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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Homerische Frage

Fehler verleitet worden. Es ist dies ein merkwürdiger ästhetischer Fall, daß
man von einer Regel abweichen muß, um keinen Fehler zu begehen.") Was
aber Goethe von der Forderung seines Verstandes sagt, der ihn bald zu einem
Fehler verleitet hätte, gilt von der reine" Verstandeskritik noch heute. Sie
achtet nicht darauf, daß bei der Ausführung ihrer Forderung auch große Schön¬
heiten der Dichtung zu Grunde gehen würden.

Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt den Anfang des zweiten Ge¬
sanges der Ilias, so werden wir finden, daß die Anstöße der Darstellung alle
ihre Erklärung in der Erreichung eines höhern Zweckes, in der Durchführung
eines künstlerischen Planes finden. Der Dichter beginnt die Ilias bekanntlich
mit dem Streite zwischen Agamemnon und Achill, infolgedessen sich Achill vom
Kampfe zürnend zurückzieht; er führt uns also mitten in die Handlung hinein.
Wäre nun dieser Streit und seine Lösung alleiniger Zweck des Dichters, so
könnte er freilich sofort zu den Kämpfen weitergehen, die die Griechen in so
große Not brachten, daß sie sich bittflehend an Achill wenden mußten, wenn
sie nicht unter Hektors Streichen erliegen wollten. Nun aber ist der Plan
des Dichters viel umfassender. Er will uns ein Bild geben von dem ge¬
waltigen Ringen zweier Volker. Dabei muß er natürlich auch den Grund
dieses Kampfes angeben und sein Ende, wenn nicht schildern, so doch ganz un¬
zweifelhaft hinstellen. Bei diesem Plane ist der Streit der beiden Helden nur
Nebenzweck; er dient nur dazu, den Haupthelden, der allen weit überlegen ist,
für einige Zeit vom Schlachtfelde zu entfernen und so Raum zu schaffen für
die Entfaltung der Kräfte der übrigen Helden und ein wechselvolles Bild der
Kämpfe zu geben. Da nun Homer nicht, wie es ein unbegabter Dichter gethan
hätte, den Krieg g.d ovo erzählen wollte (vgl. die ^rs vootioa des Horaz,
136--137), sondern uns mit bewundernswürdiger Kunst gleich mit den ersten
Versen in den Krieg hineinversetzt hat, und zwar in die letzte Zeit des Krieges,
so mußte er an irgend einer Stelle das zum Verständnis der Handlung not¬
wendige nachbringen. Dies ist der Zweck der Bücher 2 bis 7, der nur zu
lange verkannt worden ist und deshalb zu unrichtiger Ansicht über ihre Ent¬
stehung geführt hat. Unsre Romanschriftsteller, die uns noch dem Vorgänge
Homers auch mitten in die Handlung hineinversetzen, bringen den notwendigen
Anfang der Handlung entweder ohne alle Verbindung am Anfang des zweiten,
dritten oder noch spätern Kapitels einfach nach, oder sie lassen den Helden an
irgend einer passenden oder unpassenden Stelle in Nachdenken versinken und
dabei sein vergangnes Leben an seiner Seele vorüberziehen, oder wenden noch
weniger zu billigende Mittel um, um uns mit dem zum Verständnis nötigen
oder wünschenswerten bekannt zu machen. Homer, wohlgemerkt, der erste,
wenigstens nach unsrer Kenntnis der Litteratur, der eine so künstlerische, vom
Natürlichen abweichende Anordnung des Stoffs versucht hat, ist dabei so ver¬
fahren, daß er eine Verbindung zwischen dem ersten und dem zweiten Gesänge


Grenzboten I 1896 54
Die Homerische Frage

Fehler verleitet worden. Es ist dies ein merkwürdiger ästhetischer Fall, daß
man von einer Regel abweichen muß, um keinen Fehler zu begehen.") Was
aber Goethe von der Forderung seines Verstandes sagt, der ihn bald zu einem
Fehler verleitet hätte, gilt von der reine» Verstandeskritik noch heute. Sie
achtet nicht darauf, daß bei der Ausführung ihrer Forderung auch große Schön¬
heiten der Dichtung zu Grunde gehen würden.

Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt den Anfang des zweiten Ge¬
sanges der Ilias, so werden wir finden, daß die Anstöße der Darstellung alle
ihre Erklärung in der Erreichung eines höhern Zweckes, in der Durchführung
eines künstlerischen Planes finden. Der Dichter beginnt die Ilias bekanntlich
mit dem Streite zwischen Agamemnon und Achill, infolgedessen sich Achill vom
Kampfe zürnend zurückzieht; er führt uns also mitten in die Handlung hinein.
Wäre nun dieser Streit und seine Lösung alleiniger Zweck des Dichters, so
könnte er freilich sofort zu den Kämpfen weitergehen, die die Griechen in so
große Not brachten, daß sie sich bittflehend an Achill wenden mußten, wenn
sie nicht unter Hektors Streichen erliegen wollten. Nun aber ist der Plan
des Dichters viel umfassender. Er will uns ein Bild geben von dem ge¬
waltigen Ringen zweier Volker. Dabei muß er natürlich auch den Grund
dieses Kampfes angeben und sein Ende, wenn nicht schildern, so doch ganz un¬
zweifelhaft hinstellen. Bei diesem Plane ist der Streit der beiden Helden nur
Nebenzweck; er dient nur dazu, den Haupthelden, der allen weit überlegen ist,
für einige Zeit vom Schlachtfelde zu entfernen und so Raum zu schaffen für
die Entfaltung der Kräfte der übrigen Helden und ein wechselvolles Bild der
Kämpfe zu geben. Da nun Homer nicht, wie es ein unbegabter Dichter gethan
hätte, den Krieg g.d ovo erzählen wollte (vgl. die ^rs vootioa des Horaz,
136—137), sondern uns mit bewundernswürdiger Kunst gleich mit den ersten
Versen in den Krieg hineinversetzt hat, und zwar in die letzte Zeit des Krieges,
so mußte er an irgend einer Stelle das zum Verständnis der Handlung not¬
wendige nachbringen. Dies ist der Zweck der Bücher 2 bis 7, der nur zu
lange verkannt worden ist und deshalb zu unrichtiger Ansicht über ihre Ent¬
stehung geführt hat. Unsre Romanschriftsteller, die uns noch dem Vorgänge
Homers auch mitten in die Handlung hineinversetzen, bringen den notwendigen
Anfang der Handlung entweder ohne alle Verbindung am Anfang des zweiten,
dritten oder noch spätern Kapitels einfach nach, oder sie lassen den Helden an
irgend einer passenden oder unpassenden Stelle in Nachdenken versinken und
dabei sein vergangnes Leben an seiner Seele vorüberziehen, oder wenden noch
weniger zu billigende Mittel um, um uns mit dem zum Verständnis nötigen
oder wünschenswerten bekannt zu machen. Homer, wohlgemerkt, der erste,
wenigstens nach unsrer Kenntnis der Litteratur, der eine so künstlerische, vom
Natürlichen abweichende Anordnung des Stoffs versucht hat, ist dabei so ver¬
fahren, daß er eine Verbindung zwischen dem ersten und dem zweiten Gesänge


Grenzboten I 1896 54
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[0433] Die Homerische Frage Fehler verleitet worden. Es ist dies ein merkwürdiger ästhetischer Fall, daß man von einer Regel abweichen muß, um keinen Fehler zu begehen.") Was aber Goethe von der Forderung seines Verstandes sagt, der ihn bald zu einem Fehler verleitet hätte, gilt von der reine» Verstandeskritik noch heute. Sie achtet nicht darauf, daß bei der Ausführung ihrer Forderung auch große Schön¬ heiten der Dichtung zu Grunde gehen würden. Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt den Anfang des zweiten Ge¬ sanges der Ilias, so werden wir finden, daß die Anstöße der Darstellung alle ihre Erklärung in der Erreichung eines höhern Zweckes, in der Durchführung eines künstlerischen Planes finden. Der Dichter beginnt die Ilias bekanntlich mit dem Streite zwischen Agamemnon und Achill, infolgedessen sich Achill vom Kampfe zürnend zurückzieht; er führt uns also mitten in die Handlung hinein. Wäre nun dieser Streit und seine Lösung alleiniger Zweck des Dichters, so könnte er freilich sofort zu den Kämpfen weitergehen, die die Griechen in so große Not brachten, daß sie sich bittflehend an Achill wenden mußten, wenn sie nicht unter Hektors Streichen erliegen wollten. Nun aber ist der Plan des Dichters viel umfassender. Er will uns ein Bild geben von dem ge¬ waltigen Ringen zweier Volker. Dabei muß er natürlich auch den Grund dieses Kampfes angeben und sein Ende, wenn nicht schildern, so doch ganz un¬ zweifelhaft hinstellen. Bei diesem Plane ist der Streit der beiden Helden nur Nebenzweck; er dient nur dazu, den Haupthelden, der allen weit überlegen ist, für einige Zeit vom Schlachtfelde zu entfernen und so Raum zu schaffen für die Entfaltung der Kräfte der übrigen Helden und ein wechselvolles Bild der Kämpfe zu geben. Da nun Homer nicht, wie es ein unbegabter Dichter gethan hätte, den Krieg g.d ovo erzählen wollte (vgl. die ^rs vootioa des Horaz, 136—137), sondern uns mit bewundernswürdiger Kunst gleich mit den ersten Versen in den Krieg hineinversetzt hat, und zwar in die letzte Zeit des Krieges, so mußte er an irgend einer Stelle das zum Verständnis der Handlung not¬ wendige nachbringen. Dies ist der Zweck der Bücher 2 bis 7, der nur zu lange verkannt worden ist und deshalb zu unrichtiger Ansicht über ihre Ent¬ stehung geführt hat. Unsre Romanschriftsteller, die uns noch dem Vorgänge Homers auch mitten in die Handlung hineinversetzen, bringen den notwendigen Anfang der Handlung entweder ohne alle Verbindung am Anfang des zweiten, dritten oder noch spätern Kapitels einfach nach, oder sie lassen den Helden an irgend einer passenden oder unpassenden Stelle in Nachdenken versinken und dabei sein vergangnes Leben an seiner Seele vorüberziehen, oder wenden noch weniger zu billigende Mittel um, um uns mit dem zum Verständnis nötigen oder wünschenswerten bekannt zu machen. Homer, wohlgemerkt, der erste, wenigstens nach unsrer Kenntnis der Litteratur, der eine so künstlerische, vom Natürlichen abweichende Anordnung des Stoffs versucht hat, ist dabei so ver¬ fahren, daß er eine Verbindung zwischen dem ersten und dem zweiten Gesänge Grenzboten I 1896 54

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/433>, abgerufen am 01.09.2024.