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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Homerische Frage

aufleben der griechischen Litteratur seit dem vierzehnten Jahrhundert, außer
bei den Franzosen, die in gewisser Beziehung den Römern der Kaiserzeit ähn¬
lich waren, um so größere Bewunderung. Diese erreichte bei uns in Deutsch¬
land seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Man empfand
den eigentümlichen Reiz der homerischen Dichtungen namentlich im Vergleich
zu Virgil und deu höfischen Epen des Mittelalters, und es bildete sich der
Gegensatz zwischen "Volksepos" und "Kunstepos," Worte, in die man die
Eigentümlichkeit der auf Volksttberlieferung beruhenden epischen Dichtung und
der künstlich erfundnen Erzählung zu fassen suchte.

Aber dieser Gegensatz ist verfehlt. Denn auch die homerischen Dichtungen
sind Kunstepen im höchsten Sinne des Wortes: sie sind geradezu "klassisch"
und deshalb auch seit den ältesten Zeiten Gegenstand der Erklärung in der
Schule. Und gerade das ist das Wunderbarste an ihnen, daß sie trotzdem
nichts von ihrem eigentlichen Zauber verloren haben. Ich wüßte, etwa von
Horaz abgesehen, keinen Schulschriftsteller, der auch im spätern Alter noch so
erfreut, wie er einst die Jugend begeistert hat. Diese einzige Thatsache schon
läßt es begreifen, daß man Homer für das größte Dichtergenie gehalten hat,
was die Welt bisher hervorgebracht hat, aber auch, wie groß die Verwunderung
und Aufregung nicht nur unter den Gelehrten, sondern unter allen Gebildeten
war, als vor mehr als hundert Jahren der Philologe Friedrich August Wolf
mit der Behauptung auftrat, die Ilias -- denn nur diese zog er in seinen
Zweifel hinein -- sei nicht die Schöpfung eines einzigen Dichters, sondern
eines Sammlers, der verschiedne von einander unabhängige Stücke ziemlich
mechanisch vereinigt habe. Die Gründe für diese Behauptung waren äußer¬
licher Art und sind von ihm nicht erschöpfend behandelt worden. Er hielt es
zunächst für sicher, daß in den Zeiten, wo Homer gelebt haben müsse, die
Schrift noch nicht erfunden, jedenfalls noch nicht so gebräuchlich gewesen sei,
daß man Gedichte dieses Umfanges aufgeschrieben habe; ebenso unmöglich
schien es ihm zu sein, daß sie allein durch das Gedächtnis fortgepflanzt worden
wären. Dazu fand er in der Ilias einige Widersprüche, die mit der Auf¬
fassung von einer einheitlichen Dichtung unvereinbar seien.

Wir können jetzt unbedenklich behaupten, daß Wolfs Gründe widerlegt
sind; damals aber machte seine Schrift, die als eine Einleitung zu den home¬
rischen Gedichten erschien, ungeheures Aufsehen. Alle Gebildeten, namentlich
die Dichter nahmen entweder für ihn oder gegen ihn Partei. Von Goethe ist
bekannt, daß er in seinem Urteil schwankte, zuerst begeistert auf Wolfs Ge¬
danken einging (z. B. in der Elegie "Hermann und Dorothea," wo er den
Mann feiert, "der endlich vom Namen Homeros kühn uns befreiend, uns auch
ruft in die vollere Bahn"), dann aber "wieder mehr als je von der Einheit
der Gedichte überzeugt" war. Schiller dagegen war, ebenso wie Wieland, stets
ein entschiedner Gegner Wolfs, fand den Gedanken, diese Gedichte zerreißen


Die Homerische Frage

aufleben der griechischen Litteratur seit dem vierzehnten Jahrhundert, außer
bei den Franzosen, die in gewisser Beziehung den Römern der Kaiserzeit ähn¬
lich waren, um so größere Bewunderung. Diese erreichte bei uns in Deutsch¬
land seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Man empfand
den eigentümlichen Reiz der homerischen Dichtungen namentlich im Vergleich
zu Virgil und deu höfischen Epen des Mittelalters, und es bildete sich der
Gegensatz zwischen „Volksepos" und „Kunstepos," Worte, in die man die
Eigentümlichkeit der auf Volksttberlieferung beruhenden epischen Dichtung und
der künstlich erfundnen Erzählung zu fassen suchte.

Aber dieser Gegensatz ist verfehlt. Denn auch die homerischen Dichtungen
sind Kunstepen im höchsten Sinne des Wortes: sie sind geradezu „klassisch"
und deshalb auch seit den ältesten Zeiten Gegenstand der Erklärung in der
Schule. Und gerade das ist das Wunderbarste an ihnen, daß sie trotzdem
nichts von ihrem eigentlichen Zauber verloren haben. Ich wüßte, etwa von
Horaz abgesehen, keinen Schulschriftsteller, der auch im spätern Alter noch so
erfreut, wie er einst die Jugend begeistert hat. Diese einzige Thatsache schon
läßt es begreifen, daß man Homer für das größte Dichtergenie gehalten hat,
was die Welt bisher hervorgebracht hat, aber auch, wie groß die Verwunderung
und Aufregung nicht nur unter den Gelehrten, sondern unter allen Gebildeten
war, als vor mehr als hundert Jahren der Philologe Friedrich August Wolf
mit der Behauptung auftrat, die Ilias — denn nur diese zog er in seinen
Zweifel hinein — sei nicht die Schöpfung eines einzigen Dichters, sondern
eines Sammlers, der verschiedne von einander unabhängige Stücke ziemlich
mechanisch vereinigt habe. Die Gründe für diese Behauptung waren äußer¬
licher Art und sind von ihm nicht erschöpfend behandelt worden. Er hielt es
zunächst für sicher, daß in den Zeiten, wo Homer gelebt haben müsse, die
Schrift noch nicht erfunden, jedenfalls noch nicht so gebräuchlich gewesen sei,
daß man Gedichte dieses Umfanges aufgeschrieben habe; ebenso unmöglich
schien es ihm zu sein, daß sie allein durch das Gedächtnis fortgepflanzt worden
wären. Dazu fand er in der Ilias einige Widersprüche, die mit der Auf¬
fassung von einer einheitlichen Dichtung unvereinbar seien.

