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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Lmser Legende

Legende. Wir dürfen das Lied ruhig weiter singen und an dem Denkstein
stehend uns dem ernsten Nachdenken über einen entscheidenden Tag der Welt¬
geschichte hingeben. Nur der kleinere Teil der Menschheit ist imstande, abstrakt
zu denken. Das Volk will Anschauung, womöglich die stärkste der Anschauungen,
die Personifikation, das Ereignis. Was ist ihm ein Begriff, wie ..Vorrang
einer Nation vor der andern? General Jarras hat so treffend wie naiv aus¬
gesprochen, was die Franzosen empfanden: 1866 war für uns Franzosen eine
Niederlage. ..denn wir konnten uns in unsrer Stellung als die große Nation
nicht verkleinern lassen." Diese Stellung Frankreichs kennzeichnet Sybel am
Schluß seines siebenten Bandes der "Begründung" vortrefflich mit folgenden
Worten: "Während 1866 Österreich und Preußen wesentlich denselben Kampf-
Preis zu gewinnen strebten, die leitende Stellung im deutschen Bunde, hatten
1870 Frankreich und Deutschland völlig verschiedne Ziele: Frankreich die Be¬
wahrung der bisher geübten europäische" Hegemonie, kraft deren es in Spanien
die freie Königswahl verbot. Italien den Eintritt in feine nationale Haupt¬
stadt verwehrte, dem deutschen Volke die Vollendung seiner Bundesreform be¬
stritt. Holland wegen Luxemburg, Belgien wegen des Eisenbahnkauss bedrohte
und selbst der Schweiz ungnädige Mienen wegen des Gotthardtunnels zeigte.
Dagegen lebte in Deutschland kein Gedanke an herrschenden Einfluß aus andre
Nationen: das Volk hatte in patriotischem Zorne zum Schwerte gegriffen, um
die seit Jahrhunderten erduldete fremde Einmischung in deutsche Angelegen¬
heiten von Grund aus zunichte zu machen und die Unabhängigkeit und Ein¬
heit des Vaterlandes, hoffentlich für alle Zeiten, zu sichern. Frankreich ging
sür eine alte Ehrenftellung, Deutschland für sein junges Dasein in den Kampf."

Gewiß ist nur wenigen unsrer Leser Liebknechts Broschüre: "Die Emser
Depesche, oder wie Kriege gemacht werden" unter die Augen gekommen. Ich
habe sie gelesen, weil ich gern wissen wollte, was ein so großer Prozentsatz
unsers Volkes sür eine Ansicht über diese Vorgänge hat; denn was ein Führer
schreibt, wird ja von Hunderttausenden von Genossen als Evangelium betrachtet.
Zudem hat ja Bismarck selber auf die Schrift angespielt. Ich war erstaunt,
wie unglaublich sich ein studirter Mann, was Liebknecht doch ist. verrennen kann.
Alles mögliche ist durch einander gemengt. Unbefangenheit hatte ich ja nicht
erwartet, aber da ich den überwiegenden Eindruck habe, daß Liebknecht glaubt,
was er sagt, so war die Empfindung für mich niederdrückend, daß ein Mann,
der doch sonst nicht auf den Kopf gefallen ist, gar nicht merkt, daß er eine
grell rot gefärbte Brille auf der Nase trägt, und Scheuklappen ans beiden Seiten
seines Gesichts das Eindringen klaren Sonnenlichts völlig verhindern. Denn
thatsächlich ist seine Schrift von Anfang bis zu Ende eine "falsche Legende,"
mithin eine große Lüge. Die Lüge besteht in der Gruppirung und schiefen
Beurteilung, nicht in der Verschweigung von Thatsachen. Die Urkunden und
Parlamentsverhandlungen sind alle wörtlich abgedruckt, und insofern sind die
dreißig Pfennige des Käufers nicht gänzlich hinausgeworfen. "Die Historie


