wallenstein
einzelne Teile bald bedeutend erweitert, bald zusammengezogen hat. Bei Homer
haben wir keine derartigen litterarischen Angaben, aber das hindert doch nicht,
eine ähnliche Art des Schaffens bei ihm vorauszusetzen. So kann auch manches
ein späterer Zusatz sein, aber nicht von einem geistlosen Rhapsoden, sondern
von dem Dichter selbst, der dies oder jenes näher begründen wollte. Auch
hierfür liegt uns eine Erklärung eines Dichters, keines geringern als Goethes
selbst, vor. Er schreibt (am 19. April 1797): "Einige Verse im Homer, die
für völlig falsch und neu ausgegeben werden, sind von der Art, wie ich einige
selbst in mein Gedicht (Hermann und Dorothea), nachdem es fertig war, ein¬
geschoben habe, um das Ganze klarer und faßlicher zu machen und künftige
Ereignisse beizeiten vorzubereiten."

(Schluß folgt)




Die Homerische Frage

lands über die Entstehung seines Oberon: „Psychologisch kann ich mirs nun
doch ganz gut denken, daß Homer progressiv und nach und nach selbst die zwei
Epopöen nach vorhandnen Plane zusammengesetzt habe. So ist mein Oberon
entstanden. Ich hatte die ihm zu Grunde liegende Fabel als faktische Über¬
lieferung im Kopf. Nun war es mir ein organischer Keim in meiner Seele,
der nach und nach immer mehr Sprossen und Blüten aus sich hervortrieb.
Ich habe nie einen eigentlichen Plan dazu entworfen, wie sich etwa manche
Maler zu einem historischen Gemälde eine Skizze vorzeichnen. Ein dunkles
Gefühl hat mich von einem zum andern geleitet, und die genetische Dichter¬
kunst hat so lange fortgewirkt, bis alles in einander griff und zu einem Ganzen
verschmolz. Warum sollte es mit dem Homerischen Erzeugnis nicht ebenso
stehen?" Die letzte Frage ist unzweifelhaft berechtigt, namentlich wenn man die
Zeit, wo Homer lebte, erwägt, eine Zeit, die von logisch strenger Disposition
eines Werkes noch nichts wußte, obwohl sie mit sicherm Gefühl häufig auch
die beste Einteilung gefunden hat. So ist es z. B. denkbar, daß der Dichter
erst nach und nach Patroklos zu dieser Bedeutung für die Handlung heraus¬
gearbeitet hat (wie Schiller im Don Carlos den Marquis Posa) oder sich erst
während des Dichtens entschlossen hat, die Telemachie in die Odyssee einzu¬
legen. Ist doch selbst Goethes Hermann und Dorothea, obwohl in ganz
kurzer Zeit entstanden, während der Arbeit dem Dichter von sechs auf neun
Gesänge gewachsen, und nicht weniger bekannt ist, wie Schiller im Wallenstein
einzelne Teile bald bedeutend erweitert, bald zusammengezogen hat. Bei Homer
haben wir keine derartigen litterarischen Angaben, aber das hindert doch nicht,
eine ähnliche Art des Schaffens bei ihm vorauszusetzen. So kann auch manches
ein späterer Zusatz sein, aber nicht von einem geistlosen Rhapsoden, sondern
von dem Dichter selbst, der dies oder jenes näher begründen wollte. Auch
hierfür liegt uns eine Erklärung eines Dichters, keines geringern als Goethes
selbst, vor. Er schreibt (am 19. April 1797): „Einige Verse im Homer, die
für völlig falsch und neu ausgegeben werden, sind von der Art, wie ich einige
selbst in mein Gedicht (Hermann und Dorothea), nachdem es fertig war, ein¬
geschoben habe, um das Ganze klarer und faßlicher zu machen und künftige
Ereignisse beizeiten vorzubereiten."

(Schluß folgt)




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[0436] Die Homerische Frage lands über die Entstehung seines Oberon: „Psychologisch kann ich mirs nun doch ganz gut denken, daß Homer progressiv und nach und nach selbst die zwei Epopöen nach vorhandnen Plane zusammengesetzt habe. So ist mein Oberon entstanden. Ich hatte die ihm zu Grunde liegende Fabel als faktische Über¬ lieferung im Kopf. Nun war es mir ein organischer Keim in meiner Seele, der nach und nach immer mehr Sprossen und Blüten aus sich hervortrieb. Ich habe nie einen eigentlichen Plan dazu entworfen, wie sich etwa manche Maler zu einem historischen Gemälde eine Skizze vorzeichnen. Ein dunkles Gefühl hat mich von einem zum andern geleitet, und die genetische Dichter¬ kunst hat so lange fortgewirkt, bis alles in einander griff und zu einem Ganzen verschmolz. Warum sollte es mit dem Homerischen Erzeugnis nicht ebenso stehen?" Die letzte Frage ist unzweifelhaft berechtigt, namentlich wenn man die Zeit, wo Homer lebte, erwägt, eine Zeit, die von logisch strenger Disposition eines Werkes noch nichts wußte, obwohl sie mit sicherm Gefühl häufig auch die beste Einteilung gefunden hat. So ist es z. B. denkbar, daß der Dichter erst nach und nach Patroklos zu dieser Bedeutung für die Handlung heraus¬ gearbeitet hat (wie Schiller im Don Carlos den Marquis Posa) oder sich erst während des Dichtens entschlossen hat, die Telemachie in die Odyssee einzu¬ legen. Ist doch selbst Goethes Hermann und Dorothea, obwohl in ganz kurzer Zeit entstanden, während der Arbeit dem Dichter von sechs auf neun Gesänge gewachsen, und nicht weniger bekannt ist, wie Schiller im Wallenstein einzelne Teile bald bedeutend erweitert, bald zusammengezogen hat. Bei Homer haben wir keine derartigen litterarischen Angaben, aber das hindert doch nicht, eine ähnliche Art des Schaffens bei ihm vorauszusetzen. So kann auch manches ein späterer Zusatz sein, aber nicht von einem geistlosen Rhapsoden, sondern von dem Dichter selbst, der dies oder jenes näher begründen wollte. Auch hierfür liegt uns eine Erklärung eines Dichters, keines geringern als Goethes selbst, vor. Er schreibt (am 19. April 1797): „Einige Verse im Homer, die für völlig falsch und neu ausgegeben werden, sind von der Art, wie ich einige selbst in mein Gedicht (Hermann und Dorothea), nachdem es fertig war, ein¬ geschoben habe, um das Ganze klarer und faßlicher zu machen und künftige Ereignisse beizeiten vorzubereiten." (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/436>, abgerufen am 01.09.2024.