Wir können jetzt unbedenklich behaupten, daß Wolfs Gründe widerlegt
sind; damals aber machte seine Schrift, die als eine Einleitung zu den home¬
rischen Gedichten erschien, ungeheures Aufsehen. Alle Gebildeten, namentlich
die Dichter nahmen entweder für ihn oder gegen ihn Partei. Von Goethe ist
bekannt, daß er in seinem Urteil schwankte, zuerst begeistert auf Wolfs Ge¬
danken einging (z. B. in der Elegie „Hermann und Dorothea," wo er den
Mann feiert, „der endlich vom Namen Homeros kühn uns befreiend, uns auch
ruft in die vollere Bahn"), dann aber „wieder mehr als je von der Einheit
der Gedichte überzeugt" war. Schiller dagegen war, ebenso wie Wieland, stets
ein entschiedner Gegner Wolfs, fand den Gedanken, diese Gedichte zerreißen


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[0388] Die Homerische Frage aufleben der griechischen Litteratur seit dem vierzehnten Jahrhundert, außer bei den Franzosen, die in gewisser Beziehung den Römern der Kaiserzeit ähn¬ lich waren, um so größere Bewunderung. Diese erreichte bei uns in Deutsch¬ land seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Man empfand den eigentümlichen Reiz der homerischen Dichtungen namentlich im Vergleich zu Virgil und deu höfischen Epen des Mittelalters, und es bildete sich der Gegensatz zwischen „Volksepos" und „Kunstepos," Worte, in die man die Eigentümlichkeit der auf Volksttberlieferung beruhenden epischen Dichtung und der künstlich erfundnen Erzählung zu fassen suchte. Aber dieser Gegensatz ist verfehlt. Denn auch die homerischen Dichtungen sind Kunstepen im höchsten Sinne des Wortes: sie sind geradezu „klassisch" und deshalb auch seit den ältesten Zeiten Gegenstand der Erklärung in der Schule. Und gerade das ist das Wunderbarste an ihnen, daß sie trotzdem nichts von ihrem eigentlichen Zauber verloren haben. Ich wüßte, etwa von Horaz abgesehen, keinen Schulschriftsteller, der auch im spätern Alter noch so erfreut, wie er einst die Jugend begeistert hat. Diese einzige Thatsache schon läßt es begreifen, daß man Homer für das größte Dichtergenie gehalten hat, was die Welt bisher hervorgebracht hat, aber auch, wie groß die Verwunderung und Aufregung nicht nur unter den Gelehrten, sondern unter allen Gebildeten war, als vor mehr als hundert Jahren der Philologe Friedrich August Wolf mit der Behauptung auftrat, die Ilias — denn nur diese zog er in seinen Zweifel hinein — sei nicht die Schöpfung eines einzigen Dichters, sondern eines Sammlers, der verschiedne von einander unabhängige Stücke ziemlich mechanisch vereinigt habe. Die Gründe für diese Behauptung waren äußer¬ licher Art und sind von ihm nicht erschöpfend behandelt worden. Er hielt es zunächst für sicher, daß in den Zeiten, wo Homer gelebt haben müsse, die Schrift noch nicht erfunden, jedenfalls noch nicht so gebräuchlich gewesen sei, daß man Gedichte dieses Umfanges aufgeschrieben habe; ebenso unmöglich schien es ihm zu sein, daß sie allein durch das Gedächtnis fortgepflanzt worden wären. Dazu fand er in der Ilias einige Widersprüche, die mit der Auf¬ fassung von einer einheitlichen Dichtung unvereinbar seien. Wir können jetzt unbedenklich behaupten, daß Wolfs Gründe widerlegt sind; damals aber machte seine Schrift, die als eine Einleitung zu den home¬ rischen Gedichten erschien, ungeheures Aufsehen. Alle Gebildeten, namentlich die Dichter nahmen entweder für ihn oder gegen ihn Partei. Von Goethe ist bekannt, daß er in seinem Urteil schwankte, zuerst begeistert auf Wolfs Ge¬ danken einging (z. B. in der Elegie „Hermann und Dorothea," wo er den Mann feiert, „der endlich vom Namen Homeros kühn uns befreiend, uns auch ruft in die vollere Bahn"), dann aber „wieder mehr als je von der Einheit der Gedichte überzeugt" war. Schiller dagegen war, ebenso wie Wieland, stets ein entschiedner Gegner Wolfs, fand den Gedanken, diese Gedichte zerreißen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/388>, abgerufen am 01.09.2024.