Die Lmser Legende

Legende. Wir dürfen das Lied ruhig weiter singen und an dem Denkstein
stehend uns dem ernsten Nachdenken über einen entscheidenden Tag der Welt¬
geschichte hingeben. Nur der kleinere Teil der Menschheit ist imstande, abstrakt
zu denken. Das Volk will Anschauung, womöglich die stärkste der Anschauungen,
die Personifikation, das Ereignis. Was ist ihm ein Begriff, wie ..Vorrang
einer Nation vor der andern? General Jarras hat so treffend wie naiv aus¬
gesprochen, was die Franzosen empfanden: 1866 war für uns Franzosen eine
Niederlage. ..denn wir konnten uns in unsrer Stellung als die große Nation
nicht verkleinern lassen." Diese Stellung Frankreichs kennzeichnet Sybel am
Schluß seines siebenten Bandes der „Begründung" vortrefflich mit folgenden
Worten: „Während 1866 Österreich und Preußen wesentlich denselben Kampf-
Preis zu gewinnen strebten, die leitende Stellung im deutschen Bunde, hatten
1870 Frankreich und Deutschland völlig verschiedne Ziele: Frankreich die Be¬
wahrung der bisher geübten europäische« Hegemonie, kraft deren es in Spanien
die freie Königswahl verbot. Italien den Eintritt in feine nationale Haupt¬
stadt verwehrte, dem deutschen Volke die Vollendung seiner Bundesreform be¬
stritt. Holland wegen Luxemburg, Belgien wegen des Eisenbahnkauss bedrohte
und selbst der Schweiz ungnädige Mienen wegen des Gotthardtunnels zeigte.
Dagegen lebte in Deutschland kein Gedanke an herrschenden Einfluß aus andre
Nationen: das Volk hatte in patriotischem Zorne zum Schwerte gegriffen, um
die seit Jahrhunderten erduldete fremde Einmischung in deutsche Angelegen¬
heiten von Grund aus zunichte zu machen und die Unabhängigkeit und Ein¬
heit des Vaterlandes, hoffentlich für alle Zeiten, zu sichern. Frankreich ging
sür eine alte Ehrenftellung, Deutschland für sein junges Dasein in den Kampf."

Gewiß ist nur wenigen unsrer Leser Liebknechts Broschüre: „Die Emser
Depesche, oder wie Kriege gemacht werden" unter die Augen gekommen. Ich
habe sie gelesen, weil ich gern wissen wollte, was ein so großer Prozentsatz
unsers Volkes sür eine Ansicht über diese Vorgänge hat; denn was ein Führer
schreibt, wird ja von Hunderttausenden von Genossen als Evangelium betrachtet.
Zudem hat ja Bismarck selber auf die Schrift angespielt. Ich war erstaunt,
wie unglaublich sich ein studirter Mann, was Liebknecht doch ist. verrennen kann.
Alles mögliche ist durch einander gemengt. Unbefangenheit hatte ich ja nicht
erwartet, aber da ich den überwiegenden Eindruck habe, daß Liebknecht glaubt,
was er sagt, so war die Empfindung für mich niederdrückend, daß ein Mann,
der doch sonst nicht auf den Kopf gefallen ist, gar nicht merkt, daß er eine
grell rot gefärbte Brille auf der Nase trägt, und Scheuklappen ans beiden Seiten
seines Gesichts das Eindringen klaren Sonnenlichts völlig verhindern. Denn
thatsächlich ist seine Schrift von Anfang bis zu Ende eine „falsche Legende,"
mithin eine große Lüge. Die Lüge besteht in der Gruppirung und schiefen
Beurteilung, nicht in der Verschweigung von Thatsachen. Die Urkunden und
Parlamentsverhandlungen sind alle wörtlich abgedruckt, und insofern sind die
dreißig Pfennige des Käufers nicht gänzlich hinausgeworfen. „Die Historie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/39>, abgerufen am 01.09.2024.